Entscheidungsdatum
07.09.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W139 2135429-1/22E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.09.2016, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 08.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In seiner Erstbefragung am 08.05.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, sein Bruder habe für die Amerikaner gearbeitet und der Beschwerdeführer habe ihm ab und zu bei der Arbeit geholfen. Nachdem sein Bruder von den Taliban ermordet worden sei, seien auch der Beschwerdeführer und seine Familie bedroht worden, woraufhin er Afghanistan verlassen habe. Bei einer Rückkehr befürchte er von den Taliban ermordet zu werden.
3. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 25.04.2016 wiederholte der Beschwerdeführer die im Rahmen der Erstbefragung getätigten Angaben und führte ergänzend im Wesentlichen aus, er habe in Afghanistan in XXXX gemeinsam mit seiner Familie im Elternhaus gewohnt und für eine ausländische XXXX namens „ XXXX “ im XXXX als XXXX gearbeitet.
Der Bruder des Beschwerdeführers habe für die gleiche Firma, als Security gearbeitet. Der Beschwerdeführer und sein Bruder seien aufgrund ihrer Tätigkeit für die ausländische Firma von den Taliban mehrmals am Diensthandy des Bruders angerufen und bedroht worden. Sie hätten ihnen unterstellten, zu spionieren und die Amerikaner über die XXXX zu informieren. Eines nachts seien die Taliban in das Haus der Familie des Beschwerdeführers eingedrungen, hätten seinen Bruder mitgenommen und draußen auf den Feldern erschossen. Der Beschwerdeführer habe danach weiterhin seine Arbeit für die ausländische Firma verrichtet, sei jedoch durch zwei Drohbriefe bedroht worden. Daraufhin habe er seine Arbeit beendet, sich ein paar Tage bei XXXX versteckt und sei schließlich von dort aus geflohen.
Er legte seine Taskira, zwei Drohbriefe der Taliban vom XXXX in denen er der Zusammenarbeit mit den Amerikanern sowie der Spionage beschuldigt sowie bedroht wird, vier Fotos seines Bruders, einen Dienstausweis der „ XXXX “ für die er tätig war XXXX einen Arbeitsvertrag mit der „ XXXX , eine Deutschkursbestätigung, sowie ein Unterstützungsschreiben des XXXX vor.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 05.09.2016, der dem Beschwerdeführer am 12.09.2016 zugestellt wurde, wies die belangte Behörde sowohl den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch jenen auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten führte die belangte Behörde aus, dass nicht festgestellt werden könne, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer begründeten Furcht vor asylrelevanter Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt war bzw. er einer solchen dort gegenwärtig ausgesetzt wäre, da die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer im Verfahren gemachten Angaben betreffend seiner Fluchtgründe als nicht glaubhaft erachtete.
5. Am 20.09.2016 brachte der Beschwerdeführer – fristgerecht – Beschwerde gegen den genannten Bescheid ein. Er beantragte die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, in eventu des subsidiär Schutzberechtigten, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in eventu die Feststellung, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, in eventu die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen, in eventu die Behebung des angefochtenen Bescheides und Zurückverweisung an die Erstbehörde.
6. Mit Schreiben vom 14.09.2017 legte der Beschwerdeführer ein Unterstützungsschreiben sowie eine Deutschkursbestätigung vor.
7. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung brachte das erkennende Gericht mit Schreiben vom 05.10.2018 eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018 mit aktueller Kurzinformation vom 11.09.2018.
8. Mit am 18.10.2018 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer eine Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungskurs, eine Deutschkursbestätigung, eine Erste Hilfe Grundkurs Bestätigung, sowie das Zertifikat über die gut bestandene ÖSD A1 Deutsch Prüfung, vor.
9. Am 06.11.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, bei welcher der Beschwerdeführer unter Beisein seines Rechtsvertreters einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurde ein Konvolut an Unterlagen vom Beschwerdeführer vorgelegt (Beilage A zum Verhandlungsprotokoll): zwei Unterstützungsschreiben, eine Einstellungszusage, eine Deutschkursbestätigung, eine Bestätigung über die Mitgliedschaft des Beschwerdeführers in einem Volleyball Verein, eine Bestätigung über die ehrenamtliche Mitarbeit des Beschwerdeführers.
Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seiner Identität, Religion, Volksgruppenzugehörigkeit und Herkunft, seinen persönlichen Lebensumständen, seinen Fluchtgründen, seiner Situation im Fall einer Rückkehr und seinem Leben in Afghanistan sowie in Österreich befragt.
10. Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 01.06.2017 und eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 25.10.2016 zu den Konsequenzen von Desertion in Afghanistan, weiters wurde auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie auf die Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern Dezember 2016, sowie auf das Dossier der Staatendokumentation, Grundlagen der Stammes- und Clanstruktur, verwiesen.
11. Mit am 21.11.2018 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer jene Unterlagen die er bereits im Verfahren vor der Belangten Behörde vorgelegt hat, in Kopie vor: seine Tazkira, zwei Drohbriefe der Taliban vom XXXX gegen den Beschwerdeführer in denen er der Zusammenarbeit mit den Amerikanern sowie der Spionage beschuldigt sowie bedroht wird, vier Fotos seines Bruders, einen Dienstausweis der XXXX für die er tätig war (zum Eintritt und innerhalb der Base, sowie zum XXXX einen Arbeitsvertrag mit der XXXX , eine Deutschkursbestätigung, sowie ein Unterstützungsschreiben XXXX .
12. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung brachte das erkennende Gericht mit Schreiben vom 17.06.2020 eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: ein Hinweisblatt zu Covid-19 sowie das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 18.05.2020.
13. Am 02.07.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht erneut eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, bei welcher der Beschwerdeführer unter Beisein seines Rechtsvertreters einvernommen wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der Verhandlung fern. In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurde ein Konvolut an Unterlagen vom Beschwerdeführer vorgelegt (Beilage A zum Verhandlungsprotokoll): diverse Fotos über seine Integrationsbemühungen, diverse Kursteilnahmebestätigungen, sowie vier Unterstützungsschreiben von Freunden und Bekannten.
Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen persönlichen Lebensumständen in Österreich, seinen Fluchtgründen, seiner Situation im Fall einer Rückkehr und den Lebensumständen seiner Familie in Afghanistan sowie zu dem Kontakt mit seiner Familie, befragt.
14. Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: eine Kurzinformation der Staatendokumentation COVID-19 Afghanistan Stand 29.06.2020, eine ACCORD-Recherche zu Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020, einen Landinfo-Bericht Afghanistan: „Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017, eine ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban (Zwang bzw. Ausübung von Druck; Rekrutierung in Schulen; Drohbriefe und Social Media; Konsequenzen einer Weigerung), vom 13.08.2018 sowie eine Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe zu Afghanistan: Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppen auf Mitarbeitende der Regierung, ausländischer Firmen und internationaler Streitkräfte; Drohbriefe; Rekrutierung; psychische Erkrankungen, vom 14.11.2016, auf das Dossier der Staatendokumentation „Grundlagen der Stammes- und Clanstruktur wurde ebenfalls verwiesen.
15. Mit am 01.09.2017 eingelangtem Schreiben legte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den ins Verfahren eingebrachten Länderinformationen, sowie eine Einstellungszusage vor.
16. Mit Schreiben vom 27.08.2020 brachte das erkennende Gericht eine Erkenntnisquelle zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 13.11.2019 mit aktueller Kurzinformation vom 21.07.2020.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen:
Aufgrund des Asylantrags vom 08.05.2015, der Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 08.05.2015, durch die Einvernahme der belangte Behörde am 25.04.2016, der Beschwerde vom 20.09.2016 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 05.09.2016, der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt der belangten Behörde, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Stellungnahmen sowie auf Grundlage der zwei vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlungen, werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu, in der er lesen und schreiben kann. Er versteht neben Paschtu auch Dari und Deutsch. Er ist nicht verheiratet, und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde am XXXX geboren, er reiste im Alter von XXXX Jahren in das Bundesgebiet ein.
Er ist in XXXX im Distrikt Qarghayi, im Dorf Qalatek geboren und aufgewachsen, wo er mit seiner Familie, seiner Mutter, vier Brüdern und einer Schwester, gelebt hat. Der Vater des Beschwerdeführers verstarb im Jahr XXXX an einer Erkrankung. Der Beschwerdeführer hat in seinem Heimatdorf noch weitere Verwandte. Die Familie des Beschwerdeführers lebt nach wie vor im Heimatdorf in Afghanistan.
Der Beschwerdeführer besuchte seit dem Alter von ca. sieben Jahren für zwölf Jahre lang die Schule.
Nach der Schule arbeitete er vorerst in der familieneigenen Landwirtschaft, von deren Erträgen seine Familie den Lebensunterhalt bestreitet.
Der Beschwerdeführer hat seit seiner Ausreise aus Afghanistan regelmäßigen Kontakt zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan.
Der Beschwerdeführer ist gesund.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich gut integriert, er hat viele Freunde und Bekannte in Österreich, spielt in einem Volleyballverein, arbeitet regelmäßig ehrenamtlich und absolvierte diverse Kurse. Er hat berufliche Zukunftspläne sowie eine Einstellungszusage und beginnt ab September 2020 in einer Mittelschule, um den Pflichtschulabschluss zu machen. Er versteht und spricht gut Deutsch.
1.1.1. Zur Tätigkeit des Beschwerdeführers und den Bedrohungen durch die Taliban
Der Beschwerdeführer begann im Jahr XXXX für die „ XXXX “, einem mit ausländischen Unternehmen in Geschäftsbeziehung stehenden XXXX , an dessen Standort in XXXX einer US-amerikanischen Militärbasis, in XXXX , zu arbeiten. Der Beschwerdeführer arbeitete dort als XXXX . Er kehrte nur ab und zu nach Hause zurück.
Sein älterer Bruder arbeitete im gleichen Unternehmen als XXXX . Dieser Bruder wurde telefonisch von den Taliban aus seinem Herkunftsdorf bedroht, aufgefordert, seine Arbeit für die Amerikaner niederzulegen und der Spionage für die Amerikaner und der Informationsweitergabe hinsichtlich der Präsenz der Taliban in dessen Herkunftsregion beschuldigt. Der ältere Bruder des Beschwerdeführers wurde in der Folge von den Taliban ermordet.
Der Beschwerdeführer ging seiner Arbeit zunächst weiterhin nach.
Am XXXX erhielt der Beschwerdeführer einen Drohbrief der Taliban. Darin wurde ihm vorgeworfen, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten und Informationen über die Taliban im betreffenden Bezirk an die Amerikaner weiterzugeben. Weiters wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, seinen Job niederzulegen, widrigenfalls würde er mit dem Tod bestraft werden.
Der Beschwerdeführer legte seine Arbeit auch nach Erhalt des ersten Drohbriefes zunächst nicht nieder.
Schließlich erhielt der Beschwerdeführer am XXXX einen weiteren Drohbrief, in dem er erneut aufgefordert wurde, seine Arbeit zu beenden, widrigenfalls würde er mit dem Tod bestraft werden. Er wurde erneut der Spionage für die Amerikaner verdächtigt.
Als der Beschwerdeführer von dem zweiten Drohbrief Kenntnis erlangte, beendete er die Tätigkeit auf der Militärbasis und versteckte sich zunächst ein paar Tage bei XXXX und an weiteren ihm unbekannten, vom Schlepper organsierten Orten, bevor er im XXXX aus Afghanistan ausreiste. Der Beschwerdeführer stellte XXXX in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Jahr 2018 erkundigten sich in der Moschee des Heimatdorfes unbekannte Männer, vermutlich Taliban, nach dem Beschwerdeführer. Im Dezember 2019 suchten Taliban-Mitglieder das Elternhaus des Beschwerdeführers auf und äußerten den Vorwurf, zwei vom Beschwerdeführer namentlich bezeichnete Taliban-Mitglieder wären im Gefängnis gewesen, weil der Beschwerdeführer und sein Bruder diese an die Amerikaner verraten hätten. Sie drohten mit der Ermordung des Beschwerdeführers. Im März 2020 entführten Taliban-Mitglieder den Cousin des Beschwerdeführers, den sie für den Beschwerdeführer hielten. Dieser wurde nach Aufklärung der wahren Identität von den Taliban wieder freigelassen.
Die Taliban kennen den Namen des Beschwerdeführers. Sie erzählten im Herkunftsort des Beschwerdeführers, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder für die Amerikaner als Spione tätig gewesen seien.
Es widerspricht der politischen Gesinnung des Beschwerdeführers, sich den Taliban anzuschließen oder mit ihnen zu kooperieren.
1.1.2. Bedrohung bei einer Rückkehr
Der Beschwerdeführer befürchtet im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan, aufgrund der Drohungen der Taliban gegen ihn und der Präsenz der Taliban in ganz Afghanistan, verfolgt zu werden.
Es muss davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Tätigkeit für ein Unternehmen mit Auslandskontakt, aber vor allem aufgrund der unterstellten Spionagetätigkeit des Beschwerdeführers für die Amerikaner, eine politische bzw. religiöse Gesinnung gegen die Ideologie und Zielsetzungen der Taliban zugeschrieben wird, zumal er den Aufforderungen der Taliban, seine Tätigkeit niederzulegen, nicht nachgekommen ist. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan läuft der Beschwerdeführer Gefahr, Gewalthandlungen, erheblichen Eingriffen in seine Unversehrtheit und/oder gravierenden Bedrohungen durch die Taliban ausgesetzt zu sein. Der afghanische Staat ist derzeit nicht in der Lage, den Beschwerdeführer in seinem Heimatland hinreichend vor diesen Bedrohungen durch die Taliban zu schützen.
Die Bedrohung des Beschwerdeführers ist aktuell. Gegenüber der Familie des Beschwerdeführers wurden seit seiner Flucht mehrfach Drohungen betreffend den Beschwerdeführer ausgesprochen. Die Taliban kennen den Namen des Beschwerdeführers.
Dem Beschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.
Gründe, nach denen ein Ausschluss des Beschwerdeführers hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, liegen im Verfahren nicht vor.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
? Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 13.11.2019 mit aktueller Kurzinformation vom 21.07.2020.
? UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018
? ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Rekrutierungsmaßnahmen der Taliban (Zwang bzw. Ausübung von Druck; Rekrutierung in Schulen; Drohbriefe und Social Media; Konsequenzen einer Weigerung), vom 13.08.2018
? Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe zu Afghanistan: Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppen auf Mitarbeitende der Regierung, ausländischer Firmen und internationaler Streitkräfte; Drohbriefe; Rekrutierung; psychische Erkrankungen, vom 14.11.2016
? Landinfo-Bericht Afghanistan, "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“, vom 23.08.2017
a. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019 mit aktueller Kurzinformation vom 21.07.2020:
1. Sicherheitslage
„Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*
5.676*
8.239*
Insgesamt
32114
59561
91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019; vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging.