Entscheidungsdatum
18.05.2020Index
40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
VStG §32 Abs2Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Verwaltungsgericht Wien erkennt durch seine Richterin Mag. Dr. Zirm über die Beschwerde des Herrn A. B., geb. 1976, gegen das Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien, Polizeikommissariat C., vom 24.1.2020, Zl. VStV/..., wegen Übertretung des § 4 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung – StVO sowie des § 4 Abs. 1 lit. a StVO,
zu Recht:
I. Der Beschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis behoben und das gegen den Beschwerdeführer geführte Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG eingestellt.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a Abs. 1 VwGG eine ordentliche Revision – soweit eine Revision nicht bereits nach § 25a Abs. 4 VwGG ausgeschlossen ist – unzulässig.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
I. Verfahren
1. Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien, Polizeikommissariat C., vom 24. Jänner 2020 wurde dem Beschwerdeführer Folgendes zur Last gelegt:
„1. Datum/Zeit: 15.12.2017, 09:10 Uhr
Ort: Wien, D.-gasse 5
Betroffenes Fahrzeug: LKW, Kennzeichen: KO-... (A)
Sie sind mit einem Verkehrsunfall mit Sachschaden in ursächlichem Zusammenhang gestanden und haben nicht ohne unnötigen Aufschub die nächste Polizeidienststelle verständigt, obwohl Sie und die Person(en) in deren Vermögen der Schaden eingetreten ist, einander ihre Namen und Anschriften nicht nachgewiesen haben. Sie haben das Fahrzeug mit dem Kennzeichen W-... beschädigt.
2. Datum/Zeit: 15.12.2017, 09:10 Uhr
Ort: Wien, D.-gasse 5
Betroffenes Fahrzeug: LKW, Kennzeichen: KO-... (A)
Sie sind als Lenker/in des angeführten Fahrzeuges mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang gestanden und haben Ihr Fahrzeug nicht sofort angehalten.
Sie haben dadurch folgende Rechtsvorschrift(en) verletzt:
2. § 4 Abs. 1 lit. a StVO
Wegen dieser Verwaltungsübertretung(en) wird (werden) über Sie folgende Strafe(n) verhängt:
Geldstrafe von falls diese uneinbringlich ist, Freiheitsstrafe Gemäß
Ersatzfreiheitsstrafe von von
1. € 150,00 2 Tage(n) 21 Stunde(n) § 99 Abs. 3 lit. b StVO
0 Minute(n)
2. € 150,00 1 Tage(n) 9 Stunde(n) § 99 Abs. 2 lit. a StVO
0 Minute(n)
Weitere Verfügungen (zB Verfallsausspruch, Anrechnung von Vorhaft):
Ferner haben Sie gemäß § 64 des Verwaltungsstrafgesetzes 1991 – VStG zu zahlen:
€ 30,00 als Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens, das sind 10% der Strafe, jedoch mindestens € 10,00 für jedes Delikt (je ein Tag Freiheitsstrafe wird gleich € 100,00 angerechnet).
Der zu zahlende Gesamtbetrag (Strafe/Kosten/Barauslagen) beträgt daher
€ 330,00“
2. Gegen dieses Straferkenntnis der belangten Behörde erhob der Beschwerdeführer die – rechtzeitige – Beschwerde vom 12. Februar 2020, in der er im Wesentlichen vorbringt, dass er sich keiner Schuld bewusst sei. Bei seiner Vernehmung am 9. April 2018 habe er die Bearbeiterin mit einem vorgelegten Plan darauf aufmerksam gemacht, dass die D.-gasse 5 die Einfahrt der E. sei und das nicht zusammenpassen würde. Er sei seit Mai 2018 durch einen Arbeitsunfall im Krankenstand und sei mittlerweile dreimal am Knie operiert worden. Mittlerweile sei er vierfacher Vater und bekomme EUR 1200 Reha-Geld.
3. Die belangte Behörde traf keine Beschwerdevorentscheidung und legte die Beschwerde dem Verwaltungsgericht Wien samt der Akten des Verwaltungsverfahrens vor.
4. Mit Verfügung vom 7. Mai 2020 wurde die Rechtssache der Gerichtsabteilung 021 abgenommen. Die Rechtssache wurde anschließend der Gerichtsabteilung 087 zur Behandlung zugewiesen.
II. Sachverhalt
1. Das Verwaltungsgericht Wien legt seiner Entscheidung folgende Feststellungen zugrunde:
1.1. Am 15.12.2017 beobachtete Herr F. G. um ca. 9:10 Uhr von seiner Wohnung in der H.-Gasse, 4. Stock vom Fenster aus, wie ein LKW von der D.-gasse in die H.-Gasse abbiegen wollte. Er beobachtete, wie der LKW hin und hergeschoben habe und plötzlich mit seinem Ladekran hinten am LKW ein parkendes Auto beschädigt habe. Er beobachtete weiter, dass der LKW-Fahrer ohne Nachschau am beschädigten Auto zu halten, weiterfuhr. Herr G. verständigte den Inhaber des beschädigten Autos (Herrn I. J.) durch Hinterlegung einer Nachricht in dessen Windschutzschreibe. Der Geschädigte meldete den Sachschaden daraufhin bei der belangten Behörde und erstattete Privatanzeige. Als Adresse wurde in der Anzeige als Tatort die Adresse D.-gasse 5, Wien angegeben.
1.2. Der Beschwerdeführer führte am 15. Dezember 2017, 09:10 Uhr, als Lenker des LKW mit dem behördlichen Kennzeichen KO-... ein Abbiegemanöver in Wien von der D.-gasse aus dem Süden (K.-straße) kommend in die H.-Gasse durch. Dieser Vorgang fand auf Höhe D.-gasse 6 statt.
1.3. Die D.-gasse im ... Wiener Gemeindebezirk verbindet die K.-straße mit dem L.-Platz und ist in beide Richtungen befahrbar. Aus dem Süden kommend liegt auf der rechten Seite, noch vor dem Halbierungspunkt zwischen K.-straße und L.-Straße, die zur D.-gasse quer verlaufende, als Einbahnstraße ausgestaltete, H.-Gasse. Die H.-Gasse mündet zwischen den Hausnummern D.-gasse 8 und D.-gasse 6 in die D.-gasse.
Gegenüber der geraden Hausnummern der D.-gasse, somit auch gegenüber der Einfahrt in die H.-Gasse befindet sich das Gelände der E.. Dieser Bereich gegenüber der Einfahrt in die H.-Gasse hat die Adresse D.-gasse 3-15 und erstreckt sich über eine Distanz von zumindest 170 Meter. Gesonderte Hausnummern, somit die Adresse D.-gasse 5, gibt es auf dieser Seite (abgesehen von ONR 1) nicht. Die Adresse D.-gasse 5 ist daher keinem eindeutigen Bereich innerhalb der ONR 3-15 der D.-gasse zuordenbar.
Im Bereich von ONR 6 bis ONR 14 können in der D.-gasse prinzipiell beidseitig Fahrzeuge abgestellt werden.
1.4. Der Beschwerdeführer wurde mit Schreiben vom 21. Februar 2018, zugestellt am 26. Februar 2018, zur Rechtfertigung hinsichtlich der ihm im angeführten Schreiben wie folgt vorgeworfenen Verwaltungsübertretungen aufgefordert:
„1) Sie sind am 15.12.2017 um 09:10 Uhr in Wien, D.-gasse 5 als Lenker(in) des Fahrzeuges mit dem Kennzeichen KO-... mit einem Verkehrsunfall mit Sachschaden in ursächlichem Zusammenhang gestanden und haben nicht ohne unnötigen Aufschub die nächste Polizeidienststelle verständigt, obwohl Sie und die Person(en) in deren Vermögen der Schaden eingetreten ist, einander ihre Namen und Anschriften nicht nachgewiesen haben.
2) Sie sind am 15.12.2017 um 09:10 Uhr in Wien, D.-gasse 5 als Lenker(in) des Fahrzeuges mit dem Kennzeichen KO-... mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang gestanden und haben Ihr Fahrzeug nicht sofort angehalten.
Verwaltungsübertretungen nach §
2) § 4 Abs. 1 lit. a StVO“
1.5. Am 10.9.2018 wurde der Zeuge G. und am 16.10.2018 der Zeuge J. von der belangten Behörde vernommen. Der Zeuge J. gab an, er habe den Vorfall selbst nicht wahrgenommen, ein unabhängiger Zeuge habe den Vorfall zufällig gesehen und den Geschädigten in Kenntnis gesetzt. Der Zeuge G. gab als unmittelbarer Zeuge an, er habe beobachten können, wie ein LKW beim Abbiegen von der D.-gasse in die H.-Gasse hin und hergeschoben habe und plötzlich mit seinem Ladekran hinten am LKW ein parkendes Auto beschädigt habe.
1.6. Mit Schreiben vom 17. Oktober 2018, zugestellt am 22. Oktober 2018, wurde der Beschwerdeführer vom „Ergebnis der Beweisaufnahme: 2x Zeugeneinvernahme“ hinsichtlich des Vorfalls vom 15. Dezember 2017 um 09:10 Uhr in D.-gasse 5, Wien, AUT, Übertretung gem. § 4 Abs. 5 StVO sowie des Vorfalls vom 15. Dezember 2017 um 09:10 Uhr in D.-gasse 5, Wien, AUT, Übertretung gem. § 4 Abs. 1 lit. a StVO verständigt und dem Beschwerdeführer Stellungnahmemöglichkeit eingeräumt.
1.7. Mit dem nunmehr angefochtenen Straferkenntnis vom 24. Jänner 2020 wurde über den Beschwerdeführer wegen Verletzung des § 4 Abs. 5 StVO eine Geldstrafe in Höhe von EUR 150,-- und eine Ersatzfreiheitsstrafe von 2 Tagen und 21 Stunden gemäß § 99 Abs. 3 lit. b StVO (Spruchpunkt 1.) sowie wegen Verletzung des § 4 Abs. 1 lit. a StVO eine Geldstrafe in Höhe von EUR 150,-- und eine Ersatzfreiheitsstrafe von 1 Tag und 9 Stunden gemäß § 99 Abs. 2 lit. a StVO (Spruchpunkt 2.) verhängt.
Der Beschwerdeführer sei am 15. Dezember 2017, 09:10 Uhr, in Wien, D.-gasse 5, mit dem LKW mit dem Kennzeichen KO-... mit einem Verkehrsunfall mit Sachschaden in ursächlichem Zusammenhang gestanden und habe nicht ohne unnötigen Aufschub die nächste Polizeidienststelle verständigt, obwohl er und die Person(en), in deren Vermögen der Schaden eingetreten ist, einander ihre Namen und Anschriften nicht nachgewiesen hätten (Spruchpunkt 1.) und sei als Lenker des Fahrzeuges KO-... mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang gestanden und habe sein Fahrzeug nicht sofort angehalten (Spruchpunkt 2.).
Begründend stütze sich die belangte Behörde im Wesentlichen auf die Privatanzeige und die Zeugenaussagen.
2. Diese Feststellungen ergeben sich aus folgender Beweiswürdigung:
2.1. Das Verwaltungsgericht Wien hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, Würdigung des Beschwerdevorbringens, Einholung eines Grundbuchsauszugs und Einsichtnahme in den Stadtplan der Stadt Wien sowie Google Street View am 18. Mai 2020.
2.2. Die Feststellungen zum Verfahrensgang, im Konkreten zum Vorgang der Anzeigenlegung, der Zeugeneinvernahmen und -aussagen, der Aufforderung zur Rechtfertigung vom 21. Februar 2018, zur Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 17. Oktober 2018 sowie zum Straferkenntnis vom 24. Jänner 2020 gründen auf dem Verwaltungsakt und sind unstrittig.
2.3. Die Feststellungen zu den örtlichen Gegebenheiten gründen auf einem Grundbuchsauzug der Adresse D.-gasse 3-15 und einer Einsichtnahme vom erkennenden Verwaltungsgericht am 18. Mai 2020 in den Stadtplan von Wien auf www.wien.gv.at und in Google Street View.
2.4. Die Feststellungen dazu, dass der Beschwerdeführer am 15. Dezember 2017, 09:10 Uhr, ein Abbiegemanöver von der D.-gasse aus dem Süden kommend in die H.-Gasse durchführte, ergeben sich aus dem Verwaltungsakt und der Skizze des Beschwerdeführers und sind unstrittig.
III. Rechtliche Beurteilung
1. Rechtslage
Die im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden – Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960, BGBl. Nr. 159/1960, lauten auszugsweise:
§ 4 StVO idF BGBl. I Nr. 50/2012:
„§ 4. Verkehrsunfälle.
(1) Alle Personen, deren Verhalten am Unfallsort mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhange steht, haben
a) wenn sie ein Fahrzeug lenken, sofort anzuhalten,
b) wenn als Folge des Verkehrsunfalles Schäden für Personen oder Sachen zu befürchten sind, die zur Vermeidung solcher Schäden notwendigen Maßnahmen zu treffen,
c) an der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken.
(2) […]
[…]
(5) Wenn bei einem Verkehrsunfall nur Sachschaden entstanden ist, haben die im Abs. 1 genannten Personen die nächste Polizeidienststelle vom Verkehrsunfall ohne unnötigen Aufschub zu verständigen. Eine solche Verständigung darf jedoch unterbleiben, wenn die im Abs. 1 genannten Personen oder jene, in deren Vermögen der Schaden eingetreten ist, einander ihren Namen und ihre Anschrift nachgewiesen haben.
[…]“
§ 99 StVO idF BGBl. I Nr. 39/2013:
„§ 99. Strafbestimmungen.
[…]
(2) Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist mit einer Geldstrafe von 36 Euro bis 2 180 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe von 24 Stunden bis sechs Wochen, zu bestrafen,
a) der Lenker eines Fahrzeuges, dessen Verhalten am Unfallsort mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang steht, sofern er den Bestimmungen des § 4 Abs. 1 und 2 zuwiderhandelt, insbesondere nicht anhält, nicht Hilfe leistet oder herbeiholt oder nicht die nächste Polizeidienststelle verständigt,
[…]
(3) Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist mit einer Geldstrafe bis zu 726 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen, zu bestrafen,
[…]
b) wer in anderer als der in Abs. 2 lit. a bezeichneten Weise gegen die Bestimmungen des § 4 verstößt, insbesondere die Herbeiholung einer Hilfe nicht ermöglicht, den bei einem Verkehrsunfall entstandenen Sachschaden nicht meldet oder als Zeuge eines Verkehrsunfalles nicht Hilfe leistet,
[…]“.
§§ 31, 32 und 44a VStG lauten auszugsweise:
„Verjährung
§ 31.
(1) Die Verfolgung einer Person ist unzulässig, wenn gegen sie binnen einer Frist von einem Jahr keine Verfolgungshandlung (§ 32 Abs. 2) vorgenommen worden ist. Diese Frist ist von dem Zeitpunkt zu berechnen, an dem die strafbare Tätigkeit abgeschlossen worden ist oder das strafbare Verhalten aufgehört hat; ist der zum Tatbestand gehörende Erfolg erst später eingetreten, so läuft die Frist erst von diesem Zeitpunkt.
[…]“
„Beschuldigter
§ 32.
(1) Beschuldigter ist die im Verdacht einer Verwaltungsübertretung stehende Person von dem Zeitpunkt der ersten von der Behörde gegen sie gerichteten Verfolgungshandlung bis zum Abschluß der Strafsache. Der Beschuldigte ist Partei im Sinne des AVG.
(2) Verfolgungshandlung ist jede von einer Behörde gegen eine bestimmte Person als Beschuldigten gerichtete Amtshandlung (Ladung, Vorführungsbefehl, Vernehmung, Ersuchen um Vernehmung, Beratung, Strafverfügung u. dgl.), und zwar auch dann, wenn die Behörde zu dieser Amtshandlung nicht zuständig war, die Amtshandlung ihr Ziel nicht erreicht oder der Beschuldigte davon keine Kenntnis erlangt hat.
[…]“
„§ 44a.
Der Spruch hat, wenn er nicht auf Einstellung lautet, zu enthalten:
1.
die als erwiesen angenommene Tat;
2.
die Verwaltungsvorschrift, die durch die Tat verletzt worden ist;
3.
die verhängte Strafe und die angewendete Gesetzesbestimmung;
4.
den etwaigen Ausspruch über privatrechtliche Ansprüche;
5.
im Fall eines Straferkenntnisses die Entscheidung über die Kosten.“
2. Erwägungen
2.1. Mit dem angefochtenen Straferkenntnis werden dem Beschwerdeführer zwei Verwaltungsübertretungen am Tatort D.-gasse 5 vorgeworfen. Dieser Tatort beruht offenbar auf der Ortsangabe in der am 15. Dezember 2017 gelegten Privatanzeige, auf die sich sämtliche Handlungen der belangten Behörde sowie das Straferkenntnis vom 24. Jänner 2020 stützen. Die Adresse D.-gasse 5 existiert jedoch nicht. Gegenüber der D.-gasse 6 befindet sich nämlich die Adresse D.-gasse 3-15 auf einer Länger von ca. 170 Meter, welche zu einem Großteil auch als Fahrzeugabstellfläche dient.
2.2. Grundsätzlich ist im Rechtsmittelverfahren eine iSd § 44a Z 1 VStG erforderliche Richtigstellung oder Ergänzung der im Spruch umschriebenen Tat möglich und auch geboten, sofern die Behörde gegen den Beschuldigten innerhalb der Verfolgungsverjährungsfrist (§ 31 Abs. 1 VStG) eine alle der Bestrafung zu Grunde liegenden Sachverhaltselemente enthaltende Verfolgungshandlung iSd § 32 Abs. 2 VStG gesetzt hat und durch die Modifizierung keine Auswechslung der Tat, also des der Bestrafung ursprünglich zu Grunde gelegten Sachverhalts erfolgt (vgl. VwGH 20.5.2015, Ra 2014/09/0033; 27.2.2015, 2011/17/0131, mwN).
2.3. Von einer tauglichen und zureichenden Verfolgungshandlung ist – entsprechend den Vorgaben des § 44a VStG für den Tatvorhalt im Spruch – dann auszugehen, wenn die der beschuldigten Person vorgeworfene Tat derart unverwechselbar konkretisiert ist, dass diese in die Lage versetzt wird, ihr Rechtsschutzinteresse durch das Anbieten von Beweisen zur Widerlegung des in Rede stehenden Tatvorwurfs zu wahren, und ferner davor geschützt ist, wegen desselben Verhaltens nochmals zur Verantwortung gezogen zu werden. Das an die Tatumschreibung zu stellende Genauigkeitserfordernis wird – gemessen an diesen Rechtsschutzüberlegungen – nicht nur von Delikt zu Delikt, sondern auch nach den jeweils gegebenen Begleitumständen in jedem einzelnen Fall unterschiedlich sein. Grundsätzlich hat sich die Verfolgungshandlung auf eine bestimmte physische Person als Beschuldigten, eine bestimmte Tatzeit, den ausreichend konkretisierten Tatort sowie sämtliche Tatbestandsmerkmale der durch die Tat verletzten Verwaltungsvorschrift iSd. § 44a Z 2 VStG, sohin auf alle der späteren Bestrafung zu Grunde liegenden Sachverhaltselemente zu beziehen; die (korrekte) rechtliche Qualifikation der Tat ist hingegen noch nicht erforderlich (vgl. VwGH 5.12.2017, Ra 2017/02/0186; 8.3.2017, Ra 2016/02/0226, 19.12.2016, Ra 2016/17/0034; 14.12.2016, Ra 2015/17/0109, mwV).
2.4. Der von der Behörde angenommene tatsächliche Tatort, offenbar ggü. D.-gasse 6, wurde dem Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt von der belangten Behörde vorgehalten. Eine taugliche Verfolgungshandlung in Hinblick auf den Tatort kann nämlich nicht schon darin erblickt werden, dass die Behörde unter unveränderter Bezugnahme auf den von ihr vorgeworfenen Tatort D.-gasse 5, die Zeugenaussage des Herrn G., in welcher der Tathergang (Beschädigung beim Reversiere im Zuge des Einbiegens von der D.-gasse in die H.-Gasse) geschildert wird, zum Parteiengehör – wertungsfrei – übermittelt. Die Behörde hat nämlich zu keinem Zeitpunkt zu erkennen gegeben, dass sie sich den vom Zeugen genannten konkreten Tatort zu Eigen machen will, wie dies etwa bei der Übermittlung einer alle Elemente umfassenden Anzeige nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes der Fall ist (vgl. zB 19.07.2011, VwGH 2011/02/0097).
Zwar kann nach der Rechtsprechung der Akt einer Zeugeneinvernahme an sich eine taugliche Verfolgungshandlung darstellen, jedoch muss die konkrete Person, gegen die sich die Verfolgungshandlung richtet, zu diesem Zeitpunkt feststehen (VwGH 28.03.2014, Ra 2014/02/0010) und werden dabei die konkreten Inhalte der Zeugenaussage selbst – gerade wenn sie von einem Zeugen, der nicht Meldungsleger ist, stammen – nicht automatisch zum Inhalt und Gegenstand der Verfolgungshandlung der Behörde. Ein solchen Willen müsste sie klar zum Ausdruck bringen, was etwa dann der Fall wäre, wenn sie einen Meldungsleger zu seiner Anzeige vernimmt und diese Anzeige im Anschluss an den Beschuldigten übermittelt und damit zum Ausdruck bringt, die angezeigte Tat dem Beschuldigten vorzuwerfen (vgl. VwGH 20.07.2004, 2002/03/0195). Eine bloße Übermittlung von (möglicherweise verschiedenen oder widersprüchlichen) Zeugenaussagen unter unveränderter Angabe des von der Behörde angenommenen (falschen) Tatortes kann eine taugliche Verfolgungshandlung hinsichtlich des von einem Zeugen umschriebenen (anderen) Tatortes nicht bewirken.
Eine Richtigstellung des Tatortes durch das Verwaltungsgericht Wien kommt – mangels diesbezüglich gesetzter Verfolgungshandlung durch die belangte Behörde innerhalb der Verfolgungsverjährungsfrist – daher nicht in Betracht (vgl. VwGH 20.05.2015, Ra 2014/09/0033 u.a.).
2.5. Ungenauigkeit bei der Konkretisierung der Tat in Ansehung von Tatzeit und Tatort haben dann keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit des Strafbescheides, wenn dadurch keine Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten und keine Gefahr der Doppelbestrafung bewirkt wird (VwGH 28.11.2008, 2008/02/0200).
2.6. Eine bloße Ungenauigkeit ohne Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte liegt gegenständlich jedoch auch nicht vor: Der Ort D.-gasse 5 ist Teil der Hausnummer D.-gasse 3-15 auf einer Länge von ca. 170 Meter und unterscheidet sich vor dem Hintergrund des Falles erheblich von dem Bereich Einfahrt in die H.-Gasse auf Höhe D.-gasse ONR 6 und ggü, in welchem der Beschwerdeführer das Abbiegemanöver durchgeführt hat. Dem Beschwerdeführer wurde nie konkret vorgeworfen, wo das beschädigte Fahrzeug tatsächlich genau gestanden sein soll, wo also die Beschädigung genau stattgefunden haben soll. In Anbetracht dessen, dass sich die Adresse D.-gasse 5 nicht zweifelsfrei einem genauen Standpunkt zuordnen lässt, (sondern sich theoretisch auf einer Länge von mehr als 150 Meter befinden könnte, nämlich im Bereich der D.-gasse 3-15), wird der Beschwerdeführer damit nicht in die Lage versetzt, konkrete Beweismittel anbieten zu können. Wäre das Fahrzeug nämlich erst nach der Einfahrt in die H.-Gasse abgestellt gewesen, so wäre eine Schadensverursachung durch den Beschwerdeführer nicht zwingend plausibel, da dieser laut bisheriger übereinstimmender Angaben aller Verfahrensbeteiligten gerade nicht in Richtung L.-Platz weitergefahren ist.
2.7. Da der Beschwerdeführer an der Adresse „D.-gasse 5“ zum Tatzeitpunkt jedenfalls mit keinem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang gestanden ist und eine Tatortauswechslung durch das Verwaltungsgericht nicht in Betracht kam, ist das angefochtene Straferkenntnis daher aufzuheben und das gegen den Beschwerdeführer geführte Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG einzustellen, weil er die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen hat.
3. Gemäß § 52 Abs. 8 VwGVG sind die Kosten des Beschwerdeverfahrens dem Beschwerdeführer nicht aufzuerlegen, wenn der Beschwerde auch nur teilweise Folge gegeben worden ist. Dem Beschwerdeführer sind daher die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht aufzuerlegen.
4. Von der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 44 Abs. 2 VwGVG abgesehen werden, da bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
5. Für den Beschwerdeführer ist die Revision im Hinblick auf Spruchpunkt 1. des angefochtenen Straferkenntnisses gemäß § 25a Abs. 4 VwGG ausgeschlossen. Im Übrigen ist die ordentliche Revision unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur genauen Bezeichnung des Tatortes bzw. zu tauglichen Verfolgungshandlungen ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Tatanlastung; Konkretisierung der Tat; Verfolgungshandlung; TatortEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2020:VGW.031.087.2910.2020Zuletzt aktualisiert am
23.11.2020