Entscheidungsdatum
30.04.2020Norm
AsylG 2005 §55 Abs2Spruch
W182 2013324-2/22E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Volksrepublik China, vertreten durch RA Mag. Dr. Vera M. Feld, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.09.2017, Zl. 1032276805/170470195, gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkt I. und IV. des bekämpften Bescheides wird gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 87/2012, als unbegründet abgewiesen.
II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben, die Spruchpunkte II. - III. des bekämpften Bescheides behoben und festgestellt, dass XXXX gemäß § 55 Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" auf die Dauer von 12 Monaten erteilt wird.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) ist Staatsangehörige der Volksrepublik China, ist Han-Chinesin, ist konfessionslos, stammte aus der Stadt XXXX in der Provinz XXXX , reiste illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am 02.10.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Die BF begründete ihren Antrag in einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 04.10.2014 sowie in einer Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) am 07.10.2014 im Wesentlichen mit Problemen wegen ihres Gatten, der drogensüchtig sei, sowie mit finanziellen Nöten. Sie habe Ende September 2014 das Herkunftsland verlassen.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) vom 08.10.2014, Zl. 1032276805/140031114, wurde der Antrag auf internationalen Schutz der BF gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 100/2005 abgewiesen und ihr der Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Der BF wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach China zulässig sei. Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt III.).
Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.01.2016 mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.08.2016, Zl. W171 2013324-1/8E, in allen Spruchpunkten abgewiesen. Darin wurde u.a. festgestellt:
"Die BF geht in Österreich einer Beschäftigung nach, hat hier keine Verwandten, wohnt aber nach eigenen Angaben mit ihrem Lebensgefährten zusammen. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter. Alle Familienmitglieder leben in China. Sie leidet nicht an lebensbedrohlichen Krankheiten, steht im erwerbsfähigen Alter und hat Berufserfahrung. Sie ist arbeitsfähig, gesund und in der Lage, im Herkunftsstaat ihren notwendigen Unterhalt zu sichern. Als Fluchtgründe behauptete die BF in der Erstbefragung, von ihrem Ehemann misshandelt worden zu sein. In der Einvernahme gab sie wirtschaftliche Gründe für die Ausreise aus China an, da ihr Ehemann das ganze gemeinsame Vermögen für Drogenkonsum ausgebe. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist zu Recht davon ausgegangen, dass das Vorbringen der BF keine asylrelevanten Tatsachen enthielt."
1.2. Die BF ist trotz Rückkehrentscheidung illegal im Bundesgebiet verblieben. In einer Einvernahme beim Bundesamt am 07.03.2017 wurde die BF zur Feststellung ihrer Identität und Regelung der Ausreise befragt. Hinsichtlich eines Reisepasses brachte die BF vor, dass dieser ihr nach der Landung in Österreich abgenommen worden sei. Der BF wurde aufgetragen, sich mit ihrer Vertretungsbehörde in Verbindung zu setzen und für sich ein Heimreisezertifikat zu erlangen. Zu Angehörigen in China gab die BF an, dass ihre Eltern bereits verstorben seien, jedoch eine erwachsene Tochter in China lebe, mit der Sie regelmäßig telefonischen Kontakt pflege. In Österreich habe sie einen Freund, der österreichischer Staatsbürger sei, und gehe sie hier einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nach. Von der BF wurde zudem ein Konvolut an Befunden einer Krankenanstalt XXXX hinsichtlich der operativen Behandlung eines Tumors XXXX vorgelegt. Einem stationären Patientenbrief einer Krankenanstalt vom XXXX ist zu entnehmen, dass bei der BF am XXXX unter Verdacht auf XXXX eine Resektion/Extirpation der Raumforderung bei der BF vorgenommen worden sei, wobei ihr offenbar dabei auch Knochenplatten- und schrauben implantiert worden seien.
2.1. Am 19.04.2017 stellte die BF beim Bundesamt den gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK "Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens" gem. § 55 Abs. 1 AsylG 2005. Im Antragsformular führte sie im Wesentlichen aus, dass sie seit Jänner 2015 bis dato einer selbstständigen Erwerbstätigkeit als Prostituierte nachgehe, krankenversichert sei und in einer Lebensgemeinschaft mit einem namentlich genannten österreichischen Staatsangehörigen lebe. Dem Antrag beigelegt waren in Kopie eine Meldebestätigung der BF, eine Bestätigung über ein der BF zugesichertes Wohnrecht, eine Einkommensteuererklärung für das Jahr 2015, eine Krankenversicherungskarte, ein Ausweis gemäß § 2 Prostitutionsverordnung, eine Bestätigung einer Landespolizeidirektion über die erfolgte Meldung der BF über die beabsichtigte Prostitutionsausübung vom Jänner 2015, ein Vertrag zur Regelung einer Lebensgemeinschaft zwischen der BF und einen namentlich genannten österreichischen Staatsangehörigen vom 11.4.2017, eine Kursanmeldungen für einen Deutschkurs A1.1. sowie der bereits weiter oben angeführte stationäre Patientenbrief einer Krankenanstalt vom XXXX .
Mit Verbesserungsauftrag des Bundesamtes vom 19.04.2017 wurde die BF aufgefordert, ihren Antrag binnen vier Wochen in deutscher Sprache ausführlich schriftlich zu begründen sowie u.a. ein gültiges Reisedokument und eine Geburtsurkunde oder ein dieser gleichzuhaltendes Dokument der Behörde vorzulegen. Die BF wurde zudem darauf hingewiesen, dass bei Nichterfüllung des Verbesserungsauftrages ihr Antrag nach § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 zurückzuweisen sei.
In einem Schreiben der rechtsfreundlichen Vertreterin der BF vom 05.05.2017 wurde der Antrag im Wesentlichen mit dem mehrjährigen Aufenthalt der BF in Österreich, ihrer selbstständigen Erwerbstätigkeit, ihren Lebensgefährten sowie ihrer gesundheitlichen Situation im Zusammenhang mit der Entfernung eines Tumors XXXX im XXXX begründet. Bezüglich des geforderten Reisedokumentes sowie der Geburtsurkunde wurde ein Antrag gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV auf Heilung der Nichtvorlage der erforderlichen Dokumente gestellt, da die BF auftragsgemäß im Sinne des Verbesserungsauftrages das Generalkonsulat der VR China am XXXX aufgesucht habe, um für sich die Ausstellung eines Reisedokumentes sowie der Geburtsurkunde zu beantragen. Der BF sei jedoch die Ausstellung durch das Generalkonsulat abgelehnt worden und trotz ihrer Insistierung keine Bestätigung über die Verweigerung ausgestellt worden.
In einer Einvernahme beim Bundesamt am 18.07.2017 wurde die BF im Beisein eines Dolmetschers der chinesischen Sprache im Wesentlichen zu ihren familiären und privaten Verhältnissen im In- und Herkunftsland, dabei insbesondere zu ihrem Lebensgefährten sowie zu ihrem Besuch bei der chinesischen Vertretungsbehörde am XXXX befragt.
2.2. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes vom 15.09.2017 wurde der Antrag der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach China zulässig sei (Spruchpunkt II.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt III.). Der Antrag gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV vom 10.05.2017 wurde gemäß § 4 Abs. 2 AsylG-DV abgewiesen (Spruchpunkt IV.).
Darin wurde im Wesentlichen festgestellt, dass die Identität der BF nicht feststehe und sie trotz einer seit 25.08.2016 rechtskräftigen Rückkehrentscheidung das Bundesgebiet nicht verlassen habe. Beweiswürdigend wurde dazu ausgeführt, dass die BF keine Dokumente vorlegen habe können und sich die Feststellungen zu ihrem Aufenthalt in Österreich aufgrund des Akteninhaltes und ihrer beigebrachten Unterlagen ergeben. Zu Spruchpunkt I. wurde in der rechtlichen Begründung ausgeführt, dass die BF ihre Identität nicht nachweisen habe können und erhebliche Zweifel an ihren diesbezüglich getätigten Angaben zur Identität bestehen würden. Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung kam das Bundesamt unter Zugrundelegung der rechtlichen Beurteilung in einer Interessensabwägung nach Art. 8 MRK unter Zugrundelegung der Angaben der BF zum Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen der BF am Verbleib im Bundesgebiet überwiegen würden. Zur Abweisung des Antrages gemäß § 4 Abs. 2 AsylG-DV wurde in der rechtlichen Begründung ausgeführt, dass der Behörde bekannt sei, dass auf Verlangen einer chinesischen Staatsbürgerin sehr wohl Reisedokumente und Bestätigungen an der Vertretungsbehörde ausgestellt werden würden. Rein vor dem Bundesamt das Gegenteil zu behaupten reiche nicht aus und sei der Antrag sohin abzuweisen gewesen.
Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes vom 15.09.2017 wurde der BF eine namentlich genannte Organisation als Rechtsberatung amtswegig zur Seite gestellt.
2.3. Gegen den Bescheid wurde binnen offener Frist Beschwerde erhoben. Darin wurde im Wesentlichen darauf hingewiesen, dass die BF das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfülle, da sie über ein Sprachzertifikat auf dem Niveau A2 verfüge. Sie habe im Inland zahlreiche Freunde und Bekannte. Nach einem durchgehenden dreijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet könne ihr nicht jegliche Integrationsverfestigung abgesprochen werden. Die BF verfüge über keinerlei soziale Kontakte in China. Es wurde u.a. die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
2.4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 03.10.2019, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme der BF im Beisein ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin der chinesischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes, wobei das Bundesamt lediglich schriftlich die Abweisung der Beschwerde beantragte.
Hinsichtlich allfälliger chinesischer Reisedokumente erklärte die BF auf wiederholtes Nachfragen, sich nicht daran erinnern zu können, in Österreich die Ausstellung chinesischer Personaldokumente beantragt zu haben. Sie könne sich auch nicht daran erinnern, deswegen am XXXX beim Generalkonsulat der VR China gewesen zu sein. Dazu gab sie auf weiteres Nachfragen an, wegen eines Insultes Erinnerungslücken zu haben. Hinsichtlich ihres in China lebenden Gatten gab die BF ursprünglich an, geschieden zu sein, änderte auf Nachfragen ihre diesbezüglichen Angaben aber dann dahingehend, dass sie vor ihrer Ausreise nicht geschieden gewesen sei und ihr Gatte vielleicht inzwischen die Scheidung eingereicht habe. Sie habe keinen Kontakt zu ihrem Gatten. Sie habe aber von ihrer Tochter gehört, dass ihr Gatte wieder geheiratet habe oder eine Lebensgefährtin habe. Die BF lebe seit etwa fünf Jahren in einer Beziehung mit einem österreichischen Staatsangehörigen und wohne bei diesem drei bis vier Tage in der Woche. Sie gehe in Österreich einer Erwerbstätigkeit im Bereich Massage nach. Sie verdiene monatlich etwas über 1.000 ?. Sie beziehe keine staatlichen Leistungen und bezahle Krankenversicherung. Hinsichtlich ihrer Zukunftspläne befragt, gab sie an, ihren österreichischen Lebensgefährten heiraten zu wollen. Die BF habe eine A1 Deutschprüfung abgelegt und können einfache Sachen auf Deutsch sprechen. Sie verfüge über keine Berufsausbildung und habe in China als Näherin gearbeitet.
Die Verhandlung wurde auf Antrag der Rechtsvertretung der BF zur Befragung des österreichischen Lebensgefährten der BF als Zeugen auf den 11.10.2019 vertagt.
Mit Schreiben der Rechtsvertretung der BF vom 09.10.2019 wurde ausgeführt, dass die BF am XXXX am Schädel operiert worden sei, zwei Knochenplatten und Schrauben aus Titan, welche als Knochenersatz an ihrem Schädel dienen, erhalten habe und ein Tumor entfernt worden sei. Im XXXX sei bei der BF ein Schlaganfall (Hirnstamminfarkt) festgestellt worden, der aufgrund einer Schädigung XXXX zu Tage getreten sei. Dies habe zu weiteren Spezial-Untersuchungen sowie zu einem stationären Aufenthalt der BF im XXXX geführt. Im XXXX sei die BF XXXX u.a. wegen eines XXXX durch Scanning operiert worden. Er sei das Medikament XXXX (Bluthochdruck-Medikament) verordnet worden. Die BF zahle regelmäßig ihre Krankenversicherung. Dazu wurde weiters ausgeführt, dass die Behandlungskosten für die BF als schwer kranke Person in China ein exorbitantes Ausmaß erreichen würden, was sie unmittelbar der Armut und Not ausliefern würde. Nachdem sie von ihren Gatten geschieden sei und ihre Tochter erwachsen sei, fehle jeglicher Rückhalt, der sie in ihrer Situation in China abholen könnte. Demgegenüber bestehe in Österreich ein funktionierendes Familienleben mit ihrem Langzeitfreund und Lebensgefährten. Mit ihrem Lebensgefährten sei ein Vertrag zur Lebensgemeinschaft abgeschlossen worden, wobei dieser auch formell eine Patenschaftserklärung für die BF abgegeben haben. Die letztgenannten Dokumente sowie entsprechende Befunde waren dem Schreiben in Kopie beigefügt.
Mit Schreiben der Rechtsvertretung der BF vom 23.10.2019 wurde ein Arztbrief eines Facharztes für Neurologie vom XXXX 2019 nachgereicht, demzufolge bei der BF eine XXXX diagnostiziert wurden. Als Therapie wurde die Behandlung mit Medikamenten gegen XXXX sowie mit XXXX verordnet. Weiters wurden unbedingt neurologische Kontrollen, um ein Voranschreiten der XXXX zu monitiorisieren sowie die Vermeidung von jedweden Stress bzw. jedweder Belastung, um eine Verschlechterung der neuropsychiatrischen Erkrankungen zu verhindern, empfohlen.
Aufgrund einer ausgewiesenen Erkrankung des Zeugen wurde die Verhandlung erst am 06.02.2020 im Beisein der BF, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin der chinesischen Sprache fortgesetzt. In der Verhandlung wurde ihr österreichischer Lebensgefährte als Zeuge sowie die BF neuerlich befragt. Zu ihrem Gesundheitszustand brachte die BF vor, dass sie einen Kontrolltermin wegen einer Krebsoperation habe. Sie habe ein Implantat im Kopf, dies deshalb, weil der Krebs nur durch eine Öffnung der Schädeldecke entfernt werden habe können. Weiters sei vom Neurologen eine Psychotherapie empfohlen worden. Dazu brachte die Rechtsvertreterin der BF ergänzend vor, dass der postoperative Status der BF mit sich bringe, dass laufend Kontrollen stattfinden, wobei der Gesundheitszustand der BF sich nur aufgrund medikamentöser Gaben ( XXXX ) stabilisieren lasse. Die OP-Form durch Implantate sei ein Ergebnis einer im Westen entwickelten Operationsform, die in China nicht adäquat behandelt werden könne, so dass die laufende ärztliche Versorgung in Österreich erforderlich sei. Der unsichere Aufenthaltsstatus führe zu erhöhten Stressbelastungen und einem erhöhten Ablebensrisiko der BF. Die BF brachte weiters vor, dass sie von ihrer Tochter erfahren habe, dass ihr Gatte in China sich von ihr scheiden habe lassen und wieder geheiratet habe.
Der BF wurden im Anschluss aktuelle Länderinformationen zu ihrem Herkunftsland dargetan und ihr dazu für eine schriftliche Stellungnahme eine Frist von 14 Tagen eingeräumt.
In einer Stellungnahme der Rechtsvertretung der BF vom 13.03.2020 wurde im Zusammenhang mit der Behandlung der BF wegen eines Schlaganfalls und eines Tumors auf die Erforderlichkeit regelmäßiger Kontrollen im Krankenhaus sowie auf hinzugetretene Depressionen, Bluthochdruck und chronischen Stress aufgrund des unsicheren Aufenthaltsstatus hingewiesen. Weiters wurde auf eine Abfrage von Accord verwiesen, wonach die psychische Gesundheitsversorgung in China nur begrenzt zur Verfügung stehe, wobei erforderliche Medikamente wie jene gegen Depressionen in China nur von Psychiaterinnen verschrieben werden könnten und diese teilweise (über einen längeren Zeitraum) schwer zu bekommen und auch nicht erschwinglich seien. Der Zugang zu Gesprächstherapien sei zum Großteil eine noch größere Herausforderung. Die Versorgung der BF im Herkunftsland sei daher unzureichend. Im vorliegenden Fall mit dem bereits erwähnten Vorerkrankungen und erforderlichen Nachbehandlungen ebenso wie mit der psychischen Belastung wäre eine Abschiebung der BF und Trennung von ihrem Lebensgefährten nicht zielführend und nicht indiziert. Hinzu komme der derzeitige Ausbruch des Corona Virus, welcher den Gesundheitszustand der BF noch mehr beeinträchtigen würde. Sie befinde sich in regelmäßiger Behandlung und benötige diese auch, um ihren Gesundheitszustand stabilisieren zu können. Die BF Stelle wieder eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder ähnliches dar, könne sich selbst erhalten und lebe seit mehreren Jahren in einer Lebensgemeinschaft mit ihrem Lebensgefährten.
2.5. Laut einer Abfrage am Stichtag scheinen im Strafregister der Republik Österreich hinsichtlich der BF keine Verurteilungen auf.
Aus einem am Stichtag abgerufenen Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich (GVS) geht hervor, dass die BF nahezu keine Leistungen aus der Grundversorgung bezogen hat. Die BF ist laut entsprechendem Versicherungsauszug zum Stichtag seit Jänner 2015 laufend bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen krankenversichert.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1. Die BF ist Staatsangehörige der VR China. Ihre Identität steht nicht fest. Sie ist etwa im Oktober 2014 illegal ins Bundesgebiet eingereist, hat am 02.10.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, wobei das Verfahren rechtskräftig mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.08.2016, Zl. W171 2013324-1/8E, mit dem Ergebnis abgeschlossen wurde, dass der Antrag als unbegründet abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung gegen die BF ausgesprochen wurde.
Die BF ist trotz rechtskräftiger Rückkehrentscheidung illegal im Bundesgebiet verblieben und hat beim Bundesamt am 19.04.2017 den verfahrensgegenständlichen Antrag gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 gestellt.
Die unbescholtene BF hält sich seit über fünf Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Sie leidet gesundheitlich an teilweise schweren (Vor-)Erkrankungen im Kopf/Gehirnbereich XXXX ) und bedarf entsprechender medizinischer Kontrollen und Behandlungen. Sie ist grundsätzlich arbeitsfähig.
Sie hat im Herkunftsland die Schule besucht, verfügt über eine Schulausbildung und war im Herkunftsstaat als Näherin tätig. Im Herkunftsland hält sich zumindest eine erwachsene Tochter der BF auf, zu der Kontakt besteht.
Die BF hat nahezu keine Leistungen aus der Grundversorgung bzw. sonstige staatlichen Leistungen in Österreich bezogen, ist selbstständigen Erwerbstätigkeiten im Rotlichtmilieu nachgegangen, ist seit 2015 krankenversichert, wobei bei Erteilung eines Aufenthaltstitels von einer Selbsterhaltungsfähigkeit auszugehen sein wird.
Sie konnte keine abgeschlossene Deutschprüfung nachweisen, verfügt aber über entsprechende Grundkenntnisse und kann sich auf einfachem Niveau auf Deutsch verständigen.
Seit 2015 besteht eine Lebensgemeinschaft mit einem österreichischen Staatsangehörigen.
Ihr Vorbringen beim Bundesamt, sich vergeblich bei ihrer Vertretungsbehörde in Österreich um die Ausstellung von Personaldokumenten bemüht zu haben, hat sich als nicht glaubhaft erwiesen.
Im Übrigen werden die Ausführungen im Verfahrensgang der Entscheidung zugrunde gelegt.
2. Zur Situation in der VR China
Politische Lage
Die Volksrepublik China ist mit geschätzten 1,385 Milliarden Einwohnern (Stand Juli 2018) und einer Fläche von 9.596.960 km² der bevölkerungsreichste Staat der Welt (CIA 20.11.2019). China ist in 22 Provinzen, fünf Autonome Regionen der nationalen Minderheiten Tibet, Xinjiang, Innere Mongolei, Ningxia und Guangxi, sowie vier regierungsunmittelbare Städte (Peking,Shanghai, Tianjin, Chongqing) und zwei Sonderverwaltungsregionen (Hongkong, Macau)untergliedert (AA 3.2019a). Hongkong hat seit dem Souveränitätsübergang vom Vereinigten Königreich auf die Volksrepublik China zum 1. Juli 1997 den Status einer Sonderverwaltungsregion(Special Administrative Region - SAR). Grundlage für den Souveränitätsübergang ist die von den beiden Regierungschefs am 19. Dezember 1984 in Peking unterzeichnete ?Gemeinsame Erklärung'. Nach dem dort verankerten Prinzip 'Ein Land, zwei Systeme' kann Hongkong für 50 Jahre sein marktwirtschaftliches Wirtschaftssystem aufrechterhalten und genießt einen hohen Grad an politischer und rechtlicher Autonomie. Zum 1. Juli 1997 trat auch das Hongkonger "Basic Law" in Kraft und löste die koloniale Verfassung ab. Macau wurde nach einem ähnlichen Abkommen am 20. Dezember 1999 von Portugal an die Volksrepublik China zurückgegeben. Die Vereinigung mit Taiwan zur "Wiederherstellung der nationalen territorialen Integrität" bleibt eines der erklärten Kernziele chinesischer Politik (AA 3.2019a).Gemäß ihrer Verfassung ist die Volksrepublik China ein "sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht" (AA 3.2019a). China ist ein autoritärer Staat, in dem die Kommunistische Partei (KP) verfassungsmäßig die höchste Autorität ist. Beinahe alle hohen Positionen in der Regierung sowie im Sicherheitsapparat werden von Mitgliedern der KP gehalten(USDOS 13.3.2019). Die KP ist die allbestimmende politische Kraft. Der 19. Parteitag hat im Oktober 2017 ein neues Zentralkomitee (ZK) gewählt, dem alle wichtigen Entscheidungsträger in Staat, Regierung, Armee und Gesellschaft angehören. Xi Jinping ist seit 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. Das Zentralkomitee wiederum wählt das Politbüro (25 Mitglieder)und den Ständigen Ausschuss des Politbüros (derzeit 7 Mitglieder). Letzteres ist das ranghöchste Parteiorgan und gibt die Leitlinien der Politik vor. Die Personalvorschläge für alle diese Gremienwerden zuvor durch die Parteiführung erarbeitet, wobei über das genaue Verfahren und dessen Grad der Formalisierung keine Klarheit besteht (AA 3.2019a vgl. USDOS 13.3.2019).Xi Jinping ist zudem Vorsitzender der Zentralen Militärkommission (ZMK) der Kommunistischen Partei Chinas und Oberkommandierender der Streitkräfte, die seit 1997 direkt der Kommunistischen Partei Chinas unterstellt sind. Der 2018 erneut gewählte Ministerpräsident Li Keqiang leitet den Staatsrat, die eigentliche Regierung. Er wird von einem "inneren Kabinett" aus. vier Stellvertretenden Ministerpräsidenten und fünf Staatsräten unterstützt. Der Staatsrat fungiert als Exekutive und höchstes Organ der staatlichen Verwaltung (AA 3.2019a).Der 3.000 Mitglieder zählende Nationale Volkskongress (NVK) wird durch subnationale Kongresse für fünf Jahre gewählt (FH 2.2019a). Er wählt formell den Staatspräsidenten für fünf Jahre und bestätigt den Premierminister, der vom Präsidenten nominiert wird (FH 1.2017a). Der Nationale Volkskongress (NVK) ist formal das gesetzgebende Organ der VR China. Er tagt als Plenum einmal jährlich und beschließt mit einer Legislaturperiode von fünf Jahren nationale Gesetze (LVAk9.2019). Der NVK ist jedoch vor allem eine symbolische Einrichtung (FH 1.2017a). Nur der Ständige Ausschuss trifft sich regelmäßig, der NVK kommt einmal pro Jahr für zwei Wochenzusammen, um die vorgeschlagene Gesetzgebung anzunehmen (FH 2.2019a). Eine parlamentarische Opposition zur KPCh gibt es nicht (AA 14.12.2018). Es gibt weitere acht kleine "demokratische Parteien", die auch im Nationalen Volkskongress, aber vor allem in der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes vertreten sind. Deren Vorsitzender ist Wang Yang.Das Gremium unter Führung der KP Chinas hat lediglich beratende Funktion (AA 3.2019a). Der Nationale Volkskongress hat mit seiner ersten Sitzung der 13. Legislaturperiode (5. - 20. März2018) Xi Jinping erneut zum Staatspräsidenten gewählt (AA 3.2019a).Xi Jinping ist Vorsitzender der Zentralen Militärkommission (ZMK) der Kommunistischen Partei Chinas und Oberkommandierender der Streitkräfte (AA 3.2019a). Er hält damit die drei einflussreichsten Positionen (USDOS 13.3.2019). Präsident Xi Jinping hat seine Absicht bekundet, auf unbestimmte Zeit zu regieren, nachdem die chinesische Legislative im März 2018 die Verfassung geändert hatte, um die Amtszeit für die Präsidentschaft zu verkürzen (HRW 17.1.2019). Vorrangige Ziele der chinesischen Führung sind die Entwicklung des "Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter" und die Verwirklichung des "chinesischen Traums vom großartigen Wiederaufstieg der chinesischen Nation". Die Wahrung der politischen und sozialen Stabilität unter Führung der Parteigilt als wichtigstes Ziel der KP Chinas. Die strenge Führung durch die Partei soll dabei in allen Bereichen der Gesellschaft durchgesetzt werden. Gleichzeitig laufen Kampagnen zur inneren Reform und Stärkung der Partei. Schwerpunkte sind der Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft sowie die Stärkung der zentralen Kontrolle der Parteiführung. Die von Deng Xiaoping im Jahr 1978 verkündete Ära von "Reform und Öffnung" hat China eine lange Phase anhaltend hohen Wachstums gebracht. Vor dem 40-jährigen Jubiläum von "Reform und Öffnung" im Dezember 2018 scheinen die wirtschaftlichen Reformanstrengungen jedoch weitgehend zum Erliegen gekommen zu sein. Angesichts der dramatischen Herausforderungen durch den demografischen Wandel, die Umweltbelastungen und die weiter zunehmende soziale Ungleichheit erscheint eine Fortsetzung der Reformagenda umso dringlicher. (AA 3.2019a).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (3.2019a): China - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/china-node/-/200846, Zugriff 26.9.2019
- AA - Auswärtiges Amt (14.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Volksrepublik China, https://www.ecoi.net/en/file/local/1456146/4598_1547112750_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-volksrepublik-china-stand-oktober-2018-14-12-2018.pdf, Zugriff 6.12.2019
- CIA - Central Intelligence Agency (20.11.2019): The World Factbook - China, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ch.html, Zugriff 20.11.2019
- FH - Freedom House (2.2019a): Freedom in the World 2019 - China, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002611.html, Zugriff 21.10.2019
- FH - Freedom House (1.2017a): Freedom in the World 2017 - China, http://www.ecoi.net/local_link/339947/483077_de.html, Zugriff 21.10.2019
- HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 - China, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002248.html, Zugriff 22.10.2019
- LVAk - Landesverteidigungsakademie (9.2019): Buchas, Peter/Feichtinger, Walter/Vogl, Doris (Hg.): Chinas Grand Strategy im Wandel, Militärwissenschaftliche Publikationsreihe der Landesverteidigungsakademie, 1.2019, S.190
- USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Reports on Human Rights Practices 2016 - China (includes Tibet, Hong Kong, and Macau),https://www.ecoi.net/de/dokument/2004237.html, Zugriff 14.10.2019
Sicherheitslage
Proteste auf lokaler Ebene haben in ganz China auch 2018 zugenommen. Sie richten sich vor allem gegen steigende Arbeitslosigkeit und Vorenthaltung von Löhnen, hauptsächlich von Wanderarbeitern. Bei den bäuerlichen Protesten auf dem Land geht es meistens um die (entschädigungslose oder unzureichend entschädigte) Enteignung von Ländereien oder die chemische Verseuchung der Felder durch Industriebetriebe oder Umweltkatastrophen. Nachdem die Anzahl sogenannter "Massenzwischenfälle" über Jahre hinweg mit großer Geschwindigkeit zunahm, werden hierzu seit 2008 (> 200.000 Proteste) keine Statistiken mehr veröffentlicht. Zwei Aktivisten, die seit 2013 durch eigene, über Twitter veröffentlichte Statistiken diese Lücke zu schließen versuchten, wurden im Juni 2016 verhaftet, einer von ihnen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Die lokalen Behörden verfolgen in Reaktion zumeist eine Mischstrategie aus engmaschiger Kontrolle, die ein Übergreifen nach außen verhindern soll, gepaart mit einem zumindest partiellen Eingehen auf die Anliegen (USDOS 13.3.2019; vgl. AA 14.12.2018)
China hat anhand der Vorkommnisse der späten 1980er Jahre gelernt, dass soziale Spannungen zu einer ernsthaften Gefährdung des Systems führen können. Infolgedessen wurde ein engmaschiges Kontroll- und Regulierungssystem (z.B. Social Credit System) sowohl in urbanen Kerngebieten als auch in den peripheren Siedlungsgebieten der Minderheiten aufgebaut (LVAk 9.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (14.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Volksrepublik China, https://www.ecoi.net/en/file/local/1456146/4598_1547112750_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-volksrepublik-china-stand-oktober-2018-14-12-2018.pdf, Zugriff 6.12.2019
- LVAk - Landesverteidigungsakademie (9.2019): Buchas, Peter/Feichtinger, Walter/Vogl, Doris (Hg.): Chinas Grand Strategy im Wandel, Militärwissenschaftliche Publikationsreihe der Landesverteidigungsakademie, 1.2019, S.228
- USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Reports on Human Rights Practices 2016 - China (includes Tibet, Hong Kong, and Macau), https://www.ecoi.net/de/dokument/2004237.html, Zugriff 14.10.2019
Rechtsschutz / Justizwesen
Die Führung unternimmt Anstrengungen, das Rechtssystem auszubauen (AA 14.12.2018). Dem steht jedoch der Anspruch der Kommunistischen Partei auf ungeteilte Macht gegenüber (FH 2.2019a). Gewaltenteilung und Mehrparteiendemokratie werden abgelehnt. Von der Verwirklichung rechtsstaatlicher Normen und einem Verfassungsstaat ist China noch weit entfernt. Im Alltag sind viele Chinesen weiterhin mit Willkür und Rechtlosigkeit konfrontiert, neben sozialer Not eine der Hauptquellen von Unzufriedenheit in der chinesischen Gesellschaft (AA 3.2019a). Eine unabhängige Strafjustiz existiert in China folglich nicht. Strafrichter und Staatsanwälte unterliegen der politischen Kontrolle von staatlichen Stellen und Parteigremien (AA 14.12.2019). Die Kontrolle der Gerichte durch politische Institutionen ist ein verfassungsrechtlich verankertes Prinzip (ÖB 11.2019). Die KP dominiert das Rechtssystem auf allen Ebenen und erlaubt Parteifunktionären, Urteile und Verurteilungen zu beeinflussen. Die Aufsicht der KP zeigt sich besonders in politisch heiklen Fällen durch die Anwendung sogenannter "Leitlinien". Während Bürger in nicht-politischen Fällen ein gewisses Maß an fairer Entscheidung erwarten können, unterliegen solche, die politisch sensible Fragen oder die Interessen mächtiger Gruppen berühren, diesen "Leitlinien" der politisch-juristischen Ausschüsse (FH 2.2019a). Seit dem vierten Jahresplenum des 18. Zentralkomitees 2014 betont die Führung die Rolle des Rechts und ergriff Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität gerichtlicher Verfahren und zum Aufbau eines "sozialistisches Rechtssystem chinesischer Prägung" unter dem Motto "den Gesetzen entsprechend das Land regieren". Echte Rechtsstaatlichkeit im Sinne der Achtung des Legalitätsprinzips in der Verwaltung und der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit wird dabei aber dezidiert abgelehnt. Das in den Beschlüssen reflektierte Verständnis von Recht soll die Macht des Staates, d.h. der Kommunistischen Partei (KP), keinesfalls einschränken, sondern vielmehr stärken (ÖB 11.2019).
Die wichtigste Einrichtung der KP zur Kontrolle des Rechtssystems ist die Kommission des Zentralkomitees für Politik und Recht (ZKPR). Das ZKPR ist in unterschiedlichen Unter-Formaten auf jeder gerichtlichen Ebene verankert, wobei die jeweiligen Ebenen der übergeordneten Ebene verantwortlich sind. Die Macht des Komitees, das auf allen Ebenen auf Verfahren Einfluss nimmt, wurde auch seit den Beschlüssen des Vierten Plenums der KP im Oktober 2014 bewusst nicht angetastet (ÖB 11.2019).
Die Richter-Ernennung erfolgt auf Provinzebene durch Rechtskomitees, welchen hochrangige Partei-Funktionäre angehören und welche von einem KP-Inspektorat überwacht werden. Richter sind verpflichtet, über Einflussnahme seitens lokaler Politiker auf Verfahren Bericht zu erstatten. Es ist für Richter schwierig, zwischen "Unabhängigkeit" von lokalen politischen Einflüssen, und Loyalität zur KP-Linie (welche regelmäßig miteinander und mit einflussreichen Wirtschafts- und Privatinteressen verbunden sind) zu navigieren. Trotz laufender Reformbemühungen gibt es - vor allem auf unterer Gerichtsebene - noch immer einen Mangel an gut ausgebildeten Richtern (ÖB 11.2019).
Ein umfassender Regelungsrahmen unterhalb der gesetzlichen Ebene soll "Fehlverhalten" von Justizbeamten und Staatsanwälten in juristischen Prozessen unterbinden. Das Oberste Volksgericht (OVG) und die Oberste Staatsanwaltschaft haben wiederholt gefordert, "Falschurteile" der Gerichte zu verhindern, die Richterschaft an das Verfassungsverbot von Folter und anderen Zwangsmaßnahmen bei Vernehmungen zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass Verurteilungen sich nicht allein auf Geständnisse stützen dürfen. Die Regierung widmet zudem sowohl der juristischen Ausbildung als auch der institutionellen Stärkung von Gerichten und Staatsanwaltschaften seit mehreren Jahren verstärkte Aufmerksamkeit (AA 14.12.2018).
Das umstrittene System der "Umerziehung durch Arbeit" ("laojiao") für Drogenabhängige wurde aufgrund entsprechender Beschlüsse des 3. Plenums des Zentralkomitees (ZK) im November 2013 offiziell am 28. Dezember 2013 abgeschafft. Es liegen jedoch Erkenntnisse vor, wonach die entsprechenden Haftanstalten lediglich in "legal education centers" umbenannt wurden (AA 14.12.2018).
Mit der letzten großen Novellierung 2013 sieht die Strafprozessordnung genaue Regeln für Festnahmen vor, führt die "Hochachtung und der Schutz der Menschenrechte" an und verbietet Folter und Bedrohung bzw. Anwendung anderer illegaler Methoden zur Beweisermittlung. Es besteht jedoch eine teilweise erhebliche Divergenz zwischen den Rechtsvorschriften und deren Umsetzung, und werden diese zum Zwecke der Unterdrückung von politisch unliebsamen Personen instrumentalisiert. Laut Strafprozessordnung müssen auch im Falle einer Festnahme wegen Terrorismus, der Gefährdung der Staatssicherheit oder der schwerwiegenden Korruption die Angehörigen von in Untersuchungshaft sitzenden Personen innerhalb von 24 Stunden über die Festnahme informiert werden, nicht jedoch über den Grund der Festnahme oder über den Aufenthaltsort. Zudem besteht diese Informationspflicht nicht, wenn durch diese Information die Ermittlungen behindert würden - in diesen Fällen müssen Angehörige erst nach 37 Tagen informiert werden. Was eine "Behinderung der Ermittlung" bedeutet, liegt im Ermessen der Polizei, es gibt kein Rechtsmittel dagegen. Da Verdächtige sich formell in Untersuchungshaft befinden, muss der Ort der Festhaltung laut Gesetz auch in diesen Fällen eine offizielle Einrichtung sein. Das Strafprozessgesetz sieht zudem vor, dass Verdächtige, die die staatliche Sicherheit gefährden, an einem "designierten Ort" bis zu 6 Monate unter "Hausarrest" gestellt werden können. Dieser Aufenthaltsort kann auch außerhalb offizieller Einrichtungen liegen. Diese Möglichkeit wurde mit der Strafprozessnovelle 2012 eingeführt und von Rechtsexperten wie dem Rapporteur der UN-Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances wegen des inhärenten Folterrisikos als völkerrechtswidrig kritisiert (ÖB 11.2019).
Die Staatsorgane greifen verstärkt auf den "Hausarrest an einem festgelegten Ort" zurück - eine Form der geheimen Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt, die es der Polizei erlaubt, eine Person für die Dauer von bis zu sechs Monaten außerhalb des formellen Systems, das die Inhaftierung von Personen regelt, und ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand der eigenen Wahl, zu Familienangehörigen oder anderen Personen der Außenwelt festzuhalten. Dadurch wurden diese Personen der Gefahr ausgesetzt, gefoltert oder anderweitig misshandelt zu werden. Diese Inhaftierungspraxis dient dazu, die Tätigkeit von Menschenrechtsverteidigern - einschließlich der von Rechtsanwälten, politisch engagierten Bürgern und Angehörigen von Religionsgemeinschaften - zu unterbinden (ÖB 11.2019; vgl. AA 14.12.2018, AI 22.2.2018).
Im Zusammenhang mit verwaltungsstrafrechtlich bewehrten rechtswidrigen Handlungen kann die Polizei zudem "Verwaltungsstrafen" verhängen. Diese Strafen reichen von Ermahnungen über Geldbußen bis hin zu einer "Verwaltungshaft" (ohne richterliche Entscheidung) von bis zu 15 Tagen. Der Aufenthalt in den offiziell nicht existenten "schwarzen Gefängnissen" kann zwischen wenigen Tagen und in einigen Fällen langjährigen Haftaufenthalten variieren (AA 14.12.2018).
Das am 1. Januar 2013 in Kraft getretene revidierte Strafverfahrensgesetz verbessert vor allem die Stellung des Verdächtigen/Angeklagten und des Verteidigers im Strafprozess; die Umsetzung steht aber in der durch Behördenwillkür und Intransparenz geprägten Praxis in weiten Teilen noch aus. Auch der Zeugenschutz wird gestärkt. Chinesische Experten gehen davon aus, dass die Durchsetzung dieser Regeln viele Jahre erfordern wird (AA 14.12.2018).
Seit 2014 wurden schrittweise Reformen zur Verbesserung der Justizleistung unter Wahrung der Parteivormachtstellung durchgeführt. Die Änderungen konzentrierten sich auf die Erhöhung der Transparenz, Professionalität und Autonomie gegenüber den lokalen Behörden (FH 2.2019a).
Das chinesische Strafgesetz hat die früher festgeschriebenen "konterrevolutionären Straftaten" abgeschafft und im Wesentlichen durch "Straftaten, welche die Sicherheit des Staates gefährden" (Art. 102-114 chin. StGB) ersetzt. Danach können vor allem Personen bestraft werden, die einen politischen Umsturz/Separatismus anstreben oder das Ansehen der VR China beeinträchtigen. Gerade dieser Teil des Strafgesetzes fällt durch eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe auf (AA 14.12.2018). Die Regierung hat weitere Gesetze zur nationalen Sicherheit ausgearbeitet und verabschieden lassen, die eine ernste Gefahr für den Schutz der Menschenrechte darstellen. Das massive landesweite Vorgehen gegen Menschenrechtsanwälte und politisch engagierte Bürger hielt das ganze Jahr 2017 über an (AI 22.2.2018). Prozesse, bei denen die Anklage auf Terrorismus oder "Verrat von Staatsgeheimnissen" lautet, werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Was ein Staatsgeheimnis ist, kann nach chinesischer Gesetzeslage auch rückwirkend festgelegt werden. Angeklagte werden in diesen Prozessen weiterhin in erheblichem Umfang in der Wahrnehmung ihrer Rechte beschränkt. Unter anderem wird dem Beschuldigten meist nicht erlaubt, Verteidiger seiner Wahl zu beauftragen; nur in seltenen Ausnahmefällen wird vom Gericht überhaupt eine Verteidigung bestellt (AA 14.12.2018).
Auch 2018 setzten sich die Übergriffe der Behörden auf Menschenrechtsanwälte das ganze Jahr hindurch mit Verhaftungen und strafrechtlicher Verfolgung fort (FH 2.2019a). Anwälte, Mitarbeiter von Kanzleien und Aktivisten, droht bei öffentlicher Kritik am System Festnahme und Haft (AI 1.10.2019; vgl. ZO 29.1.2019, DP 19.1.2018). Von Schikanösen Maßnahmen können auch Familienangehörige betroffen sein (AI 1.10.2019; vgl. TAZ 29.3.2016).
Seit der offiziellen Abschaffung des Systems der "Umerziehung durch Arbeit" werden Menschenrechtsaktivisten nicht mehr in administrativer Haft angehalten, sondern systematisch auf Basis von Strafrechtstatbeständen wie Staatsgefährdung, Separatismus, Volksverhetzung, oder gemeiner Vergehen oder Verbrechen verurteilt, womit der Anschein der Rechtsstaatlichkeit erweckt werden soll. Aufgrund der vagen Tatbestände, des Zusammenhalts der einzelnen Institutionen und des Mangels an unabhängiger engagierter anwaltlicher Vertretung, kann ein strafrechtlich relevanter Sachverhalt relativ leicht "geschaffen" werden (ÖB 11.2019). Häufig wurden Anklagen wegen "Untergrabung der staatlichen Ordnung", "Anstiftung zum Separatismus" oder "Terrorismus", "Anstiftung zu Subversion" oder "Weitergabe von Staatsgeheimnissen", wie auch "Streitsucht und Unruhestiftung" erhoben und langjährige Gefängnisstrafen verhängt (ÖB 11.2019; vgl. AI 22.2.2018).
Wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz wählen viele Betroffene von Behördenwillkür den Weg der Petition bei einer übergeordneten Behörde (z.B. Provinz- oder Zentralregierung). Petitionen von Bürgern gegen Rechtsbrüche lokaler Kader in den Provinzen nehmen zu. Chinesischen Zeitungsberichten zufolge werden pro Jahr landesweit ca. 10 Millionen Eingaben [Petente] eingereicht. Petenten, die Vergehen von lokalen Behörden und Kadern anzeigen wollen, werden häufig von angeheuerten Schlägertrupps aufgegriffen und ohne Kontakt zur Außenwelt in Gefängnissen festgehalten. Diese Art des Verschwindenlassens ist eine weit verbreitete, von der Regierung aber stets verleugnete Methode, um unliebsame Personen aus dem Verkehr zu ziehen. Zwischen Februar und April 2014 wurden verschiedene Reformen des Petitionssystems verabschiedet, die eine schnellere Bearbeitung und Umstellung auf mehr Online-Plattformen beinhaltet. Das 4. Plenum des Zentralkomitees der KP hat im Oktober 2014 weitere Schritte zur Regelung des Petitionswesens getroffen, deren Umsetzung aber 2018 noch aussteht (AA 14.12.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (3.2019a): China - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/China/Innenpolitik_node.html#doc334570bodyText5, Zugriff 27.9.2019
- AA - Auswärtiges Amt (14.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Volksrepublik China, https://www.ecoi.net/en/file/local/1456146/4598_1547112750_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-volksrepublik-china-stand-oktober-2018-14-12-2018.pdf, Zugriff 6.12.2019
- AI - Amnesty International (1.10.2019): Sippenhaft in China, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/china-sippenhaft-china, Zugriff 20.11.2019
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - China, https://www.ecoi.net/de/dokument/1424999.html, Zugriff am 23.10.2019
- DP - Die Presse (19.1.2018): Haft für Anwalt: China setzt Verfolgungswelle gegen Kritiker fort, https://www.diepresse.com/5356720/haft-fur-anwalt-china-setzt-verfolgungswelle-gegen-kritiker-fort, Zugriff 20.11.2019
- FH - Freedom House (2.2019a): Freedom in the World 2019 - China, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002611.html, Zugriff 21.10.2019
- ÖB Peking (11.2019): Asylländerbericht Volksrepublik China
- TAZ - Die Tageszeitung (29.3.2016): Peking setzt auf Sippenhaft, https://taz.de/Neue-Stufe-der-Repression-in-China/!5291032/, Zugriff 20.11.2019
- ZO - Zeit Online (29.1.2019): Bürgerrechtsanwalt zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-01/tianjin-buergerrechtsanwalt-china-viereinhalb-jahre-haft, Zugriff 21.10.2019
Sicherheitsbehörden
Zivile Behörden haben die Kontrolle über Militär- und Sicherheitskräfte (USDOS 13.3.2019). Die Zentrale Militärkommission (ZMK) der Partei leitet die Streitkräfte des Landes (AA 3.2019a). Xi Jinping, der Vorsitzende der ZMK der Kommunistischen Partei Chinas, ist Oberkommandierender der Streitkräfte, welche seit 1997 direkt der Kommunistischen Partei Chinas unterstellt sind (AA 3.2018a). Die Ausgaben für die innere Sicherheit sind in allen Provinzen und Regionen im Zeitraum von 2007 bis 2016 um 215 Prozent angestiegen und erhöhten sich 2018 insbesondere in sensiblen Minderheitenregionen wie Xinjiang und Tibet weiter (DFAT 3.10.2019).
Sicherheitsbehörden sind das Ministerium für Staatssicherheit, das Ministerium für Öffentliche Sicherheit, und die Bewaffnete Volkspolizei (BVP) der Volksbefreiungsarmee. Das Ministerium für Staatssicherheit soll vor Staatsfeinden, Spionen und konterrevolutionären Aktivitäten zur Sabotage oder dem Sturz des chinesischen sozialistischen Systems schützen. In die Zuständigkeit dieses Ministeriums fallen auch der Inlands- und Auslandsgeheimdienst. Die BVP ist in 45 Divisionen unterteilt, bestehend aus Innensicherheitspolizei, Grenzüberwachung, Regierungs- und Botschaftsbewachung, sowie Funk- und Kommunikationsspezialisten. Ein wesentlicher Anteil der in den letzten Jahren vorgenommenen Truppenreduktionen in der Volksbefreiungsarmee war in Wahrheit eine Umschichtung von den Linientruppen zur BVP. Darüber hinaus beschäftigen zahlreiche lokale Kader u.a. entlassene Militärangehörige in paramilitärischen Schlägertrupps. Diese Banden gehen häufig bei Zwangsaussiedlung im Zuge von Immobilienspekulation durchaus auch im Zusammenspiel mit der BVP gegen Zivilisten vor. Das Ministerium für Öffentliche Sicherheit beaufsichtigt alle innerstaatlichen Aktivitäten der zivilen Sicherheitsbehörden (außer derjenigen, die in die Zuständigkeit des Staatssicherheitsministeriums fallen), sowie die BVP. Konkret umfassen seine Aufgaben innere Sicherheit, Wirtschaft und Kommunikationssicherheit, neben der Zuständigkeit für Polizeieinsätze und Gefängnisverwaltung. Die Organisationseinheit auf niedrigster Ebene sind die lokalen Polizeikommissariate, die für den alltäglichen Umgang mit der Bevölkerung verantwortlich sind und die Aufgaben von Polizeistationen erfüllen (ÖB 11.2019).
Im Juni 2017 wurde mit dem Aufklärungsgesetz ("Intelligence Law", 2017; geändert 2018), durch das Ständige Komitee des Nationalen Volkskongresses Chinas, ein neues Gesetz erlassen, welches über die staatlichen Sicherheitsbehörden hinaus jedes einzelne Mitglied der chinesischen Gesellschaft aufruft, zur nationalen Aufklärungsarbeit beizutragen und nachrichtendienstlich relevante Informationen über Dritte, die an Aktivitäten beteiligt sind, welche der nationalen Sicherheit Chinas oder seinen Interessen schaden können, an die Behörden weiterzugeben (DFAT 3.10.2019). Darüber hinaus besteht ein enges Netz an lokalen Partei-Büros welche mittels freiwilliger "Blockwarte" die Bewegungen der Bewohner einzelner Viertel überwachen und mit der Polizei zusammenarbeiten (ÖB 11.2019).
Die Behörde für Staatssicherheit kann seit Mitte April 2017 Beträge zwischen 10.000 und 500.000 Yuan (etwa 68.000 Euro) für nützliche Hinweise an Informanten auszahlen, welche durch ihre Mitarbeit bei der Enttarnung von ausländischen Spionen helfen. Informationen können über eine speziell eingerichtete Hotline, Briefe oder bei einem persönlichen Besuch bei der Behörde gegeben werden. So sich die Hinweise als zweckdienlichen herausstellen, soll der Informant das Geld erhalten (FAZ 11.4.2017).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (3.2019a): China - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/China/Innenpolitik_node.html%20-%20doc334570bodyText5, Zugriff 27.9.2019
- AA - Auswärtiges Amt (14.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Volksrepublik China, https://www.ecoi.net/en/file/local/1456146/4598_1547112750_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-volksrepublik-china-stand-oktober-2018-14-12-2018.pdf, Zugriff 6.12.2019
- DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (3.10.2019): DFAT Country Information Report China, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019379/country-information-report-china.pdf, Zugriff 22.11.2019
- FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.4.2017): Peking belohnt Bürger für Enttarnung ausländischer Spione, http://www.faz.net/aktuell/politik/china-bezahlt-buerger-fuer-enttarnung-auslaendischer-spione-14967307.html, Zugriff 21.10.2019
- ÖB Peking (11.2019): Asylländerbericht Volksrepublik China
- USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Reports on Human Rights Practices 2016 - China (includes Tibet, Hong Kong, and Macau), https://www.ecoi.net/de/dokument/2004237.html, Zugriff 14.10.2019
Folter und unmenschliche Behandlung
China ratifizierte bereits 1988 die UN-Konvention gegen Folter. Nach Art. 247 und 248 StGB wird Folter zur Erzwingung eines Geständnisses oder zu anderen Zwecken in schweren Fällen mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe, in besonders schweren Fällen mit bis zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe oder Todesstrafe geahndet (AA 14.12.2018). In den letzten Jahren wurden außerdem einige Verordnungen erlassen, die formell für Tatverdächtige im Ermittlungsverfahren einen besseren Schutz vor Folter bieten sollen. Ein großes Problem bleibt jedoch die mangelnde Umsetzung dieser Rechtsinstrumente, die Sicherheitsbehörden genießen weiterhin auch aufgrund des Mangels an Kontrolle und Transparenz einen großen Handlungsspielraum. Sicherheitskräfte setzen sich routinemäßig über rechtliche Schutzbestimmungen hinweg. Für die Polizei stellt Straflosigkeit im Falle von Brutalität und bei verdächtigen Todesfällen in Gewahrsam die Norm dar (ÖB 11.2019; vgl. FH 2.2019a).
Menschenrechtsanwälte äußern Besorgnis darüber, dass Rechtsanwälte und Aktivisten weiterhin nach Inhaftierung verschiedenen Formen von Folter, Misshandlung oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind. Angehörige der ethnischen Minderheit der Uiguren berichten von systematischer Folter und anderer erniedrigender Behandlung durch im Strafvollzug und in den Internierungslagern beschäftigte Beamte (USDOS 13.3.2019).
Die chinesische Führung erklärte am 4. Parteiplenum 2014 zum Ziel, die Rechtsstaatlichkeit zu verbessern und Folter, Misshandlungen und Missstände in der Justiz zu verhindern. Gleichzeitig wird radikal gegen unabhängige Rechtsanwälte, Menschenrechtsverteidiger, und Medien vorgegangen, sodass das Ziel einer Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt wird. Neben politischen Absichtserklärungen und einigen wenigen "Vorzeigefällen", in denen Fehlurteile - etwa nach vollzogener Todesstrafe posthum - revidiert wurden, oder einzelne Polizisten nach tödlicher Folter (und öffentlicher Empörung) entlassen werden, ist jedoch nicht bekannt, dass strukturelle Maßnahmen getroffen werden, um das Risiko von Folter und Misshandlungen zu vermindern (ÖB 11.2019; vgl. AI 22.2.2018).
Das revidierte Strafverfahrensrecht verbietet die Verwendung von Geständnissen und Zeugenaussagen, die unter Folter oder anderweitig mit illegalen Mitteln zustande gekommen sind (neuer Art. 53), sowie sonstiger illegal erlangter Beweismittel (Art. 54) im Strafprozess. Trotzdem soll Folter in der Untersuchungshaft häufiger vorkommen als in regulären Gefängnissen (AA 14.12.2018). Die Anwendung von Folter zur Erzwingung von Geständnissen ist nach wie vor weit verbreitet und wird eingesetzt, um Geständnisse zu erhalten oder politische und religiöse Dissidenten zu zwingen, ihre Überzeugungen zu widerrufen (FH 2.2019a). Von Medien, Menschenrechtsgruppen, Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft und Uiguren wird über die Anwendung von Gewalt und Folter gegen Uiguren in Umerziehungszentren berichtet (DFAT 3.9.2019).
Soweit die chinesische Regierung und die staatlich gelenkte Presse Folterfälle einräumen, stellen sie diese als vereinzelte Übergriffe "unterer Amtsträger" dar, gegen die man energisch vorgehe (AA 14.12.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (14.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Volksrepublik China, https://www.ecoi.net/en/file/local/1456146/4598_1547112750_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-volksrepublik-china-stand-oktober-2018-14-12-2018.pdf, Zugriff 6.12.2019
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - China, https://www.ecoi.net/de/dokument/1424999.html, Zugriff am 23.10.2019
- DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (3.10.2019): DFAT Country Information Report China, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019379/country-information-report-china.pdf, Zugriff 22.11.2019
- FH - Freedom House (2.2019a): Freedom in the World 2019 - China, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002611.html, Zugriff 21.10.2019
- ÖB Peking (11.2019): Asylländerbericht Volksrepublik China
- USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Reports on Human Rights Practices 2016 - China (includes Tibet, Hong Kong, and Macau), https://www.ecoi.net/de/dokument/2004237.html, Zugriff 14.10.2019
Korruption
Korruption stellt nach wie vor ein großes Problem im Land dar (USDOS 13.3.2019). China scheint im Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index) von Transparency International (TI) für das Jahr 2018 mit einer Bewertung von 39 (von 100) (0 sehr korrupt, 100 kaum korrupt) auf dem 87. Rang von 180 Staaten auf (TI 2019). 2017 wurde China mit 41 Punkten (Rang 77 von 180 Staaten) bewertet (TI 2018). Trotz diverser Anti-Korruptionsmaßnahmen bewirken Korruption und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes, nach wie vor deutliche Zeichen von Unzufriedenheit in der Bevölkerung (LVAk 9.2019). Die weitest verbreiteten Formen von Korruption in China sind Bestechung, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Günstlingswirtschaft durch Regierungsvertreter. Korruption, politische Einmischung und Vermittlungsleistungen sind beim Erwerb öffentlicher Dienstleistungen und im Umgang mit dem Rechtssystem üblich (DFAT 3.10.2019). Gemäß der Auswertung des Globalen Korruptions-Barometers für China zum Jahre 2017, haben 26 Prozent der Befragten Vermittlungszahlungen geleistet, um Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, einschließlich Bildung, Leistungen im Gesundheitswesen und der Strafverfolgungsbehörden zu erhalten (TI 2.3.2017). Auch die von der Regierung stark regulierten Bereichen wie Landnutzung, Immobilien, Bergbau und Entwicklung der Infrastruktur sind anfällig für Betrug, Bestechung und Schmiergeldzahlungen. (USDOS 13.3.2019).
Bei seinem Amtsantritt startete Präsident Xi eine landesweite Anti-Korruptionskampagne (DFAT 3.10.2019; vgl. FH 2.2019a). Ziel dieser Kampagne war, hochrangige und niederrangige korrupte Beamte zu fassen. 2013 wurden von den Behörden 172.000 Anti-Korruptionsuntersuchungen durchgeführt, im Jahre 2015 waren es 330.000. 2017 wurden 527.000 Untersuchungen durchgeführt und im im ersten Halbjahr 2017 waren es 302.000 Untersuchungen (DFAT 3.10.2019). Mehr als eine Million Beamte wurden nach offiziellen Angaben bisher überprüft und bestraft (FH 2.2019a). Bis Mitte 2017 sind durch das behördliche Durchgreifen über 1.800 Beamte dingfest gemacht worden, darunter 182 Beamte auf Ebene der stellvertretenden Provinz- oder stellvertretenden Ministerialebene bzw. darüber. Die erfolgten Untersuchungen führten zu Verhaftungen, Ausschlüssen aus der Partei und der Verurteilung von 1.130 Beamten (darunter 139 hoher Beamter) wegen Korruption (DFAT 3.10.2019). Unter den Gemaßregelten befinden sich hochrangige Staats- und Parteifunktionäre aus dem Sicherheitsapparat, dem Militär, dem Außenministerium, staatlichen Unternehmen und den staatlichen Medien (DFAT 3.10.2019; vgl. FH 2.2019a).
Obwohl die Beamten mit strafrechtlichen Sanktionen wegen Korruption konfrontiert waren, haben die Regierung und die CCP das Gesetz nicht konsequent und transparent umgesetzt (USDOS 13.3.2019).
Eine stark auf Parteiloyalität und Verschwiegenheit fokussierte Antikorruptionskampagne kennzeichnet gegenwärtig die innenpolitischen Entwicklungen (AA 14.12.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (14.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Volksrepublik China, https://www.ecoi.net/en/file/local/1456146/4598_1547112750_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-volksrepublik-china-stand-oktober-2018-14-12-2018.pdf, Zugriff 6.12.2019
- DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade (3.10.2019): DFAT Country Information Report China, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019379/country-information-report-china.pdf, Zugriff 22.11.2019
- FH - Freedom House (2.2019a): Freedom in the World 2019 - China, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002611.html, Zugriff 21.10.2019
- LVAk - Landesverteidigungsakademie (9.2019): Buchas, Peter/Feichtinger, Walter/Vogl, Doris (Hg.):Chinas Grand Strategy im Wandel, Militärwissenschaftliche Publikationsreihe der Landesverteidigungsakademie, 1.2019, S.193
- TI - Transparency International (2019): Corruption Perceptions Index 2018, https://www.transparency.org/cpi2018, Zugriff 20.11.2019
- TI - Transparency International (2018): Corruption Perceptions Index 2017, https://www.transparency.org/news/feature/corruption_perceptions_index_2017#regional, Zugriff 20.11.2019
- TI - Transparency International (2.3.2017): Corruption in Asia Pacific: what 20,000+ people told us, https://www.transparency.org/news/feature/corruption_in_asia_pacific_what_20000_people_told_us, Zugriff 20.11.2019
- USDOS - US Department of State (13.3.2019): Country Reports on Human Rights Practices 2016 - China (includes Tibet, Hong Kong, and Macau), https://www.ecoi.net/de/dokument/2004237.html, Zugriff 14.10.2019
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Unabhängige Menschenrechtsinstitutionen gibt es in China (mit zunehmend eingeschränkter Ausnahme Hongkongs) nicht. Die bestehenden strengen Regeln für NGOs machen deren Registrierung de facto unmöglich. Die wenigen staatlichen chinesischen Organisationen, die sich mit Menschenrechten befassen, sind im Sinne der Information über und Werbung für das staatliche Konzept der Menschenrechtspolitik aktiv. So ist das Führungspersonal der Society for Human Rights Studies gleichzeitig Personal des Informationsamts des Staatsrats. Laut chinesischen Angaben waren 2016 mehr als 7.000 internationale NGOs in China tätig. Davon ein Großteil aus den USA. Nur ein sehr kleiner Teil davon kann als "unabhängig" qualifiziert werden. Unabhängige NGOs erhalten keine staatliche Unterstützung und es besteht keine "Spendenkultur" für solche Organisationen, ebenso ist das sammeln von Spenden verboten. In den letzten Jahren wurde es für chinesische NGOs aufgrund neuer Auflagen immer schwieriger, Spenden aus dem Ausland zu erhalten. Unabhängigen und manchen internationalen Organisationen (z.B. UNHCR) ist darüber hinaus das Spendensammeln verboten. In den letzten Jahren wurde es für NGOs aufgrund neuer Auflagen immer schwieriger, Spenden aus dem Ausland zu erhalten. Seit Xi Jinping im Amt ist, sind NGOs vermehrten Repressalien ausgesetzt, z. B. Inhaftierung ihrer Führungskräfte, Durchsuchungen sowie Einfrieren