TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/11 L526 2165675-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.05.2020
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Entscheidungsdatum

11.05.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
B-VG Art133 Abs4

Spruch

1) L526 2165705-1/25Z

2) L526 2165702-1/27Z

3) L526 2165694-1/23Z

4) L526 2165700-1/25Z

5) L526 2165675-1/22Z

6) L526 2165709-1/20Z

TEILERKENNTNIS

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. über die Beschwerde des 1) XXXX , geb. XXXX , der 2) XXXX , geb. XXXX , des 3) XXXX , geb. XXXX , der 4) XXXX , geb. XXXX , des 5) XXXX , geb. XXXX , der 6) XXXX , geb. XXXX , die Minderjährigen alle vertreten durch den Vater XXXX , alle Staatsangehörigkeit Irak, alle vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.07.2017, Zlen. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 26.02.2019 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz „BF“ oder gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch „BF1“ bis „BF6“ genannt) sind Staatsbürger des Irak. BF1 und BF2 sind die Eltern der minderjährigen BF3 bis BF6. BF1 bis BF5 stellten im Gefolge ihrer schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 24.9.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes ihre Anträge auf internationalen Schutz. BF6 wurde im Bundesgebiet geboren.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Oberösterreich gab BF1 Folgendes zu Protokoll: „Ich hatte ein Geschäft. Das wurde bombardiert. Ich bekam dann von bewaffneten Gruppen Drohungen, dass ich mich von meiner Frau scheiden lassen muss.“ Er gab ferner an, er habe den Entschluss zur Ausreise vor circa zwei Jahren getroffen und habe den Irak dann vor etwa eineinhalb Jahren in Richtung Türkei verlassen. Er sei legal ausgereist. Vor der Ausreise habe er in XXXX in XXXX gewohnt.

BF2 gab an: „Wir waren daheim und dann sind bewaffnete Truppen gekommen, die meinen Bruder festnahmen. Nach drei Tagen fanden wir ihn tot auf der Straße. Die bewaffneten Truppen stürmten das Geschäft meines Mannes. Da mein Mann Schiit ist und ich Sunnit wollen diese Truppen, dass wir uns scheiden lassen.“ Ferner gab sie an, sie sei am 2. Juli 2014 aus dem Irak mit dem Flugzeug ausgereist. Den Ausreiseentschluss habe sie ebenfalls am 2. Juli 2014 getroffen. Vor ihrer Ausreise habe sie in XXXX in XXXX gelebt.

Die BF legten irakische Reisepässe vor.

Im Hinblick auf ihren Reiseweg brachte BF1 vor, sie seien über die Türkei nach Griechenland und dann über Serbien, Kroatien, Slowenien, Ungarn nach Österreich mit Hilfe eines Schleppers weitergereist.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurden BF1 und BF2 am 2.5.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Linz, der nunmehr belangten Behörde (im Weiteren auch kurz „bB“ genannt) im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.

Zu seinem Lebenslauf gab BF1 zunächst an, er sei in XXXX geboren und dort zur Schule gegangen, habe die Schule jedoch nicht mit Matura abgeschlossen. Danach sei er als Hilfsarbeiter bis zu seiner Ausreise aus dem Irak beschäftigt gewesen. Genauer gesagt, habe er in einem Lokal als Kebab Verkäufer gearbeitet, daneben auch als Taxifahrer und Kleiderverkäufer.

Zu seinen Fluchtgründen gab BF1 Folgendes an:

„A: Mein Schwager wurde entführt und getötet. Es waren unbekannte Milizen. Er wurde drei Tage nach der Entführung getötet. Einen Monat später wurde ich bedroht, ich war mit meinem jüngsten Schwager beim Frisör und kamen maskierte und bewaffnete Männer in das Geschäft. Die Männer rieten mir, den Irak zu verlassen, weil ich immer gegen die Milizen war. Ein paar Tage später kamen die Männer wieder zu mir und nahmen mich mit. Ich wurde dabei auf der Nase und der linken Schulter mit einem scharfen Gegenstand verletzt. Sie forderten mich abermals auf, das Land zu verlassen und ließen mich dann am selben Tag frei. Weiter verlangten sie von mir, dass ich mich von meiner sunnitischen Frau scheiden lasse. Das ist der Grund, warum ich und meine Familie den Irak verlassen haben. Nachgefragt, der Vorfall beim Frisör im März 2014. Der zweite Vorfall war 14 Tage später, auch im März.

F.: Möchten Sie von sich aus noch etwas zu Ihrem Fluchtgrund angeben?

A.: Nein, das ist alles.“

Auf Vorhalt, dass er abweichende Angaben über seine berufliche Tätigkeit im Vergleich zu seiner Aussage bei der Erstbefragung mache, gab der BF an: „Ich habe keine Beweise, dass ich die Bombardierung nachweisen kann. Nachgefragt, ich war Angestellter, ich hatte kein Geschäft.“

Auf weitere Fragen der bB gab der BF an, dass er nicht wisse, woher die maskierten Männer hätten wissen sollen, dass er beim Frisör war; das Geschäft habe seinem Schwager gehört. Dass er erst Monate nach dem berichteten Überfall aus dem Irak ausgereist sei, erklärte BF1 damit, dass er erst noch Dokumente für die Kinder besorgen und Möbel verkaufen habe müssen.

Familiäre Probleme wegen der Ehe mit einer sunnitischen Ehefrau habe er nicht gehabt.

BF2 gab zunächst zu ihrem Lebenslauf an, sie sei in XXXX zur Schule gegangen und habe diese mit Matura abgeschlossen. Von 2005 bis 2011 habe sie sich in Syrien mit ihren Eltern und ihrem jetzigen Ehemann aufgehalten. Ihr damaliger Verlobter habe im Irak gearbeitet und sei immer nach Syrien gependelt. Von 2011 bis 2014 hätten alle wieder im Irak gelebt.

BF2 gab zu ihren Ausreisegründen Folgendes an:

„A: Am 19.02.2014, Mittwoch, ca. 15 Uhr, war mein Neugeborenes Ahmed 25 Tage alt. Ich war bei meinen Eltern und wir waren beim Mittagessen. Es kam zu uns eine Gruppe maskierter Männer. Sie kamen zu uns nach Hause und wollten meinen Bruder XXXX mitnehmen. Es gab einen Gegenstand zwischen mir und meinen anderen Brüder. Wir haben uns verteidigt. Sie haben uns zusammen geprügelt. Ich wollte nicht dass sie meinen Bruder mitnehmen. Ich habe meinen Bruder umarmt und ich wollte nicht, dass er mitgenommen wird. Sie sagten zu mir, lass ihn los oder wir werden dich vergewaltigen vor seinen Augen. Sie haben mich auch am Kopf verletzt mit ihren Kalaschnikovs.

Anmerkung: AW deutet auf eine Stelle am Oberkopf in Nähe des Haaransatzes.

Ich fiel runter auf meinen Kopf und ich war dann bewusstlos. Ich nahm mein Kind in die Arme und hoffte, dass sie meinen Bruder loslassen wegen des Kindes. Sie schlugen aber auch meinem Kind auf den Kopf. Dann nahmen sie meinen Bruder mit. Meine Eltern waren zu Hause. Meine Mutter war bewusstlos. Drei Tage später war er in der Gerichtsmedizin.

Sie haben ihm die Fingernägel ausgerissen und ihn mit drei Schüssen in den Kopf ermordet. Er hatte auch zwei Messerstiche, eine in den linken Oberarm und einen in den linken Oberschenkel. Sie haben auch Zigaretten auf ihm ausgedrückt.

F: Brauchen Sie eine Pause?

A: Nein, es geht.

Nach dem Begräbnis und nachdem mein Mann hörte, dass sie auch mich und mein Kind zusammen geprügelt haben, war mein Mann aggressiv auf der Straße und hat auch geschimpft und auch Schimpfwörter herumgeschrien. Nach dem Begräbnis war mein Mann in einem Friseurgeschäft bei meinem jüngsten Bruder, das Geschäft gehört ihm. Sie haben meinen Mann auch vom Friseurgeschäft des Bruders mitgenommen. Ich hatte Angst um ihn, dass er auch umgebracht wird. Am selben Tag wurde er freigelassen. Er wurde verletzt, sie folterten ihn auch. Nach diesem Vorfall sagte ich zu ihm, dass ich nicht mehr hier leben will. Sie sagten zu ihm, wir sollen uns scheiden lassen und er soll mit diesen Männern zusammenarbeiten. Während dieser Folterungen sagte er, dass er sich scheiden lassen wird. Er sagte auch, dass er mit ihnen zusammen arbeiten wird. Wir bereiteten unsere Ausreise vor und ließen uns Reisepässe ausstellen. Dann sind wir ausgereist. In diesen 4 Monaten zwischen diesem Vorfall und unserer Ausreise haben wir bei meiner Tante gewohnt und auch woanders bei Verwandten meines Mannes, bis wir unsere Reisepässe ausgestellt hatten. Danach flohen wir in die Türkei.

F: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

A: Nein.

F: Wie sind diese maskierten Männer überhaupt in Ihre Wohnung gekommen?

A: Sie haben die Tür mit den Füßen aufgetreten und auch das Schloss mit den Waffen aufgebrochen und auch wahllos in der Luft herumgeschossen. Mein Kind ist bis jetzt in Therapie weil sein Trommelfell ist gerissen.

F: Wissen Sie was das für Männer waren, die bei Ihnen zu Hause eingedrungen sind?

A: Nein, sie waren maskiert.

F: Das heißt Sie können sich nicht erklären welche Männer das waren?

A: Das sind die schiitischen Milizen. Entweder man arbeitet mit ihnen und kämpft auch mit ihnen, oder man muss ein Lösegeld zahlen. Wenn man nicht mitkämpft, muss jede männliche Person 1700 Dollar.

F: Welches Interesse hatten diese Männer gerade an Ihrem Bruder?

A: Sie wollten dass mein Bruder mit ihnen mitkämpft. Er war auch verheiratet und hatte zwei Kinder.

F: Sie gaben an, dass bei diesem Vorfall Ihre Eltern und Ihre Brüder dort anwesend waren. Warum wollten Sie gerade diesen Bruder?

A: Meine Brüder waren zu diesem Zeitpunkt in XXXX . Sie wollten, dass XXXX und XXXX mitkämpfen. XXXX war in XXXX , aber nicht bei uns zu Hause. Er hat sich versteckt.

F: Besitzen Sie eine Sterbeurkunde von Ihrem Bruder?

A: Ja, diese habe ich bereits vorgelegt. Nachgefragt: Das Original befindet sich bei meinem Vater.

Die Sterbeurkunde ist ausgestellt am 23.02.2014 und der Name lautet auf XXXX und als Todesursache werden Schusswunden angegeben.

F: Wurde Ihr Bruder vor diesem Vorfall schon einmal bedroht?

A: Sie bedrohten ihn schon einmal und er hat das nicht getan.

A: Haben Sie Anzeige bei der Polizei erstattet?

A: Nein wir waren nicht bei der Polizei.

F: Wissen Sie noch das Datum als Ihr Mann mitgenommen wurde von den Männern?

A: Es war der 01.03.2014. Nachgefragt: Das war im Friseurgeschäft des Bruders XXXX .

F: War XXXX auch dabei?

A: Ja.

F: Das heißt Ihr Bruder XXXX hat sich dann wieder in XXXX aufgehalten?

A: Ja, als mein Mann mitgenommen wurde war er auch dort.

F: Gibt es dieses Friseurgeschäft jetzt noch?

A: Es wurde mittlerweile zugesperrt.

Vorhalt:

F: Hatte Ihre Bruder XXXX keine Angst sich in XXXX in seinem Geschäft aufzuhalten wenn Ihr anderer Bruder bereits getötet wurde?

A: Mein Bruder wollte das Geschäft zusammen räumen während die maskierten Männer ins Geschäft kamen.

F: Wie haben Sie davon erfahren?

A: Mein Sohn teilte mir mit, dass die Männer ihn mitgenommen haben. Nachgefragt: Er war zu diesem Zeitpunkt 6 Jahre alt.

F: Diese Männer haben also Ihren Ehemann mitgenommen, was war mit Ihrem Bruder XXXX ?

A: Sie haben meinen Bruder nicht mitgenommen. Sie nahmen meinen Mann mit weil er herumgeschrien hatte.

F: Können Sie mir die Adressen nennen, an denen Sie in den letzten 4 Monaten vor der Ausreise gelebt haben.

A: XXXX , XXXX zwischen dem Wohnort und dem Wohnort der Schwiegereltern gependelt.

F: Ist in diesen 4 Monaten noch etwas passiert?

A: Wir bekamen einen Drohanruf. Nachgefragt: Das war auf meinem Handy.

F: Wissen Sie noch wann das war?

A: ….. Das war irgendwann im Mai 2014. In der Türkei vielleicht im September 2014 wurde ich auch bedroht. Nachgefragt: Das war eine türkische Nummer die ich hatte. Allerdings ist während der Überfahrt das Handy ins Wasser gefallen. Ich hatte die ganzen Telefonate aufgezeichnet. Ich habe das Handy bei mir aber es ist kaputt.

F: Aber es können ja nicht viele Leute diese türkische Nummer gehabt haben oder?

A: Ich habe diese Nummer nicht weitergegeben, nur an meine Eltern und an meine Freundinnen.

F: Was haben diese Leute am Telefon gesagt?

A: Sie versprachen mir mich zu vergewaltigen. Und sie sagten sie hätten einen Fehler gemacht weil sie das nicht sofort getan hätten.

F: Haben Sie überlegt nach XXXX zu gehen, so wie Ihre Brüder?

A: XXXX ist so teuer, wir konnten da nicht leben. Auch gibt es keine Schulen in XXXX .

F.: Möchten Sie von sich aus noch etwas zu Ihrem Fluchtgrund angeben?

A.:. Nein das ist alles.“

3. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 5.7.2017 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Mit Verfahrensanordnung vom 6.7.2017 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.

5. Gegen die den BF am 10.7.2017 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zugestellten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richten sich die im Wege ihrer rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht eingebrachten Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und den BF den Status der Asylberechtigten oder hilfsweise des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen und die Rückkehrentscheidung aufzuheben in eventu den angefochtenen Bescheid an die Erstbehörde zurückzuverweisen. Zudem wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt. Unter Verweis auf eine Anfragebeantwortung zur Sicherheitslage in XXXX vom 27.3.2017 wird in der Sache vorgebracht, das Ermittlungsverfahren sei unzureichend geblieben, da die bB ihrer Entscheidung unvollständige Länderberichte zu Grunde gelegt habe. Darüberhinaus seien die Berichte auch nur unzureichend ausgewertet worden. Die Feststellungen seien auf Basis eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens und einer mangelnden Beweiswürdigung getroffen worden. Ferner wurde die zeugenschaftliche Einvernahme der Eltern der BF2 zum Beweis dafür beantragt, dass die BF im Irak von schiitischen Milizen verfolgt werden. Der Beschwerde wurden folgende Dokumente angeschlossen:

?        Schulbesuchsbestätigungen betreffend die minderjährigen BF

?        Ein Empfehlungsschreiben

?        Bestätigung über die Teilnahme der BF2 an einem Deutschkurs für das Sprachniveau A1, Teil 1

?        Bestätigung über die Teilnahme der BF2 an einem Deutschkurs für das Sprachniveau A1, Teil 1 und Teil 2

6. Die Beschwerdevorlage langte am 27.7.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. In der Folge wurden folgende Unterlagen beigebracht:

?        Kindergarten- und Schulbesuchstbestätigungen, Schulnachrichten, Lernstands-dokumentationen und Berichte betreffend die minderjährigen BF

?        Bestätigung über die Teilnahme an einem Werte und Orientierungskurs betreffend BF1

?        Ein Zertifikat über die bestandene Prüfung zum Sprachniveau A1 und Bestätigung über den Besuch eines Kurses zum Sprachniveau A2 betreffend BF2

?        Eine ärztliche Empfehlung für BF3, in welcher diesem eine Psychotherapie in der Landessprache empfohlen wird; die „Arbeitsdiagnose“ laute „Posttraumatische Belastungsstörung“.

?        Schulnachrichten

?        Eine Bestätigung über die Teilnahme am Lehrgang „Basisbildung Oberösterreich“ sowie ein „Kompetenznachweis“ betreffend BF2

?        Bestätigungen über die Teilnahme am „Werte- und Orientierungskurs“ betreffend BF1 und BF2

?        Urkunde über ein „Landesjugendsingen“ für die Volksschule XXXX

?        Abbildung einer Karte für Mitarbeiter des Roten Kreuzes

?        Bestätigung über die freiwillige Mitarbeit des BF1 beim Roten Kreuz

8. Mit Schreiben vom 17.8.2018 wurde im Wege der rechtsfreundlichen Vertretung ein ergänzendes Vorbringen erstattet. Darin wird vorgebracht, dass BF2 ein Videotelefonat mit den Eltern, die in der Türkei leben, und ihrem Bruder XXXX – dieser lebe in XXXX , sei jedoch gerade zu Besuch bei den Eltern gewesen – geführt habe. Anlässlich dieses Telefonates sei ein Kreuz, welches BF2 trug, aufgefallen und sei ihr von den Familienangehörigen unterstellt worden, dass sie zum Christentum konvertiert sei. Der Bruder habe ihr noch am selben Tag fünf Sprachnachrichten hinterlassen, worin er sie wegen ihres westlichen Lebensstils und dem Kreuz beschimpft hätte. Er habe auch BF1 dafür verantwortlich gemacht. BF2 sei bekanntgegeben worden, dass sie fortan von der Familie ausgeschlossen sei. BF2 habe der Familie Nachrichten gesendet, in welchen sie erklärt habe, sie sei nicht konvertiert, sie habe jedoch keine Antwort erhalten und der Kontakt zu den Familienangehörigen sei damit abgebrochen. BF2 sei somit asylrelevanter Verfolgung aufgrund der sozialen Gruppe der Frauen, die von ihren Familienangehörigen mit einem Ehrenmord bedroht sind, ausgesetzt. Der Stellungnahme wurde eine Anfragebeantwortung zur Lage westlich orientierter Frauen vom 30.4.2018 angeschlossen.

9. Am 23.11.2018 wurde die Rechtssache aufgrund einer Änderung der Geschäftsverteilung und einer darauf folgenden Unzuständigkeitseinrede der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

10. Mit Schreiben vom 30.1.2020, eingegangen am 3.2.2020, wurde eine DVD mit zwei Videosequenzen vorgelegt.

11. Am 26.2.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der erwachsenen BF und zwei der minderjährigen BF, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung und einer Dolmetscherin für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde den BF einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation umfassend darzulegen und eine Stellungnahme zur aktuellen Lageentwicklung im Irak anhand der den BF im Vorfeld übermittelnden Länderdokumentationsunterlagen, die in der mündlichen Verhandlung erörtert wurden, abzugeben. Den BF wurde in dieser Verhandlung die Möglichkeit gegeben, weitere Unterlagen zu ihrer Integration vorzulegen und eine Stellungnahme zu weiteren in der Verhandlung übergebenen und dort erörterten Anfragebeantwortungen, insbesondere einer Anfragebeantwortung über Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen und Herzproblemen, binnen einer Frist von einer Woche abzugeben.

Der Antrag auf zeugenschaftliche Einvernahme der Eltern der BF2 wurde zurückgezogen.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde erstmals vorgebracht, dass BF4 ein „Loch im Herzen“ hätte. Es gebe zwar ein ärztliches Attest, dieses habe man aber zu Hause und könne auch nicht gesagt werden, was darin geschrieben stehe.

11. Am 9.3.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine weitere DVD mit dem Hinweis darauf ein, dass es sich dabei um die in der Verhandlung angesprochenen telefonischen Drohbotschaften handelt. Ferner wurde ein ärztlicher Befundbericht vom 19.8.2019 vorgelegt, in welchem die Diagnose „AI“ gestellt wird und Folgendes attestiert und Folgendes dazu ausgeführt wird:

„Situs solitus. Normale Größe der Herzhöhlen, das IVS von normaler Stärke. Gute LV-Funktion. LVDD z=0, AIKK mit ger. Reversflow in de Aszendens, im Bogen kaum mehr darstellbar, die AOK selbst trikuspide, mit der beschriebenen zentralen Insuffizienz ohne Stenose, zentral die Cuspes verdickt, PHT 320, aber schlecht anlotbar. Die übrigen Herzklappen morphologisch und funktionell unauffällig. Auch farbdopplerechokardiographisch keine signifikanten Insuffizienzen oder Stenosen. Das IAS und IVS dicht.“ Es wurde eine Kontrolle in sechs Monaten empfohlen.

Abschließend wurde der Antrag gestellt, BF4 zur Abklärung ihres Gesundheitszustandes einer Untersuchung durch einen medizinischen Sachverständigen zuzuführen.

12. Mit Schreiben vom 25.3.2020 erteilten die BF dem Bundesverwaltungsgericht die Erlaubnis, mit dem behandelnden Arzt Rücksprache zu halten und Gesundheitsdaten zur weiteren Abklärung des Sachverhaltes zu verwenden.

13. In weiterer Folge wurde eine gutachterliche Stellungnahme zum Gesundheitszustand der BF4 beauftragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF führen die im Spruch ersichtlichen Namen, sind Staatsangehöriger des Irak und Angehörige der arabischen Volksgruppe. Sie sind Moslems. BF1 und die minderjährigen BF bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam, BF2 ist Sunnitin.

Alle BF sind im Irak geboren und aufgewachsen.

BF1 ist in XXXX geboren und hat dreizehn Jahre lang die Grundschule besucht. Danach hat er gearbeitet. In welchen Berufen der BF gearbeitet hat, ist nicht feststellbar.

BF2 ist ebenfalls in XXXX geboren und hat neun Jahre lang die Schule besucht, welche sie mit Matura abschloss.

Alle BF lebten vor ihrer Ausreise in XXXX , Viertel XXXX , Bezirk XXXX .

Die Mutter, vier Brüder und zwei Schwestern des BF1 wohnen noch in XXXX , in XXXX . Wo die Familie der BF2 sich aufhält ist nicht feststellbar.

BF1 bis BF5 verließen den Irak legal von XXXX ausgehend im Luftweg in die Türkei und reisten dann weiter nach Griechenland und von dort weiter über Serbien, Kroatien, Slowenien und Ungarn nach Österreich, wo sie am 24.9.2015 ihre Anträge auf internationalen Schutz stellten. Wann die BF den Irak verließen ist nicht feststellbar.

1.2. Die BF gehören keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an. Sie hatten vor ihrer Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften ihres Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in ihrem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass BF1 und BF2 einer individuellen Bedrohung durch bewaffnete Gruppierungen oder Mitglieder einer solchen wegen ihrer gemischt konfessionellen Ehe und wegen eines kritischen Auftretens des BF1 den Milizen gegenüber unterlagen. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass BF1 entführt und gefoltert wurde.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass BF2 aufgrund einer unterstellten Konvertierung und wegen ihres Lebensstils von ihrer Familie bedroht wird. Es kann ferner nicht festgestellt werden, dass BF1 und seine Kinder von Zwangsrekrutierungen, einer zwangsweisen religiösen Erziehung oder einer sonstigen Bedrohung von Seiten der Familie des BF1, einer radikalen Gruppierung oder Mitglieder einer solchen bedroht sind.

Die BF sind auch im Fall einer Rückkehr nach XXXX nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund ihres Geschlechts, ihres Lebensstils, ihrer religiösen Orientierung oder der gemischt konfessionellen Ehe zwischen BF1 und BF2 ausgesetzt.

XXXX ist grundsätzlich im Luftweg direkt mit Linienflügen gefahrlos erreichbar. Der zivile Luftverkehr ist zur Zeit wegen der herrschenden Corona-Pandemie eingestellt.

1.5. Die BF verfügen über irakische Reisepässe. Ihre Angaben zur Identität können aufgrund der von ihnen vorgelegten irakischen Personalausweise verifiziert werden.

1.6. XXXX ist im Luftweg gefahrlos erreichbar. Zur Zeit ist der Flugverkehr eingestellt.

1.7. Zur gegenwärtigen Lage im Irak betreffend den den Corona-Virus und die daraus resultierende Lungenkrankheit CoVID-19 wird Folgendes festgestellt:

Am 04.05.2020 waren im Irak 2296 Corona-Falle bekannt, 97 Personen sind gestorben und 1.490 Personen haben sich von einer Infizierung erholt (https://www.worldometers.info/coronavirus/country/iraq/).

Die Ausbreitung der Atemwegserkrankung COVID-19 führt vielerorts zu verstärkten Einreisekontrollen, Gesundheitsprüfungen mit Temperaturmessungen und Einreisesperren.

Ausländischen Reisenden, die sich seit dem 14. Januar 2020 in China aufgehalten haben, wird die Einreise in den Irak, einschließlich der Region Kurdistan-Irak, nicht gestattet. Seit 20. Februar 2020 sind die Grenzübergänge zum Iran aufgrund der dortigen Corona-Virus Infektionen mit ersten Todesfällen geschlossen; auch die Grenze zu Kuwait wurde zwischenzeitlich für die Einreise ausländischer Staatsangehöriger gesperrt. Mit Ausnahme von irakischen Staatsangehörigen, die in den Irak zurückkehren, darf die Grenze nicht mehr passiert werden (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/iraksicherheit/202738).

II.1.8. Zur sonstigen allgemeinen Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen:

II.1.8.1. Aktuelle Informationen:

Zur politischen Situation:

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020) zurück. Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

Zur Sicherheitslage:

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen:

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

(ACCORD 26.2.2020)

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

IBC 2.2020)

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

(IBC 2.2020)

Quellen:

- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020

- IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019,https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020

- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020

Sicherheitslage Bagdad

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7. und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

Sicherheitslage Nord- und Zentralirak:

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Zu Rechtsschutz und Justizwesen:

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).

Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).

Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).

Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).

Zu den irakischen Sicherheitskräften:

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).

Zu den Volksmobilisierungskräften:

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).

Zur allgemeinen Menschenrechtslage:

Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen, sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten, durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 11.3.2020).

Im Zuge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste haben Sicherheitskräfte unter anderem scharfe Munition gegen Demonstranten eingesetzt und hunderte Menschen getötet (HRW 31.1.2020).

Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005 (USDOS 11.3.2020).

Zur Versammlungsfreiheit

Die Verfassung sieht das Recht auf Versammlung und friedliche Demonstration „nach den Regeln des Gesetzes“ vor (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Entsprechend einfach gesetzlichen Bestimmungen fehlen jedoch. Im Alltag wird die Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch das seit dem 7.11.2004 geltende „Gesetz zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit“ eingeschränkt, das u.a. die Verhängung eines bis zu 60-tägigen Ausnahmezustands ermöglicht (AA 12.1.2019).

Die gesetzlichen Regelungen schreiben vor, dass die Veranstalter sieben Tage vor einer Demonstration um Genehmigung ansuchen und detaillierte Informationen über Veranstalter, Grund des Protests und Teilnehmer einreichen müssen. Die Vorschriften verbieten jegliche Slogans, Schilder, Druckschriften oder Zeichnungen, die Konfessionalismus, Rassismus oder die Segregation der Bürger zum Inhalt haben. Die Vorschriften verbieten auch alles, was gegen die Verfassung oder gegen das Gesetz verstößt; alles, was zu Gewalt, Hass oder Mord ermutigt; und alles, was eine Beleidigung des Islam, der Ehre, der Moral, der Religion, heiliger Gruppen oder irakischer Einrichtungen im Allgemeinen darstellt. Die Behörden erteilen Genehmigungen in der Regel in Übereinstimmung mit diesen Vorschriften (USDOS 11.3.2020).

Demonstranten sind häufig der Gefahr von Gewalt oder Verhaftung ausgesetzt (FH 4.3.2020). Als die Demonstrationen ab Oktober 2019 eskalierten, versäumten es die Behörden, die Demonstranten vor Gewalt zu schützen (USDOS 11.3.2020).

Zu den Protestbewegungen:

Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern (WZ 9.10.2018).

So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweiig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).

Zu den Minderheiten:

Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).

Zu relevanten Berufsgruppen/Menschen, die einer Beschäftigung nachgehen:

Einige mittel- bis hochrangige Ba‘athisten sind für schwere, unter dem Saddam Regime begangene Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Darüber hinaus wird berichtet, dass einige frühere Ba‘athisten Verbindungen zum Islamischen Staat (IS) oder zu anderen aufständischen Organisationen, wie der „Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens“ (JRTN, Jaysh Rijal al-Tariqa al-Naqshbandiyya) haben (UKHO 1.2020).

Zu Frauen und Kindern:

Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Buben und Männer. Im Alter von zwölf Jahren aufwärts sind Mädchen doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Buben (GIZ 1.2020b). Mehr als ein Viertel von Frauen im Alter von über 15 Jahren können nicht lesen und schreiben (CIA 28.2.2020). Schätzungen zufolge liegt die Analphabetenrate bei Frauen im Irak bei 28,2% und ist damit etwa doppelt so hoch wie jene von Männern und Buben (13%) (UN Women 12.2018). In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Buben (GIZ 1.2020b).

Während sexuelle Übergriffe, wie z.B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Artikel 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020). Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist (FIS 22.5.2018). Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar (FIS 22.5.2018; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020).

Das Innenministerium unterhält 16 Familienschutzeinheiten im ganzen Land, die dafür bestimmt sind, häusliche Streitigkeiten zu lösen und sichere Zufluchtsorte für Opfer sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt zu schaffen. Diese Einheiten tendieren jedoch dazu, der Familienversöhnung Vorrang vor dem Opferschutz einzuräumen und verfügen nicht über die Fähigkeit, Op

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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