RS Vfgh 2020/10/1 G271/2020, V463/2020 ua (V463-467/2020-16)

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Veröffentlicht am 01.10.2020
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z3
B-VG Ar140 Abs1 Z1 litc
COVID-19-MaßnahmenG §2
COVID-19-LockerungsV BGBl II 197/2020 §1 Abs2
VfGG §7 Abs1, §18, §57 Abs1

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit einer Bestimmung der COVID-19-Lockerungsverordnung betreffend die Verpflichtung zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes beim Betreten von öffentlichen Orten in geschlossenen Räumen sowie die Einhaltung eines 1m-Abstandes von nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Personen mangels ausreichender Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen

Rechtssatz

Gesetzwidrigkeit der Wortfolge "und eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen" in §1 Abs2 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung - COVID-19-LV), BGBl II 197/2020. Da §1 Abs2 COVID-19-Lockerungsverordnung durch Z2 der 5. COVID-19-LV-Novelle, BGBl II 266/2020, mit Wirkung vom 15.06.2020 aufgehoben wurde, ist festzustellen, dass die Wortfolge "und eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen" in §1 Abs2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung BGBl II 197/2020 gesetzwidrig war.

Zurückweisung des gegen die Verordnungen BGBl II 96/2020 und BGBl II 98/2020 gerichteten Individualantrags mangels Darlegung der Betroffenheit (Absicht, einen Gastgewerbebetrieb zu betreten oder ein Massenbeförderungsmittel zu benutzen). Zurückweisung des gegen Novellierungsanordnungen der BGBl II 207/2020 und BGBl II 231/2020 gerichteten Antrags, weil die Bestimmungen sich sich nicht bloß in der Aufhebung bestehender Bestimmungen erschöpfen. §2 Abs1 Z2, §2 Abs3, §6, §8, §9 und §10 der COVID-19-Lockerungsverordnung in der angefochtenen Stammfassung BGBl II 197/2020 gehörten infolge von Novellierungen im Zeitpunkt der Antragstellung (10.06.2020) nicht mehr dem geltenden Rechtsbestand an, sodass deren Anfechtung schon aus diesem Grund unzulässig ist. Keine Darlegung der unmittelbaren Betroffenheit hinsichtlich der Verpflichtung nach §1 Abs3 COVID-19-LockerungsV eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung in "Massenbeförderungsmitteln" zu tragen mangels konkreten Vorbringens diese zu benutzen oder benutzen zu beabsichtigen. Unzulässigkeit des auf Aufhebung des COVID-19-MaßnahmenG idF BGBl I 12/2020 gerichteten Antrags, weil das COVID-19-Maßnahmengesetz im Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr in der Stammfassung, sondern in der Fassung der Novellen BGBl I 16/2020 und BGBl I 23/2020 in Geltung stand.

Mit dem Vorbringen "der behördlich auferlegten Pflicht in öffentlich zugänglichen Gebäuden (zB beim Einkaufen, bei Gericht, Behörden etc) Nasen-Mund-Schutz-Masken tragen zu müssen", werde die "persönliche Freiheit des Beschwerdeführers, sich kleiden zu wollen und selbst bestimmen zu können, was er tragen und nicht tragen möchte, immens eingeschränkt", hat der Antragsteller, der insbesondere auch dargelegt hat, Rechtsanwalt zu sein und ua - wenn auch in erheblich vermindertem Maß - Gerichtsgebäude betreten zu müssen, noch hinreichend konkret dargetan, durch die Verpflichtung zum Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung beim Betreten öffentlicher Orte in geschlossenen Räumen nach §1 Abs2 COVID-19-Lockerungsverordnung in seiner Rechtssphäre betroffen zu sein.

Verstoß des §1 Abs2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung BGBl II 197/2020 gegen §2 COVID-19-MaßnahmenG:

Nach Art18 Abs2 B-VG kann der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber Abwägungs- und Prognosespielräume einräumen und, solange die wesentlichen Zielsetzungen, die das Verwaltungshandeln leiten sollen, der Verordnungsermächtigung in ihrem Gesamtzusammenhang mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sind, die situationsbezogene Konkretisierung des Gesetzes dem Verordnungsgeber überlassen. Es kommt auf die zu regelnde Sache und den Regelungszusammenhang an, welche Determinierungsanforderungen die Verfassung an den Gesetzgeber stellt. In diesem Zusammenhang hat der VfGH auch mehrfach ausgesprochen, dass der Grundsatz der Vorherbestimmung verwaltungsbehördlichen Handelns nicht in Fällen überspannt werden darf, in denen ein rascher Zugriff und die Berücksichtigung vielfältiger örtlicher und zeitlicher Verschiedenheiten für eine sinnvolle und wirksame Regelung wesensnotwendig sind, womit auch eine zweckbezogene Determinierung des Verordnungsgebers durch unbestimmte Gesetzesbegriffe und generalklauselartige Regelungen zulässig ist. Dabei hat der VfGH auch darauf hingewiesen, dass in einschlägigen Konstellationen der Normzweck auch gebieten kann, dass eine zum Zeitpunkt ihrer Erlassung dringend erforderliche - unter Umständen unter erleichterten Voraussetzungen zustande gekommene - Maßnahme dann rechtswidrig wird und aufzuheben ist, wenn der Grund für die Erlassung fortfällt.

Überlässt der Gesetzgeber im Hinblick auf bestimmte tatsächliche Entwicklungen dem Verordnungsgeber die Entscheidung, welche aus einer Reihe möglicher, unterschiedlich weit gehender, aber jeweils Grundrechte auch intensiv einschränkender Maßnahmen er seiner Prognose zufolge und in Abwägung der betroffenen Interessen für erforderlich hält, hat der Verordnungsgeber seine Entscheidung auf dem in der konkreten Situation zeitlich und sachlich möglichen und zumutbaren Informationsstand über die relevanten Umstände, auf die das Gesetz maßgeblich abstellt, und nach Durchführung der gebotenen Interessenabwägung zu treffen. Dabei muss er diese Umstände ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren entsprechend festhalten, um eine Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung zu gewährleisten. Determiniert das Gesetz die Verordnung inhaltlich nicht so, dass der Verordnungsinhalt im Wesentlichen aus dem Gesetz folgt, sondern öffnet er die Spielräume für die Verwaltung so weit, dass ganz unterschiedliche Verordnungsinhalte aus dem Gesetz folgen können, muss der Verordnungsgeber die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände entsprechend ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren auch nachvollziehbar festhalten, sodass nachgeprüft werden kann, ob die kon-krete Verordnungsregelung dem Gesetz in der konkreten Situation entspricht. Insofern unterscheiden sich demokratische Gesetzgebung und generell abstrakte Rechtssetzung durch die Verwaltung im Wege von Verordnungen nach Art18 Abs2 B-VG. Die Determinierungswirkungen und damit die rechtsstaatliche und demokratische Bestimmung des Verordnungsgebers durch Art18 Abs2 B-VG zielen auf eine entsprechende Bindung bei der konkreten Verordnungserlassung ab.

Mit §2 COVID-19-Maßnahmengesetz überträgt der Gesetzgeber der verordnungserlassenden Behörde einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit sie zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich hält, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Personen zu treffen hat. Der Verordnungsgeber muss also in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 notwendig prognosehaft beurteilen, inwieweit in Aussicht genommene Maßnahmen wie die Verpflichtung zum Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignete (der Zielerreichung dienliche) erforderliche (gegenläufige Interessen weniger beschränkend und zugleich weniger effektiv nicht mögliche) und insgesamt angemessene (nicht hinnehmbare Grundrechtseinschränkungen ausschließende) Maßnahmen darstellen.

Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers umfasst insoweit auch die zeitliche Dimension dahingehend, dass ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz vorgesehen und auch gefordert ist.

Der Verordnungsgeber ist verpflichtet, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu. Für die Beurteilung des VfGH ist der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen und die diesen zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich.

Dass es damit dafür, ob die angefochtene Verordnungsbestimmung mit den Zielsetzungen des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz im Einklang stehen, auch auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung ankommt, ist kein Selbstzweck. Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu.

Als Grundlagen für die Erlassung der angefochtenen Bestimmungen der COVID-19-Lockerungsverordnung finden sich in den Verordnungsakten der Entwurf der Lockerungsverordnung, der die Verordnung 96/2020 idgF und 98/2020 idgF ablöst mit Regelungen betreffend "Maßnahmen in Betriebsstätten, bei Veranstaltungen, in Massenbeförderungsmitteln, etc".

Damit genügt die angefochtene Bestimmung des §1 Abs2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung den Vorgaben des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz schon aus diesem Grund nicht.

Die Entscheidungsgrundlagen, die im Verordnungsakt zur COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung BGBl II 197/2020 dokumentiert sind, beschränken sich auf eine Absichtserklärung, die bloß im Groben umrissene Verordnung erlassen zu wollen. Es ist aus dem Verordnungsakt nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID-19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung zu einer (Beibehaltung der) Verpflichtung zum Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung beim Betreten öffentlicher Orte in geschlossenen Räumen geleitet haben.

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), VfGH / Individualantrag, Legalitätsprinzip, Verordnungserlassung, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, Determinierungsgebot

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:V463.2020

Zuletzt aktualisiert am

26.07.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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