Entscheidungsdatum
22.05.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W151 2189896-1/14E
W151 2189899-1/20E
W151 2189898-1/13E
W151 2189897-1/13E
W151 2225464-1/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Doris KOHL, MCJ über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) mj. XXXX , geb. XXXX , 4.) mj. XXXX , geb. XXXX und 5.) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz (Ast) vom 13.02.2018, Zl. 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX , 4.) XXXX und 5.) vom 21.10.2019, Zl. XXXX wegen §§ 3, 8, 10 und 57 AsylG 2005, sowie §§ 46, 52 und 55 FPG 2005 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung
A)
I. beschlossen:
Das Verfahren zu XXXX , geb. XXXX , wird hinsichtlich des Spruchpunktes I. Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz (Ast) vom 13.02.2018, Zl. XXXX wegen Zurückziehung der Beschwerde zu Spruchpunkt I. eingestellt.
II. zu Recht erkannt:
1. Die Beschwerden von XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX und mj. XXXX hinsichtlich Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden abgewiesen.
2. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX und mj. XXXX , der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
3. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , XXXX , mj. XXXX , mj. XXXX und mj. XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 21.05.2021 erteilt.
4. Die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Erstbeschwerdeführer (in der Folge BF 1) und die Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge BF 2) reisten mit den minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführern (in der Folge BF 3 bzw. BF 4) illegal in das Bundesgebiet ein und stellten am 06.11.2015 - BF 3 und BF 4 hierbei vertreten durch die BF 2 - Anträge auf internationalen Schutz. Am 07.11.2015 erfolgte die Erstbefragung des BF 1 und der BF 2 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
2. Am 12.12.2017 erfolgten niederschriftliche Einvernahmen des BF 1 und der BF 2 durch das Bundesamt für Fremdenrecht und Asyl (BFA).
Der BF 1 gab zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, er habe in einem Haus neben dem Haus des Bürgermeisters der Provinz Parwan gelebt. Auf der anderen Seite sei eine Polizeistation gewesen. Er sei von Taliban aufgefordert worden, ihnen das Haus für einen Angriff auf den Bürgermeister und die Polizei zur Verfügung zu stellen und sei aufgrund seiner Weigerung in der Folge bedroht worden. Dies habe er dem Polizeichef erzählt. Dieser habe gefordert, dass der BF 1 das Haus der Polizei gebe und woanders wohne, damit diese einen Polizeiposten errichten könnten. Der BF 1 habe sich geweigert, woraufhin er vom Polizeichef mit Verhaftung bedroht worden sei. Aufgrund dessen habe er nicht länger in Afghanistan bleiben können. Die BF 2 stützte sich in der Einvernahme im Wesentlichen auf die Fluchtgründe des BF 1 und gab an, keine eigenen Fluchtgründe zu haben.
3. Mit den angefochtenen Bescheiden vom 13.02.2018 wies das BFA die Anträge der BF 1 bis BF 4 auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III). Gegen die Beschwerdeführer wurden Rückkehrentscheidungen erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
4. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde.
5. Am 21.03.2018 wurden die Beschwerden dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
6. Am 26.09.2019 wurde ein Antrag auf Familienverfahren für das nachgeborene Kind XXXX , geb. XXXX (Fünftbeschwerdeführer oder BF 5) gestellt.
7. Mit Bescheid vom 21.10.2019, Zl. XXXX wies das BFA den Antrag des BF 5 auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III). Gegen den Beschwerdeführer wurden Rückkehrentscheidungen erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
8. Dagegen erhob der BF 5 fristgerecht Beschwerde, die am 15.11.2019 dem BVwG zur Entscheidung vorgelegt wurde.
9. Am 13.11.2019 führte das BVwG eine öffentlich mündliche Verhandlung durch, in deren Rahmen der BF 1 seine Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I des bekämpften Bescheides zurückzog.
10. Auf Anfrage des BVwG übermittelte die Staatendokumentation eine Anfragebeantwortung vom 24.01.2020 zur Nachbehandlung von Schilddrüsenoperationen.
11. Die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation wurde den Beschwerdeführern im Parteiengehör übermittelt. Diese gaben mit Schreiben vom 19.02.2020 eine Stellungnahme ab.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
BF 1, BF 2, BF 3, BF 4 und BF 5 stehen zueinander im Verhältnis der Familienangehörigen iSd § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005. Es war ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG zu führen.
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
Die Beschwerdeführer reisten illegal nach Österreich ein und sind jedenfalls seit 07.11.2019 in Österreich aufhältig.
Der BF 1 führt den Namen XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, ist am XXXX geboren und stammt aus der Provinz Parwan. Er bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist traditionell mit XXXX (BF 2) verheiratet, die Ehe wurde von den Großvätern arrangiert. Gemeinsam haben sie drei minderjährige Kinder. Diese führen die Namen XXXX (BF 3), XXXX (BF 4) und XXXX (BF 5).
Der BF 1 besuchte vier Jahre die Grundschule in Afghanistan. Der BF 1 hatte ein Schneidereigeschäft sowie acht Geschäftslokale, die er vermietete. Der BF 1 erwirtschaftete in seiner Schneiderei in Afghanistan ca. 500 bis 600 Afghani (ca. 6 bis 7 EUR) pro Tag. Zudem arbeitete er, wenn er in der Schneiderei keine Aufträge hatte, als Taxiunternehmer.
Die BF 2 ist afghanische Staatsbürgerin, geb. am XXXX und stammt aus der Provinz Parwan. Sie ist gesetzliche Vertreterin der minderjährigen BF 3, BF 4 und BF 5. Die BF 2 bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Ihre Muttersprache ist Dari. In Afghanistan war sie Analphabetin, sie besuchte lediglich vom 5. bis zum 7. Lebensjahr eine Moschee. Die BF 2 ging in Afghanistan keinem Beruf nach sondern war Hausfrau.
Die Familie lebte in einem Eigentumshaus in der Stadt XXXX , in dem nach wie vor die Großeltern des BF 1 leben. Zwei jüngere Brüder, drei Schwestern sowie die Mutter des BF 1, sowie jedenfalls noch ein Onkel und eine Tante leben noch in Afghanistan. Der Vater des BF 1 ist bereits verstorben. Verwandte der BF 2, Großeltern, Eltern und Geschwister, leben noch in der Provinz Parwan, Distrikt Bayan, Dorf XXXX .
1.2. Zum Fluchtgrund der BF 2, BF 3, BF 4 und BF 5:
Die Beschwerdeführer haben keine asylrelevanten Gründe für das Verlassen ihres Heimatstaates dargetan. Den Beschwerdeführern droht in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung keine Verfolgung.
Die BF 2 führt kein selbstbestimmtes Leben und strebt die Führung eines solchen auch nicht an. Die Lebensweise der BF 2 ist nicht derart selbstbestimmt, dass dies bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gegen die sozialen Sitten verstoßend und die BF 2 exponierend wahrgenommen wird. Eine solche Lebensweise und eine sich an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild ist auch nicht wesentlicher Bestandteil ihrer Identität.
Bei BF 3, BF 4 und BF 5 sind keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklungen zu erkennen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westlichen Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann.
Die Beschwerdeführer sind im Fall ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt.
1.3. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:
Die Beschwerdeführer leben in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt. Bis auf die Kernfamilie (BF 1 bis BF 5) befinden sich in Österreich keine weiteren Angehörigen oder nahe Verwandte der Beschwerdeführer.
Der BF 1 verfügt über eine ÖSD-Zertifikat A2 und besuchte Deutschkurse B1. Er leistete gemeinnützige Hilfstätigkeiten.
Die BF 2 unterzog sich in Österreich am 07.08.2018 einer Operation zur Entfernung der Schilddrüse. Infolge dessen bedarf sie regelmäßiger medikamentöser Behandlung mit Euthyrox 175 µg 1 Tabl. tägl., Rocaltrol 0,25 µg 2 Kapseln tägl. und Maxikalz-Medikation mit 1000 mg 2 x 1 Tabl. täglich. Weiters bedarf die BF 2 einer Vitamin D Substitution mit Oleovit 30 gtt pro Woche. Derzeit sind alle zwei Monate Kontrollen erforderlich.
Die BF 2 verfügt über ein ÖSD-Zertifikat A1, nahm an einem Werte- und Orientierungskurs, nahm im Jahr 2017 an einem Projekt "Sprachwerkstatt" des Kulturvereins Neue Hoffnung teil und besucht in der Folge mehrere Deutschkurse. Sie leistete gemeinnützige Tätigkeiten unter anderem für die Pfarre XXXX .
BF 3 und BF 4 besuchen derzeit die Volksschule XXXX . Der BF 5 ist ein in Österreich geborenes Baby.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten und stehen in der Grundversorgung.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:
Im Falle einer Verbringung der Beschwerdeführer in die Herkunftsstaat Afghanistan droht diesen ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.
Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um eine fünfköpfige Familie mit drei minderjährigen Kindern. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat könnten BF 1 und BF 2 aktuell die grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, für sich und ihre drei minderjährigen Kinder nicht in ausreichendem Maße befriedigen.
Die BF 2 bedarf laufend medikamentöser Behandlung und regelmäßiger Kontrollen. Zwar besteht in den Städten Herat und Mazar-e Sharif grundsätzlich die Möglichkeit, kostenlose Behandlung in öffentlichen Krankenhäusern in Anspruch zu nehmen, die Patienten sind jedoch oft darauf angewiesen, die Kosten für die Anschaffung von Medikamenten selbst zu tragen. Die benötigten bzw. vergleichbare Wirkstoffe sind in den in Frage kommenden Ansiedelungsgebieten Herat und Mazar-e Sharif wie folgt verfügbar:
Herat:
* Vectical (Wirkstoff: Calcitrol): 1 Tube - 420 AFN; Alternative ALFA-Rio (Wirkstoff: Alfacalcidol): 10 Einheiten - 70 AFN
* Eltroxin (Wirkstoff Levothyroxin): 10 Einheiten - 85 AFN
* Thyroxin Sodium (Wirkstoff: Thyroxin): 10 Einheiten - 170 AFN
Mazar-e Sharif:
* ALFA-Rio (Wirkstoff: Alfacalcidol): 10 Einheiten - 60 AFN
* Eltroxin (Wirkstoff Levothyroxin): 10 Einheiten - 75 AFN
* Thyroxin Sodium (Wirkstoff: Thyroxin): 10 Einheiten - 180 AFN
Die Beschwerdeführer sind nicht in der Lage, in Afghanistan die Kosten für die Anschaffung von erforderlichen Medikamenten zu tragen, zumal jedenfalls noch der BF 5 ständiger Betreuung eines Elternteils bedarf, die BF 2 jedoch über keinerlei Schulbildung und Berufserfahrung verfügt und somit nicht in der Lage sein wird, durch Teilnahme am afghanischen Arbeitsmarkt maßgeblich zum Familienunterhalt beizutragen. Der BF 1 verfügt über eine vierjährige Schuldbildung und Berufserfahrung als Schneider und verfügt weiters noch über Geschäftslokale in der Herkunftsprovinz Parwan, aus deren Vermietung nicht gesichert ist, dass er Erträge (ca. 1500 Afghani pro vermietetes Geschäftslokal pro Monat) lukrieren kann. Dies deshalb, da aus den derzeit vom Onkel des BF 1 eingehobenen Erträgen der Unterhalt der weiterhin im Haus des BF 1 lebenden Großeltern geleistet, sodass die Beschwerdeführer nicht in der Lage sind, auf diese Erträge zurückzugreifen, um die Kosten einer Wohnmöglichkeit in Herat oder Mazar-e Sharif sowie der grundlegenden Lebensbedürfnisse der BF 1 bis BF 5 zu decken, sowie die medikamentöse Behandlung der BF 2 sicher zu stellen. Der BF 1 wäre somit gezwungen, da eine Anstellung nicht gewährleistet ist, zumindest als Tagelöhner einen Erwerb zu erwirtschaften und für das wirtschaftliche Auskommen der Familie zu sorgen. Das Gehalt eines qualifizierten angestellten Facharbeiters, wie Maurer, Schneider etc. liegt zwischen 300 Euro und 400 Euro pro Monat, die meisten Facharbeiter sind jedoch selbständig und arbeiten im Tageslohn, der, abhängig von den Fähigkeiten, zwischen 12 Euro und 18 Euro liegt. Der BF 1 selbst erwirtschaftete in seiner Schneiderei in Afghanistan ca. 500 bis 600 Afghani (ca. 6 bis 7 EUR) pro Tag. Der BF 1 wird somit nicht in der Lage sein, mit seinem zu erwirtschaftenden Einkommen die notwendigen Lebensbedürfnisse für die fünfköpfige Familie zu gewährleisten.
Die Beschwerdeführer haben in Herat und Mazar-e Sharif keine familiären Anknüpfungspunkte. Sie sind nicht in der Lage, im Fall einer Rückkehr in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif durch dort lebende Familienangehörigen Unterstützung zu erlangen. Die Beschwerdeführer würden daher aktuell in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zugrunde gelegt:
a) Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Wien am 13.11.2019 (siehe unten 1.5.1.),
b) EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019 (siehe unten 1.5.2.),
c) UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchsuchender des hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) vom 30. August 2018 sowie den dazugehörigen Begleitbrief,
d) Anfragebeantwortung der Staatendokumentation "Nachbehandlung von Schilddrüsenoperationen" vom 24.01.2020 (siehe unten 1.5.3.),
e) Anfragebeantwortung der Staatendokumentation "Verdienst von Facharbeitern" vom 16.03.2020 (siehe unten 1.5.3.)
(nachfolgend werden auszugsweise die für die Person des Beschwerdeführers relevanten Stellen angeführt).
1.5.1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Wien am 13.11.2019:
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019).
In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
[...]
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 20162018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
[...]
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
[...]
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend NichtPaschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen TalibanFigur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die JundullahFraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten "ein nützliches Fundraising-Tool" sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).
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