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27 RechtspflegeNorm
B-VG Art7 Abs1 / VerwaltungsaktLeitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch Unterlassung der bei verfassungskonformer Gesetzesauslegung erforderlichen Ermittlungstätigkeit, Verletzung in der Erwerbsausübungs- und Berufsausbildungsfreiheit durch verfassungswidrige Gesetzesauslegung bei Versagung der Anrechnung einer rechtsberuflichen Tätigkeit bei der Kammer für Arbeiter und Angestellte auf die Dauer der praktischen Verwendung zur Erlangung der RechtsanwaltschaftSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Die Oberösterreichische Rechtsanwaltskammer ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten innerhalb von 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1. Mit Schreiben vom 29. Oktober 1993 stellte der Beschwerdeführer beim Ausschuß der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer den Antrag, bescheidmäßig festzustellen, daß seine rechtsberufliche Tätigkeit bei der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich in der Zeit vom 1. Dezember 1984 bis 30. September 1993 auf die Dauer seiner praktischen Verwendung zur Erlangung der Rechtsanwaltschaft im Sinne des §2 RAO angerechnet wird.
1.2. Mit Beschluß vom 29. November 1993 gab die Abteilung II des Ausschusses der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer dem Antrag keine Folge. Gegen diesen Bescheid wurde vom Beschwerdeführer innerhalb offener Frist Vorstellung erhoben, der vom Ausschuß mit Bescheid vom 20. Dezember 1993 keine Folge gegeben wurde.
1.3. Gegen diesen Bescheid wurde vom Beschwerdeführer Berufung an die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) erhoben, welcher mit Bescheid vom 16. Mai 1994 keine Folge gegeben wurde. Die OBDK begründete die abweisende Entscheidung im wesentlichen wie folgt:
"Für die Anrechnung ... ist entscheidend, ob die Tätigkeit bei der Kammer für Arbeiter und Angestellte, mag sie auch in concreto für die Ausübung der Rechtsanwaltschaft dienlich sein, eine rechtsberufliche Tätigkeit bei einer Verwaltungsbehörde im Sinne des §2 Abs1 RAO ist; die anderen Varianten einer Ersatzpraxis scheiden vorliegend von vornherein aus.
Die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission verneint dies aus folgenden Erwägungen:
Auch wenn der Begriff der Verwaltungsbehörde im Sinne der zitierten Bestimmung entsprechend den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes in seinem Erkenntnis vom 2. Oktober 1993, B381/93 betreffend die Tätigkeit bei einem Landesvolksanwalt nicht formell-organisatorisch, sondern in einem weitesten Sinn zu verstehen ist, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Verwaltungseinrichtung hoheitliche Akte zu erlassen hat oder nicht, so ist die Kammer für Arbeiter und Angestellte ihrem Wesen und ihren spezifischen Aufgaben nach - als Institution, die berufen ist, die sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu wahren und zu fördern (§1 AKG 1992, BGBl 1991/626) - keine im weitesten Sinn als Verwaltungsbehörde aufzufassende Einrichtung. ... Gerade die Tätigkeit des Berufungswerbers ... war solcherart nicht im weitesten Sinne staatliche Verwaltungstätigkeit, sondern in der Hauptsache - entsprechend der primären Aufgabe der Arbeiterkammer - die Tätigkeit eines, wenngleich auf arbeits- und sozialrechtliche Angelegenheiten spezialisierten (vgl §7 AKG 1992), Parteienvertreters."
1.4.1. Dagegen wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in welcher die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie auf Freiheit der Erwerbsbetätigung und der Berufsausbildung sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
1.4.2. Die Beschwerde wird im wesentlichen folgendermaßen begründet:
"Die belangte Behörde gesteht zwar im angefochtenen Bescheid ... ein, daß meine Tätigkeit bei der Kammer für Arbeiter und Angestellte für die Ausübung der Rechtsanwaltschaft dienlich ist, vermeint jedoch, daß die Kammer für Arbeiter und Angestellte keine Verwaltungsbehörde im Sinn des Par. 2 Abs1 RAO sei. Diese Meinung übersieht jedoch die vom Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 2.10.1993, B381/93, geäußerte Meinung, daß es nicht sosehr darauf ankommt, ob die Verwaltungseinrichtung hoheitliche Akte zu erlassen hat oder nicht, daß vielmehr entscheidend ist, ob Rechtskenntnisse und sonstige Fähigkeiten erworben bzw. vertieft werden können, die für die Tätigkeiten der Rechtsanwaltschaft dienlich sind.
Gerade in diesem Erkenntnis spricht der Verfassungsgerichtshof aus, daß den Verwaltungsbehörden im engeren Sinn vergleichbare Einrichtungen, nämlich die Volksanwaltschaft des Bundes, die Parlamentsdirektion, die Landtage, der Rechnungshof, sowie Kammern und Sozialversicherungsträger ebenfalls als Verwaltungsbehörden im Sinn des Par. 2 Abs1 RAO anzusehen sind (B381/93, Seite 6).
...
Entgegen der Rechtsansicht der belangten Behörde wird zumindest meine Tätigkeit bei der Gesetzesbegutachtung als Mitwirkung bei der staatlichen Verwaltungstätigkeit im engeren Sinn angesehen werden müssen. Darüberhinaus handelt es sich bei der Rechtsvertretung von Kammermitgliedern vor den Arbeits- und Sozialgerichten um eine vom Gesetzgeber aufgetragene Verpflichtung der (Selbst-)verwaltung. Diese Vertretungstätigkeit ist vergleichbar mit der Privatwirtschaftsverwaltung einer Behörde im engeren Sinn."
2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
2.1. Der angefochtene Bescheid stützt sich insbesondere auf §2 Abs1 RAO in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 556/1985; diese Bestimmung lautet:
"Die zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft erforderliche praktische Verwendung hat in der rechtsberuflichen Tätigkeit bei Gericht und bei einem Rechtsanwalt zu bestehen; sie kann außerdem in der rechtsberuflichen Tätigkeit bei einem Notar oder, wenn die Tätigkeit für die Ausübung der Rechtsanwaltschaft dienlich ist, bei einer Verwaltungsbehörde, an einer Hochschule oder bei einem beeideten Wirtschaftsprüfer und Steuerberater bestehen. Die Tätigkeit bei der Finanzprokuratur ist der bei einem Rechtsanwalt gleichzuhalten. Die praktische Verwendung bei einem Rechtsanwalt ist nur anrechenbar, soweit diese Tätigkeit hauptberuflich und ohne Beeinträchtigung durch eine andere berufliche Tätigkeit ausgeübt wird."
2.2. Der Verfassungsgerichtshof hegte bislang gegen §2 Abs1 RAO keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. VfSlg. 12337/1990, 12670/1991 und 13560/1993). Im Erkenntnis VfSlg. 13560/1993 führte der Verfassungsgerichtshof folgendes aus:
"... Bedenken aus der Sicht des Gleichheitssatzes, darüber hinaus aber auch unter dem Blickwinkel des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Freiheit der Erwerbsbetätigung und der Berufsausbildung im Sinne der Art6 und 18 StGG bestünden allerdings dann, wenn §2 Abs1 RAO - soweit die Möglichkeit eröffnet wird, die praktische Verwendung in beschränktem Umfang auch bei Verwaltungsbehörden zu absolvieren - die Berücksichtigung einschlägiger rechtsberuflicher Tätigkeit bei vergleichbaren Einrichtungen, nämlich bei der Volksanwaltschaft des Bundes, in der Parlamentsdirektion, bei den Landtagen, beim Rechnungshof, darüber hinaus aber auch bei Kammern und Sozialversicherungsträgern ausschlösse. Wie sogleich darzulegen ist, hat aber die genannte gesetzliche Regelung nicht diesen - verfassungswidrigen - Inhalt, sondern ist, wie die Beschwerde diesbezüglich der Sache nach im Ergebnis richtig vermeint, einer verfassungskonformen Deutung zugänglich.
...
... Bei Auslegung und Anwendung des §2 Abs1 RAO geht es aber nicht um eine solche allgemeine verfassungsorganisatorische Zuordnung einer staatlichen Einrichtung, sondern um die Ermittlung des Inhaltes der konkreten Regelung, wobei in typisierender Betrachtungsweise darauf abzustellen ist, ob und wenn ja inwieweit eine im weitesten Sinne als Verwaltungsbehörde aufzufassende Institution geeignet ist, den dort tätigen Juristen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die für die Ausübung der Rechtsanwaltschaft dienlich sind.
...
§2 Abs1 RAO ist ... einer verfassungskonformen Interpretation (vgl. VfSlg. 10823/1986, 12643/1991, 12947/1991) zugänglich. Diese führt dazu, daß unter (rechtsberuflicher Tätigkeit bei) Verwaltungsbehörden im Sinne dieser gesetzlichen Vorschrift nicht nur jene Institutionen zu verstehen sind, die aus Sicht der Verfassung formell-organisatorisch als Verwaltungsbehörden eingerichtet sind. Vielmehr zählen dazu jedenfalls auch jene staatlichen Einrichtungen, die zwar von Verfassungs wegen im Grenzbereich zwischen Verwaltung und Gesetzgebung angesiedelt sind, in deren Rahmen aber juristische Mitarbeiter - inhaltlich gesehen - staatliche Verwaltungstätigkeit im weiteren Sinne entfalten. Gleichgültig ist es dabei, ob sich diese juristische Tätigkeit auf typisch hoheitliches Verwaltungshandeln, auf Akte der staatlichen Privatwirtschaftsverwaltung (...), auf die Vorbereitung von Gesetzen, auf die Mitwirkung an der Verwaltung oder aber auf die Kontrolle der Verwaltung bezieht."
2.3. Der Beschwerdeführer wurde nach seinem unbestritten gebliebenen Vorbringen im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Kammer zu Gesetzesbegutachtungen und Funktionärsschulungen herangezogen. Er war weiters damit beschäftigt, als Dienstnehmer der Kammer selbständig und eigenverantwortlich vor den Arbeits- und Sozialgerichten erster und zweiter Instanz Parteien zu vertreten und hat darüber hinaus Schriftsätze an die drei Höchstgerichte vorbereitet sowie Mitglieder und Funktionäre in rechtlichen Angelegenheiten beraten.
2.4. Die belangte Behörde vertritt im angefochtenen Bescheid die Rechtsauffassung, daß die Kammer für Arbeiter und Angestellte ihrem Wesen nach keine Verwaltungsbehörde im Sinne des §2 Abs1 RAO ist, und sie deshalb dem Antrag auf Anrechnung nicht stattzugeben habe. Sie kommt zu diesem Ergebnis, ohne auf den normativen Gehalt des Art7 B-VG sowie der Art6 und 18 StGG Bedacht zu nehmen, obwohl nur dann, wenn dies geschieht, also bei verfassungskonformer Auslegung des §2 Abs1 RAO keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Gesetzesbestimmung bestehen. Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis VfSlg. 13560/1993 bereits ausgesprochen, daß eine verfassungskonforme Interpretation des §2 Abs1 RAO zu dem Ergebnis führt, daß eine rechtsberufliche Tätigkeit bei Kammern und Sozialversicherungsträgern im Rahmen dieser Gesetzesstelle nicht generell unberücksichtigt bleiben kann, sondern in jedem Einzelfall eine konkrete Beurteilung zu erfolgen hat, ob die ausgeübte Tätigkeit für die Ausübung des Berufes eines Rechtsanwaltes dienlich war. Indem die belangte Behörde unter Nichtbeachtung des zitierten Erkenntnisses die Relevanz der angeführten Verfassungsbestimmungen für die Auslegung des §2 Abs1 RAO unberücksichtigt gelassen und keine Erhebungen zur Frage der Dienlichkeit der Tätigkeit des Beschwerdeführers für die Ausübung der Rechtsanwaltschaft vorgenommen hat, unterstellt sie der angewendeten Gesetzesbestimmung einen verfassungswidrigen, die Grundrechte auf freie Erwerbstätigkeit und auf Freiheit der Berufsausbildung verletzenden Inhalt. Dadurch, daß die belangte Behörde die bei verfassungskonformer Auslegung erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, verletzt sie den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.
Der angefochtene Bescheid war deshalb aufzuheben.
2.5. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
2.6. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten sind S 3.000,-- an Umsatzsteuer enthalten.
Schlagworte
Rechtsanwälte, Berufsrecht Rechtsanwälte, Erwerbsausübungsfreiheit, Berufswahl- und Berufsausbildungsfreiheit, Auslegung verfassungskonforme, Ermittlungsverfahren, Rechtsanwälte AusbildungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1995:B1962.1994Dokumentnummer
JFT_10048989_94B01962_00