TE Vfgh Erkenntnis 1995/10/11 B2495/94, B2496/94, B2497/94, B2498/94

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Veröffentlicht am 11.10.1995
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Abweisung von Anträgen auf Verlängerung bereits abgelaufener Sichtvermerke aufgrund der Annahme der Notwendigkeit der Antragstellung vom Ausland aus; kein Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse der Antragsteller; verfassungskonforme Auslegung hinsichtlich der Zulässigkeit einer Antragstellung vom Inland aus in bestimmten Fällen geboten

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- u. Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit 20.700.- S bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Erstbeschwerdeführerin, die selbst nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, ist seit 1989 mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet und lebt getrennt von diesem gemeinsam mit ihren vier minderjährigen Kindern in Wien. Beim Zweitbeschwerdeführer sowie bei der Dritt- und der Viertbeschwerdeführerin handelt es sich um drei der minderjährigen Kinder der Erstbeschwerdeführerin; das vierte Kind ist - dem Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin im Administrativverfahren zufolge - österreichischer Staatsbürger.

Die den Beschwerdeführern zuletzt erteilten Sichtvermerke sind am 18. Jänner 1994 abgelaufen. In den Fällen des Zweitbeschwerdeführers sowie der Dritt- und der Viertbeschwerdeführerin wurden bereits im September 1993 Anträge auf Verlängerung dieser Sichtvermerke eingebracht. Im Fall der Erstbeschwerdeführerin wurde jedoch der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, den Sachverhaltsfeststellungen der belangten Behörde zufolge, entgegen den Ausführungen der Erstbeschwerdeführerin in ihrer Berufung gegen den erstinstanzlichen, die Aufenthaltsbewilligung versagenden Bescheid, erst am 28. Februar 1994 eingebracht.

2. Der Antrag der Erstbeschwerdeführerin wurde mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf §6 Abs2 iVm §13 des Aufenthaltsgesetzes - AufG, BGBl. 466/1992, idF vor der Novelle BGBl. 351/1995, abgewiesen.

Begründend wurde ausgeführt, die Erstbeschwerdeführerin habe die Frist zur Stellung eines Verlängerungsantrages versäumt und hätte deshalb den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom Ausland aus stellen müssen. Es sei daher die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin - auch im Zusammenhang mit ihren persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen.

Die Anträge des Zweitbeschwerdeführers sowie der Dritt- und der Viertbeschwerdeführerin wurden mit im wesentlichen gleichlautenden Bescheiden unter Berufung auf §4 Abs1 und 4 iVm §3 Abs1 Z2 AufG mit der Begründung abgewiesen, es habe im Hinblick darauf, daß der obsorgeberechtigten Mutter dieser Beschwerdeführer eine Aufenthaltsbewilligung nicht erteilt werden konnte, auch den Anträgen der minderjährigen Kinder nicht stattgegeben werden können.

3. Gegen diese Bescheide richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, mit der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide begehrt wird.

4. Der Bundesminister für Inneres als jene Behörde, die die angefochtenen Bescheide erlassen hat, legte die Verwaltungsakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.a) Die angefochtenen, die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen nach dem AufG versagenden Bescheide greifen in das den Beschwerdeführern, die sich seit längerem in Österreich aufhalten und hier auch intensive familiäre Bindungen aufweisen, durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.

b) Ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistetete - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 16.6.1995, B 1611-1614/94, dargelegt hat, ist in den - vom Regelungssystem des §6 Abs2 AufG nicht erfaßten - Fällen, in denen sich Fremde zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, abhängig von der jeweiligen Gestaltung des Falles, im Wege der Analogie entweder die Regelung des §6 Abs2 erster Satz AufG, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom Ausland aus zu stellen sind, oder aber §6 Abs2 zweiter Satz AufG, wonach solche Anträge auch vom Inland aus gestellt werden können, anzuwenden.

3. Die belangte Behörde hat im Fall der Erstbeschwerdeführerin, die sich seit längerem im Bundesgebiet aufhält und hier auch intensive familiäre Bindungen aufweist, nur weil sie den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung - den Sachverhaltsfeststellungen der belangten Behörde zufolge - innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit nach dem Ablauf der Geltungsdauer des ihr zuletzt erteilten Sichtvermerkes gestellt hat, die Bestimmung des §6 Abs2 erster Satz angewendet und die Aufenthaltsbewilligung, ohne auf die persönlichen Verhältnisse der Erstbeschwerdeführerin einzugehen, mit der Begründung versagt, der Antrag müsse vom Ausland aus gestellt werden. Sie hat damit dem §6 Abs2 AufG einen verfassungswidrigen, weil gegen Art8 EMRK verstoßenden Inhalt unterstellt.

Der den Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung abweisende Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

4. Mit den vom Zweitbeschwerdeführer und von der Dritt- und der Viertbeschwerdeführerin angefochtenen Bescheiden wurden deren Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung mit der Begründung abgewiesen, daß der obsorgeberechtigten Mutter eine Aufenthaltsbewilligung nicht erteilt werden konnte. Für diese Bescheide war die Versagung einer Aufenthaltsbewilligung für die Erstbeschwerdeführerin die tragende Begründung.

Mit der nunmehrigen Aufhebung des der Erstbeschwerdeführerin eine Aufenthaltsbewilligung versagenden Bescheides durch den Verfassungsgerichtshof haben die eine Aufenthaltsbewilligung für den Zweitbeschwerdeführer sowie die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin versagenden Bescheide ihre tragende Begründung verloren. Sie verletzen daher diese Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK).

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von 3.450,-- S enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1995:B2495.1994

Dokumentnummer

JFT_10048989_94B02495_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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