TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/11 L502 2217262-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.05.2020
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Entscheidungsdatum

11.05.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

L502 2217259-1/5E

L502 2217258-1/6E

L502 2217262-1/5E

L502 2217264-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Türkei und vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.02.2019, FZ. XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Den Beschwerden wird hinsichtlich Spruchpunkt I stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 und 4 AsylG der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG kommt XXXX , XXXX , XXXX und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigte für drei Jahre zu.

III. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX , XXXX , XXXX und XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) stellten im Gefolge ihrer legalen Einreise in das Bundesgebiet am 25.07.2017 jeweils für sich und als gesetzliche Vertreter für ihre gemeinsame minderjährige Tochter, die Drittbeschwerdeführerin (BF3), beim Landespolizeikommando Wien einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag erfolgte dort die Erstbefragung des BF1 und der BF2 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes. In der Folge wurden die Verfahren zugelassen.

3. Am 20.12.2017 stellte der BF1 als gesetzlicher Vertreter für seine in Österreich nachgeborene Tochter, die Viertbeschwerdeführerin (BF4), ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz. In der Folge wurde auch dieses Verfahren zugelassen.

4. Am 25.10.208 wurden der BF1 und die BF2 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen, im Zuge dessen sie verschiedene Beweismittel vorlegten, die in Kopie zum Akt genommen wurden.

Ihnen wurde dabei auch die Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme zu den länderkundlichen Informationen des BFA zur Lage im Herkunftsstaat gegeben.

5. Mit den im Spruch genannten Bescheiden des BFA vom 25.02.2019 wurden ihre Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurden die Anträge auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihnen jeweils eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI).

6. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 27.02.2019 wurde ihnen von Amts wegen gemäß § 52 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

7. Gegen die mit 01.03.2019 durch Hinterlegung zugestellten Bescheide wurde mit Schriftsatz ihrer zugleich bevollmächtigten Vertretung vom 29.03.2019 innerhalb offener Frist in vollem Umfang Beschwerde erhoben.

8. Mit 10.04.2019 langten die Beschwerdevorlagen des BFA beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren der nunmehr zuständigen Abteilung des Gerichts zur Entscheidung zugewiesen.

9. Das BVwG richtete am 02.04.2020 eine Anfrage an die Staatendokumentation, deren Ergebnis am 16.04.2020 einlangte, und brachte weitere länderkundliche Informationen in das Verfahren ein.

10. Das BVwG erstellte Auszüge aus den Datenbanken der Grundversorgungsinformation, des Melde- sowie des Strafregisters.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität der Beschwerdeführer steht fest. Sie sind türkische Staatsangehörige, gehören der türkischen Volksgruppe an und sind sunnitische Moslems. Der BF1 und die BF2 sind seit XXXX verheiratet und haben zwei gemeinsame minderjährige Kinder, die BF3 und die BF4.

Der BF1 und die BF2 sind in der Türkei geboren und aufgewachsen. Sie verzogen im Jahr 2010 nach XXXX in der kurdischen Autonomieregion im Irak, wo sie sich mit gültigen Aufenthaltstiteln niederließen und bis zur Ausreise nach Europa lebten. Die BF3 wurde in XXXX geboren und verbrachte ihre ersten fünf Lebensjahre bis zur Ausreise im Jahr 2017 dort. Der BF1 und die BF2 reisten während ihres siebenjährigen Aufenthalts in der kurdischen Autonomieregion mehrfach, sowohl zu Besuchszwecken als auch zu Behördengängen, in die Türkei und retour. Zuletzt war der BF1 von 25.06.2015 bis 07.08.2015 in der Türkei. Die BF2 hielt sich zuletzt von 07.05.2016 bis 19.05.2016 in der Türkei auf.

Der BF1 besuchte in der Türkei für fünf Jahre die Grundschule und für sieben Jahr eine allgemein bildendende höhere Schule und absolvierte ein vierjähriges Studium der Mathematik an der XXXX , welches er im Jahr 2010 abschloss. In der Folge war er von 01.08.2010 bis Juni 2017 als Mathematik-Lehrer und Vizerektor am XXXX in XXXX in der kurdischen Autonomieregion im Irak beschäftigt. Er war auch Kunde der XXXX und Abonnent der Zeitung XXXX . Er hat zudem mehrere Fort- und Weiterbildungen absolviert, unter anderem an den XXXX .

Die BF2 besuchte ebenfalls für fünf Jahre die Grundschule und für sieben Jahr eine allgemein bildendende höhere Schule in der Türkei, ehe sie ein universitäres Chemiestudium absolvierte. Auch sie war in der Folge von 01.08.2010 bis Juni 2017 am XXXX in XXXX als Lehrerin erwerbstätig und absolvierte mehrere Fort- und Weiterbildungen unter anderem an den XXXX sowie an der XXXX .

Der BF1, die BF2 und die BF3 reisten am14.07.2017 legal unter Verwendung ihrer türkischen Reisepässe auf dem Luftweg aus dem Irak aus und reisten in weiterer Folge über Jordanien am selben Tag legal, mittels von 10.07.2017 bis 24.07.2017 gültigem Visum C für den Schengen Raum, nach Österreich ein, wo sie am 25.07.2017 ihre Anträge auf internationalen Schutz stellten und sich seither aufhalten. Für die in Österreich nachgeborene BF4 stellte der BF1 als deren gesetzlicher Vertreter am 20.12.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.

In der Türkei leben noch die Mutter des BF1 sowie drei seiner Brüder und zwei Schwestern, die Eltern der BF2 und zwei Brüder sowie mehrere weitere Verwandte beider Beschwerdeführer. Die Beschwerdeführer sprechen Türkisch als Muttersprache, BF1 und BF2 zudem Englisch. Der BF1 hat mehrere Deutschkurse besucht und Sprachprüfungen auf dem Niveau A2 und B1 bestanden. Der BF1 wurde mit Bescheid der XXXX als außerordentlicher Studierender zugelassen. Die BF2 hat zwei Deutschkurse besucht und eine Integrationsprüfung aus Inhalten zur Sprachkompetenz auf dem Niveau B1 sowie zu Werte- und Orientierungswissen absolviert. Sie absolvierte zudem einen englischen Sprachkurs in Österreich.

BF1 und BF2 sind bis dato strafgerichtlich unbescholten. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder aktuell durch den Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber.

1.2.1. Fethullah Gülen, ist ein muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung bezeichnet (bpb 1.9.2014). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen von Anhängern geben, oft in einflussreichen Positionen. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Zahlreiche Gülen-Schulen wurden, teilweise auf Druck hin, auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern geschlossen, anderen Eigentümern oder der türkischen staatlichen Stiftung Maarif, die eigens hierfür gegründet wurde, übertragen (SCF 5.2.2019, vgl. DS 31.7.2018). Mit Februar 2019 waren laut Direktor von Maarif rund 70% aller Gülen-Schulen in 21 Länder, ausgenommen in westlichen Staaten, der Kontrolle der Gülen-Bewegung entzogen. Hiervon wurden inzwischen 191 ehemalige Gülen-Schulen der türkischen Maarif-Stiftung übergeben (SCF 5.2.2019).

Erdo?an stand Gülen jahrzehntelang nahe. Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den sekulären, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die AKP bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 21.7.2016). Erdo?an nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Das Bündnis zwischen Erdo?an und Gülen begann sich aufzuweichen, als die Gülenisten in Polizei und Justiz zu unabhängig wurden. Das Klima verschärfte sich, als Gülen selbst Erdo?an für seinen Umgang mit den Protesten im Gezi-Park im Jahr 2013 kritisierte. Erdo?an beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren und zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 21.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdo?an, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Im Juni 2017 definierte das Oberste Appellationsgericht die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018).

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als „Fetullahç? Terör Örgütü – (FETÖ)“, „Fetullahistische Terror Organisation“, tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Parallel Devlet Yap?lanmas? (PDY)", die „Parallele Staatsstruktur“ bedeutet (UK Home Office 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).

Insgesamt wurden rund 512.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet und gegen diese Untersuchungen durchgeführt. Hiervon befinden sich noch ca. 31.000 Personen in Haft, gegen die noch Einvernahmen oder Prozesse ausständig sind. Über 19.000 weitere Personen wurden wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung und damit verbundenen Straftaten verurteilt (DS 5.3.2019). Gegen weitere 22.000 Verdächtige wurden Haftbefehle erlassen (SCF 4.6.2019). Insgesamt sind 270 von 289 Gerichtsprozesse in Zusammenhang mit dem Putschversuch 2016 abgeschlossen. 3.838 Angeklagte wurden verurteilt. Hiervon erhielten 2.327 eine lebenslange Haft, darunter 1.224 zu erschwerten Bedingungen. 1.511 Personen erhielten Haftstrafen zwischen 14 Monaten und 20 Jahren [Stand November 2019] (Anadolu 11.11.2019).

Laut Staatspräsident Erdo?an sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der „FETÖ“ befreit (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung dauert an (AA 14.6.2019). So wurden beispielsweise am 5.11.2019 in Ankara wieder 106 vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung verhaftet (DS 5.11.2019). Anfang November 2019 wurden acht von 43 Angeklagten, meist Mitglieder der Luftwaffenschule, als vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wegen Unterstützung des Putschversuchs im Juli 2016 zu schweren lebenslangen Haftstrafen verurteilt (DS 4.11.2019).

Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind hierbei recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich ein aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese z. B. lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind. In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten: Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock; Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordneten Wohltätigkeitsorganisationen; Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive abhängige Beschäftigung (AA 14.6.2019). Allerdings entschied der Oberste Berufungsgerichtshof im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch seine Einschreibung eines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).

Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 urteilte dasselbe Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, unter dem Vorwurf, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018). Im September 2019 wurden bei Operationen in sechs Städten über 40 Verdächtige als ehemalige ByLock-Nutzer verhaftet (DS 11.9.2019). Anfang Oktober 2019 ordnete die Staatsanwaltschaft der Provinz Izmir die Festnahme von 51 Verdächtigen an, von denen 33 beschuldigt wurden, ByLock verwendet zu haben (Anadolu 8.10.2019). Laut Innenministerium wurden bislang mehr als 95.000 Nutzer identifiziert und zudem 4.676 neue ByLock Nutzer entdeckt (DS 11.9.2019).

Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019, vgl. UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).

Das Oberste Berufungsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018, vgl. TP 16.2.2019). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt werden, die Messenger-App Bylock verwendet und Geld in der Asya Kat?l?m Bank deponiert zu haben. 14 Personen wurden in Ankara und sieben weiteren Städten festgenommen (DS 18.9.2019).

Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (M?T) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018). Demnach seien Menschen aus Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Ukraine, Gabun und Myanmar von der türkischen Regierung entführt worden. Ein weiterer Versuch in der Mongolei sei von der mongolischen Polizei im Juli 2018 verhindert worden (Welt 15.9.2019).

1.2.2. Auch 2020 setzte sich die systematische strafrechtliche Verfolgung von vermeintlichen Mitgliedern bzw. Anhängern der Gülen-Bewegung, denen eine Involvierung beim gewaltsamen Putschversuch oder die Mitgliedschaft respektive Unterstützung einer terroristischen Organisation vorgeworfen wird, fort.

Laut der regierungsnahen Tageszeitung Daily Sabah von Anfang März 2020 laufen in der ganzen Türkei Prozesse gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung, die sich vermeintlich am Putsch beteiligten. Etwa 1.596 Angeklagte sollten im März in 34 Prozessen in 11 Städten wieder auf der Prozesstagesordnung stehen. In einigen Prozessen geht es um den Putschversuch, bei dem 251 Menschen getötet wurden, während der Rest wegen anderer Verbrechen, an denen die Gülen-Bewegung beteiligt gewesen sein soll, vor Gericht stehen. Im März 2020 sollten die am Putschversuch Beteiligten in sieben Prozessen ihre nächsten Anhörungen haben, während in 27 weiteren Prozessen neue Anhörungen stattfinden. Etwa 1.182 Angeklagte stehen im Zusammenhang mit dem Staatsstreich vor Gericht, während 414 weitere Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt sind (Daily Sabah, 2.3.2020).

Zuvor meldete Daily Sabah Anfang Jänner 2020, dass die Gerichtsprozesse zum Putschversuch außer in 18 Fällen größtenteils abgeschlossen seien. Von 289 Fällen, die wegen des Putschversuchs vor Gericht kamen, wurden 271 in den drei Jahren seit dem 15. Juli 2016 abgeschlossen. Insgesamt wurden 3.879 Angeklagte verurteilt, darunter 2.335, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Unter ihnen waren 1.225, die zu schwerer lebenslanger Haft oder zu lebenslanger Einzelhaft verurteilt wurden. Darüber hinaus verurteilten die Gerichte 1.544 Angeklagte zu Haftstrafen zwischen einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren (Daily Sabah, 2.1.2020).

Das regierungskritische Nachrichtenportal Turkish Minute berichtete im Februar 2020 von einer Mitteilung des Innenministeriums an den türkischsprachigen Dienst der BBC. Laut dieser waren mit Stand Mitte Februar 26.862 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert, fast 5.000 von ihnen waren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, während sich die übrigen in Untersuchungshaft befänden. Inzwischen führen die Staatsanwälte 69.701 Untersuchungen durch, bei denen 135.708 Verdächtige der Mitgliedschaft in der Bewegung beschuldigt werden. Darüber hinaus sind 42.717 Verfahren anhängig, in denen 60.167 Angeklagte, die der Verbindungen zur Gülen-Bewegung beschuldigt werden, angeklagt sind. Die Massenverhaftungen im Rahmen der laufenden Ermittlungen gehen fast täglich weiter, wobei dem Bericht zufolge in der vergangenen Woche Hunderte von Menschen festgenommen wurden. Als Teil einer weltweiten Razzia gegen Gülen-Anhänger hat die Türkei laut Innenministerium die Auslieferung von 750 Personen aus 101 Ländern beantragt. Allerdings haben verschiedene Länder bereits Anträge für 74 Personen abgelehnt. Das Ministerium hat außerdem bei Interpol die Ausstellung von sog. „roten Mitteilungen“ für 555 Verdächtige beantragt (Turkish Minute, 21.2.2020).

Das regierungskritische Internetportal Turkish Minute berichtete Anfang März 2020 von Haftbefehlen gegen 115 Verdächtige in den Städten Izmir, Adana und Bolu. Betroffen waren Lehrer, Geschäftsleute und Anwälte sowie ehemalige Polizisten. In den Wochen zuvor wurden zahlreiche Verhaftungen vorgenommen, darunter 53 in Izmir (Turkish Minute, 4.3.2020)

Die regierungsnahe Zeitung Daily Sabah berichtete Mitte Jänner 2020, dass die Behörden Haftbefehle gegen 237 Personen erlassen haben, die in Verbindung mit der Gülen-Bewegung stehen. Mindestens 203 Verdächtige wurden bei landesweiten Operationen in 49 Provinzen festgenommen, während nach anderen noch gefahndet würde (Daily Sabah, 14.1.2020).

Die Staatsanwaltschaft habe bei den Ermittlungen die Festnahme von rund 160 Personen angeordnet, meldete die Nachrichtenagentur Anadolu. Rund 700 Haftbefehle seien im ganzen Land ergangen. Nach weiteren Verdächtigen werde noch gefahndet. Die Regierung hatte ihr massives Vorgehen gegen mutmaßliche Anhänger des im US-Exil lebenden Predigers Fetullah Gülen in den vergangenen Monaten weiter verschärft. Die Polizei unternimmt immer wieder Razzien gegen mutmaßliche Anhänger Gülens, der jede Verstrickung in den Putschversuch bestreitet. Seit dem Putschversuch wurden bereits rund 80.000 Menschen angeklagt. Etwa 150.000 Beschäftigte unter anderem in der Verwaltung und im Militär wurden entlassen oder vom Dienst suspendiert. Die Europäische Union und Menschenrechtsgruppen haben das massive Vorgehen bereits mehrfach kritisiert. Erdogan rechtfertigt es als notwendige Antwort auf die Bedrohung der Sicherheit (tagesschau.de, Neue Festnahmewelle in der Türkei, 18.02.2020).

1.2.3. Um die Ausbreitung des Corona-Virus hinter Gittern zu bremsen, beschloss das Parlament in Ankara eine Amnestie, die fast 100.000 Häftlingen die Freiheit bringen und damit die Gesamtzahl der Gefängnisinsassen im Land um ein Drittel reduzieren soll. Doch während Betrüger und teilweise Gewaltverbrecher freikommen, bleiben regierungskritische Journalisten, Intellektuelle und Oppositionspolitiker als angebliche „Terroristen“ weiter in Haft. Von der Amnestie ausgenommen sind zudem Tausende, die als mutmaßliche Anhänger des Predigers Fetullah Gülen in Haft sind. Auch Untersuchungshäftlinge, die ohne Gerichtsurteil im Gefängnis sind, bleiben hinter Gittern (Tagesspiegel, Die Türkei lässt 100.000 Häftlinge frei, 14.4.2020).

Wegen der Verbreitung „provokanter und missbräuchlicher“ Informationen über die Coronavirus-Pandemie sind in der Türkei bislang 410 Menschen festgenommen worden. In den vergangenen Wochen seien rund 1750 verdächtige Social-Media-Konten identifiziert worden, sagte Innenminister Süleyman Soylu am Mittwoch dem Nachrichtensender 24 TV. Davon gehörten 65 Prozent zu „Terrorgruppen“, darunter auch verbotene kurdische Kämpfer und Anhänger des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen (welt.de, 410 Festnahmen wegen „provokanter Informationen“ zu Corona, 25.3.2020).

1.3. Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019).

Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 13.3.2019). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).

Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (A??r Ceza mahkemeleri) fallen (Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen). Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden (insgesamt maximal drei Jahre). Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz 3713 betreffen, beträgt die maximale U-Haftdauer höchstens sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Diese Gesetzesänderung erfolgte mit dem Dekret 694 vom 15.08.2017, das am 1.2.2018 zu Gesetz Nr. 7078 wurde (Art. 136) (ÖB 10.2019).

Wesentliche Regelungen der Dekrete des Ausnahmezustandes wurden in die reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden (AA 14.6.2019). Das nach Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 angenommene Gesetz Nr. 7145 sieht keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen. Entlassene Akademiker haben selbst nach Wiedereinsetzung nicht mehr die Möglichkeit, an ihre ursprüngliche Universität zurückzukehren (ÖB 10.2019).

Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR. Bis Mai 2019 wurden 126.000 Anträge eingebracht. Davon bearbeitete die Kommission bislang 70.406. Lediglich 5.250 Personen wurden wiedereingesetzt. Die Kommission wies 65.156 Beschwerden ab, 55.714 Beschwerden sind weiter anhängig (ÖB 10.2019).

Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen. Den Beschwerdeführern fehlt es an Möglichkeiten, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. Umgekehrt verwendet die Kommission schwache Beweise zur Aufrechterhaltung der Entlassungsentscheidungen. Herangezogen werden oftmals rechtmäßige Handlungen der Betroffenen als Beweis für rechtswidrige Aktivitäten (Interaktionen mit Banken, Wohltätigkeitsorganisationen, Medien etc.). Es besteht eine Beweislastumkehr. Die Betroffenen müssen widerlegen, dass sie Verbindungen zu verbotenen Gruppen hatten. Irrelevant ist, dass die getätigten Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme legal waren. Die Wartezeiten bis zur Entscheidung der Berufungsverfahren reichten bislang von vier bis zehn Monaten, während viele entlassene Beschäftigte im öffentlichen Sektor noch keine Antwort der Kommission erhielten, obwohl sie ihre Anträge vor über einem Jahr eingereicht haben. Die Kommission ist an keine Fristen für Entscheidungen gebunden (AI 25.10.2018, vgl. ÖB 10.2019).

Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019, vgl. PACE 24.1.2019). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Türkei verzeichnet weiterhin eine schwere Rückwärtsentwicklung hinsichtlich des Funktionierens des Justizwesens. Die Bedenken bezüglich der Unabhängigkeit der türkischen Justiz, die unter anderem auf die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch von 2016 zurückzuführen ist, bleiben bestehen (EC 29.5.2019, vgl. USDOS 13.3.2019). Obgleich Richter gelegentlich immer noch gegen die Regierung entscheiden, haben sowohl die Ernennung von tausenden neuen, regierungstreuen Richtern als auch die potenziellen beruflichen Konsequenzen für ein Urteil gegen die Interessen der Exekutive in einem größeren Rechtsfall sowie die Auswirkungen der laufenden Säuberung die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt stark geschwächt (FH 4.2.2019).

Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019).

Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zweijährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).

1.4. Der BF1 und die BF2 unterliegen bei einer Rückkehr in die Türkei insbesondere aufgrund ihrer früheren beruflichen Tätigkeit für das XXXX in XXXX und ihrer Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen an oben genannten, der sogen. Gülen-Bewegung zuzurechnenden Bildungseinrichtungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Organe wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft bei bzw. Unterstützung der von diesen als terroristische Organisation eingestuften sogen. Gülen-Bewegung und können in diesem Fall nicht mit einem rechtsstaatlichen Grundprinzipien entsprechenden und fairen Verfahren gegen sie rechnen. Gegen den BF1 ist in der Türkei im Hinblick darauf bereits ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in die gg. Verfahrensakten unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF1 und der BF2 sowie der von ihnen vorgelegten Beweismittel, der bekämpften Bescheide und des Beschwerdeschriftsatzes, in eine vom BVwG beigeschaffte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, in die aktuelle Version des erstinstanzlich vom BFA bereits als Beweisquelle herangezogenen Länderinformationsblattes der Staatendokumentation sowie weitere vom BVwG ins Verfahren eingebrachte aktuelle länderkundliche Informationen und durch die Einholung von Auskünften des Zentralen Melderegisters, des Strafregisters und des Grundversorgungsdatensystems.

2.2. Identität und Staatsangehörigkeit von BF1, BF2 und BF3 waren anhand der vorgelegten nationalen Reisepässe feststellbar. Aus ebendiesen ergab sich auch der Zeitpunkt ihrer Ausreise aus dem Irak und der Einreise nach Österreich, sowie die Feststellungen zum Visum für den Schengen Raum. Identität und Staatsangehörigkeit der BF4 ergaben sich aus der vorgelegten Geburtsurkunde.

Die Feststellungen ihrer Zugehörigkeit zur türkischen Ethnie, zur sunnitisch-moslemischen Religionsgemeinschaft, zu ihren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat vor der Ausreise, zu ihren türkischen Sprachkenntnissen, zu ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet und zu ihrer strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergaben sich aus einer Zusammenschau der Angaben von BF1 und BF2 vor dem BFA mit den vom BVwG eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.

Die Feststellungen zu den Reisebewegungen zwischen dem Irak und der Türkei ergaben sich aus einer Zusammenschau der entsprechenden Angaben mit den entsprechenden Ein- und Ausreisestempeln in den vorgelegten Reisepässen des BF1 und der BF2.

Die Feststellungen zur Erwerbstätigkeit und zum Aufenthalt im Irak stützen sich auf die Angaben des BF1 und der BF2 sowie auf die dazu vorgelegten und als unbedenklich erachteten Nachweise. Auch die Feststellungen zu den Fort- und Weiterbildungen des BF1 und der BF2 ergaben sich aus den von ihnen vorgelegten Nachweisen.

Die Feststellungen zu den Maßnahmen zum Spracherwerb in Österreich und zu den Deutschkenntnissen des BF1 und der BF2 ergaben sich aus den dazu vorgelegten Nachweisen. Die übrigen Feststellungen zu ihrem Aufenthalt in Österreich ergaben sich gleichsam aus entsprechenden Nachweisen.

Der Leistungsbezug im Rahmen der staatlichen Grundversorgung sowie die strafgerichtliche Unbescholtenheit von BF1 und BF2 ließ sich anhand der entsprechenden Datenbankauszüge feststellen.

2.3. Die Feststellungen oben unter 1.2.1., 1.3., 1.4. und 1.5. stützen sich auf die vom BVwG eingesehene aktuelle Version des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA zur Türkei, das seinerseits auf der Grundlage der dort genannten Quellen erstellt wurde. Jene unter 1.2.2. stützen sich auf die vom BVwG ergänzend eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 14.04.2020 und jene unter 1.2.3. auf die vom BVwG ins Verfahren eingebrachten Medienberichte.

Die beiden erstgenannten Beweisquellen stellen sich im Lichte dessen, dass sie einerseits der belangten Behörde selbst zuzurechnen sind und andererseits sich ihre Aussagen im Wesentlichen mit denen des BF decken, als unstrittig dar. Die letztgenannte Beweisquelle stellt eine allgemein zugängliche und angesichts dessen auch bei der belangten Behörde als bekannt vorauszusetzende dar, die darüber hinaus in ihren Aussagen die in den beiden erstgenannten enthaltenen Aussagen inhaltlich bestätigt bzw. fortschreibt.

2.4. Zur Feststellung der Gefahr individueller staatlicher Verfolgung von BF1 und BF2 pro futuro aus oben genannten Gründen gelangte das erkennende Gericht aufgrund folgender Erwägungen:

2.4.1. Anlässlich seiner Erstbefragung am 25.07.2017 brachte der BF1, zu seinen Antragsgründen befragt, im Wesentlichen vor, dass er als Lehrer in einer Schule im Irak gearbeitet habe, die der Bewegung des Predigers Gülen zugeordnet werde. Er werde nun wegen einer ihm unterstellten Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung von der jetzigen türkischen Regierung verfolgt. Es gebe bereits gegen alle solche Lehrer einen Haftbefehl. Unmittelbar nach der Rückkehr würden alle Reisepässe von Gülen-Anhängern beschlagnahmt werden und diese würden festgenommen werden. Darüber hinaus würden Gülen-Anhängern weitere Repressalien drohen.

Anlässlich seiner Einvernahme vor dem BFA am 25.10.2018 gab er über konkrete Nachfrage an, dass er, als er in der Türkei gewesen sei, noch keine Probleme mit Behörden gehabt habe, er aktuell aber nicht einschätzen könne, ob ein Verfahren gegen ihn eingeleitet worden sei. Zu den Gründen, die er hinter einem etwaigen gegen ihn geführten Verfahren vermute, befragt führte er aus, dass er zwar im Jahr 2016 beim türkischen Konsulat im Irak gewesen sei um sich vom Wehrdienst freizukaufen und es damals schon Probleme, jedoch keinen enormen Druck gegeben habe, er allerdings annehme, dass das Konsulat über Listen der in Gülen-Schulen arbeitenden Lehrer verfügen würde. Er habe außerdem ein Konto bei der XXXX gehabt. Nach der Geburt seiner zweiten Tochter habe er erfahren, dass sie deren Geburt nicht beim Konsulat im Irak melden hätten können und ihre Tochter keine Aufenthaltsberechtigung für den Irak erhalten hätte. Während ihres Aufenthalts im Irak sei auch der Direktor der XXXX im Irak entführt worden. Seitens der Türkei sei derart viel Druck auf die autonome Kurdenregion im Irak ausgeübt worden, dass das Autonomiegebiet seine Schule aufkaufen habe müssen. Persönliche Bedrohungen habe es zwar keine gegeben, allerdings gehe er davon aus verfolgt zu werden, weil er stellvertretender Schuldirektor einer Gülen-Schule, Kunde der XXXX und Abonnent der Zeitung XXXX gewesen sei.

Die BF2 gab in der Erstbefragung zu ihrem Fluchtgrund im Wesentlichen an, dass sie und ihr Gatte Anhänger der Gülen-Bewegung seien und deshalb nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren könnten. Es sei bekannt, dass sie beide im Irak als Lehrer in einer sogen. Gülen-Schule unterrichtet hätten, weshalb ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei ihre Inhaftierung drohe. Zwei ihrer Cousins seien ebenso verdächtigt worden der Gülen-Bewegung anzugehören und deshalb in der Türkei inhaftiert worden.

In der Einvernahme vor dem BFA am 25.10.2018 führte sie zunächst aus, dass sie selbst keine Probleme mit Behörden in der Türkei gehabt habe, allerdings hätten ihre Brüder und Cousins Probleme. Einer ihrer Brüder und ein Cousin seien wegen ihrer Anhängerschaft in der Gülen-Bewegung noch in Haft. Auch sie seien in Gülen-Schulen als Lehrer tätig gewesen. Infolge des Putschversuchs seien mehrere ihrer Verwandten festgenommen worden. Sie selbst seien zu diesem Zeitpunkt im Irak gewesen und hätten gewusst, dass sie nicht mehr in die Türkei zurückkehren hätten können. Insgesamt seien drei ihrer Cousins festgenommen und vier weitere vom Dienst entlassen worden. Nachdem sie bereits in Österreich gewesen seien, seien auch ihre beiden Brüder festgenommen worden. In der Türkei wisse jeder, dass auch sie für eine Gülen-Schule gearbeitet habe.

Für die BF3 und die BF4 wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.

Die belangte Behörde erachtete eine individuelle Verfolgung des BF1 und der BF2 für nicht glaubhaft. Sie stützte diese Annahme im Wesentlichen auf die Argumentation, dass diese ihr Vorbringen vor dem BFA höchst vage, abstrakt und nicht nachvollziehbar dargelegt hätten. Das BFA hielt hinsichtlich des BF1 weiter fest, dass er sein Vorbringen insoweit gesteigert habe, als er zunächst angab, er sei an einer Bildungseinrichtung im Irak als Mathematiklehrer tätig gewesen, ehe er später angab er sei dort stellvertretender Direktor gewesen. Für das BFA stellte es sich als nicht nachvollziehbar dar, dass er diese exponiertere Stellung nicht sogleich angab. Zudem erachtete es die vorgelegten Beweismittel zur Untermauerung seines Vorbringens für nicht kohärent und daher nicht zweckdienlich. Letztlich erachtete es die belangte Behörde in Anbetracht seiner „größtenteils gleichbleibenden Angaben in Verbindung mit den vorgelegten Zertifikaten, der irakischen Aufenthaltskarten, des Dienstausweises sowie der Arbeitsbestätigung“ als glaubhaft, dass er als Mathematik-Lehrer am XXXX tätig war, zweifelte jedoch an der behaupteten leitenden Funktion dort.

Zur BF2 führte die belangte Behörde aus, dass auch sie ihre Anstellung als Lehrerin im Irak glaubhaft machen habe können. Eine individuelle Verfolgung sei aus diesem Umstand jedoch nicht abzuleiten. Aus dem Umstand, dass ihre Schulen geschlossen worden seien und sie sich vor ihrer Ausreise jeweils um ein Visum bemüht hätten, leitete das BFA ab, dass sie primär aus wirtschaftlichen Erwägungen ausgereist seien.

In der Beschwerde wurden die bisherigen Angaben der Beschwerdeführer wiederholt und darüber hinaus auf ein vom BF1 nach seiner Einvernahme vorgelegtes Schreiben seines Rechtsanwalts und einen Datenbankauszug verwiesen, aus welchem sich ergebe, dass bereits ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei. Diesbezüglich wurde auch kritisiert, dass es die belangte Behörde unterlassen habe diese Beweismittel einer Übersetzung zuzuführen.

2.4.2. Für das erkennende Gericht war im Lichte der schlüssigen Darstellungen des BF1 und der BF2 in deren Einvernahmen vor dem BFA sowie der Vorlage zahlreicher Beweismittel festzustellen, dass sie beide in der Gülen-Bewegung zuzurechnenden Schulen im Irak als Lehrer sowie der BF1 auch als Vizerektor erwerbstätig waren und sie Fortbildungen an der Gülen-Bewegung zuzurechnenden Bildungseinrichtungen absolviert haben. Vor allem aus diesen Verbindungen zur Gülen-Bewegung war abzuleiten, dass der BF1 und die BF2 von Strafverfolgungsorganen in der Türkei als Anhänger bzw. Unterstützer der Gülen-Bewegung angesehen werden.

Entgegen der Einschätzung des BFA war hinsichtlich des Vorbringens des BF1 zu seiner konkreten Funktion in der Bildungseinrichtung, in der er im Irak erwerbstätig war, nicht von einem gesteigerten Vorbringen auszugehen. Es stellte sich als plausibel dar, dass ein Lehrer erst nach einigen Jahren, in denen er an einer Schule tätig ist, eine administrative Führungsposition im Rektorat erlangt, wie dies auch der BF1 darstellte. Es belastete seine Glaubwürdigkeit auch nicht, dass er zunächst (bloß) angab, er sei als Mathematiklehrer tätig gewesen, zumal es ebenso als plausibel anzusehen war, dass ein (auch) als stellvertretender Direktor an einer Schule fungierender Lehrer weiterhin einer Lehrtätigkeit nachgeht, auch wenn die vorgelegten Beschäftigungsnachweise zeigten, dass er bereits seit 2010 als Vizerektor am XXXX tätig war. Unabhängig davon ließ jedoch schon seine Tätigkeit als Lehrer an einer sogen. Gülen-Schule in einer Zusammenschau mit seinen sonstigen Verbindungen zur Gülen-Bewegung seine Qualifizierung als Anhänger bzw. Unterstützer der Gülen-Bewegung als maßgeblich wahrscheinlich erscheinen.

Soweit das BFA die Plausibilität des Vortrags des BF1 und der BF2 angesichts ihrer legalen Ausreise anzweifelte, war dem entgegenzuhalten, dass der bloße Umstand, dass die Beschwerdeführer ihre Ausreise planten und sich zuvor gültige Schengen Visa organisierten, nicht gegen die Wahrscheinlichkeit ihrer Verfolgung in der Türkei spricht. Die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen gegen Gülen Anhänger richteten sich bisher gegen zigtausende Personen und halten bis dato an. Die beiden Beschwerdeführer waren weder im türkischen Staatsdienst noch auf türkischem Staatsgebiet tätig, weshalb es auch als nachvollziehbar erschien, dass sie erst die weiteren Entwicklungen abwarteten, ehe sich konkrete Probleme – insbesondere die Schließung bzw. Übernahme ihrer Schulen – auch im Irak zeigten.

Aus den herangezogenen Länderinformationen wurde erkennbar, dass landesweite und systematische Ermittlungen gegen und Festnahmen der von der türkischen Regierung als potenzielle Gülen-Anhänger angesehenen Personen nach wie vor anhalten. Vor diesem Hintergrund war es auch glaubhaft, dass gegen den BF1 inzwischen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eingeleitet wurde.

Der belangten Behörde wurde dahingehend in der Beschwerde auch zu Recht angelastet, dass ein vom BF1 vorgelegtes Schreiben seines Rechtsanwalts sowie ein vorgelegter Auszug aus dem türkischen National Judiciary Informatics System (UYAP) (AS 117ff im gg. Verfahrensakt) keiner Übersetzung zugeführt wurden, zumal diese Beweismittel demnach sein Vorbringen untermauert hätten.

In einer Zusammenschau dessen mit den persönlichen Profilen des BF1 und der BF2 als mutmaßliche Angehörige bzw. Unterstützer der Gülen-Bewegung war in der Folge von einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit zukünftiger staatlicher Verfolgungshandlungen gegen sie auszugehen.

2.5. Die aktuelle Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer stellt sich mit Blick auf den gg. Sachverhalt für das Gericht als hinreichend geklärt und in einer Gesamtschau als unstrittig dar.

Der jüngsten Version des Länderinformationsblattes zur Lage in der Türkei vom 29.11.2019 war zu entnehmen, dass die Kriterien der türkischen Staatsorgane für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft bei der sog. Gülen-Bewegung, die notorischer Weise von der Türkei als Terrororganisation angesehen wird, sehr vage sind. In Anbetracht des insoweit glaubhaften Vorbringens war darauf abzustellen, dass Behörden und Gerichte verdächtige Personen nicht nur dann als Terroristen einordnen, wenn diese tatsächlich ein aktives Mitglied der Gülen-Bewegung waren oder sind, sondern auch dann, wenn sie bloß eine von der Bewegung betriebene Schule besuchten oder eine Geldeinlage bei der XXXX nach dem 25.12.2013 vornahmen.

Die Beschwerdeführer waren wiederum in der Gülen-Bewegung zugerechneten Bildungseinrichtungen als Pädagogen bzw. der BF1 auch in der Administration beruflich tätig und absolvierten darüber hinaus weitere Fortbildungsmaßnahmen in ebensolchen Einrichtungen, wie sie im Übrigen auch andere persönliche Verbindungen zu dieser Bewegung darlegten, und war in einer Gesamtschau dieser Aspekte daher eine ihnen drohende staatliche Verfolgung als mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung als maßgeblich wahrscheinlich anzusehen.

Dass sie im Falle einer Festnahme mit ebenso maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit keinem fairen Strafverfahren rechnen können und ihnen wegen dieses gegen sie erhobenen Vorwurfs eine langjährige Haftstrafe wegen einer ihnen unterstellten oppositionellen Gesinnung droht, war in Anbetracht der eingesehenen länderkundlichen Informationen als objektiviert anzusehen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Mit Art. 129 B-VG idF BGBl. I 51/2012 wurde ein als Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zu bezeichnendes Verwaltungsgericht des Bundes eingerichtet.

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 in Rechtssachen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden.

Gemäß Art. 132 Abs. 1 Z. 1 B-VG kann gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit Beschwerde erheben, wer durch den Bescheid in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet.

Gemäß Art. 135 Abs. 1 B-VG iVm § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG) idF BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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