Entscheidungsdatum
30.06.2020Norm
AsylG 2005 §13 Abs2 Z2Spruch
W107 1426298-2/29E
W107 1426298-3/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerden von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1) 11.05.2018, Zl. XXXX und 2) vom 20.09.2018, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.05.2020 und am 12.06.2020 zu Recht:
A)
I. zu 1) Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis VII. des angefochtenen Bescheids wird als unbegründet abgewiesen.
II. zu 2) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
I. zu 1) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
II. zu 2) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt und unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte hier am 18.11.2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 19.11.2011 wurde der Beschwerdeführer von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute, seinem Fluchtgrund und allfälligen Rückkehrgefährdungen befragt. Als Beweggrund für seine Ausreise aus Afghanistan gab der Beschwerdeführer an, Ware mit einem Esel transportiert zu haben, als diese vom Esel gefallen sei, habe er erkannt, dass es sich um Heroin und Kokain handle. Er habe versucht, alles einzusammeln. Der Arbeitgeber wolle ihn umbringen, weil dieser geglaubt habe, der Beschwerdeführer habe die Ware versteckt.
3. Am 29.11.2011 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl; BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Hier gab er zusammengefasst an, mit zwei anderen Personen die Ware über die Berge zur tadschikischen Grenze gebracht zu haben, viermal habe dies problemlos geklappt, dann habe sich beim Transport der Maultiere mit einem Seil über ein Tal die Ladung gelöst und das meiste davon sei in das Tal gefallen. Der Auftraggeber sei der Meinung gewesen, die Ware sei vom Beschwerdeführer gestohlen geworden und dieser solle daher getötet werden. Der Beschwerdeführer habe bis dahin nicht gewusst, was er transportiere.
4. Eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers erfolgte am 28.03.2012 durch das BAA in der Justizanstalt Graz- Jakomini. Hierbei behauptete er nunmehr im Wesentlichen, dass er für den Drogenhandel missbraucht worden sei. Sein Freund XXXX , der den „Job“ organisiert habe, sei jedoch schon verstorben. Nach einem Monat habe der Beschwerdeführer erkannt, dass in den Säcken Drogen seien, weil an einer engen Stelle in den Bergen die Ladung umgekippt und die Säcke aufgegangen seien. Er habe erst zu diesem Zeitpunkt erkannt, dass sich darin Drogen befunden hätten. Sie seien zu dritt gewesen und hätten nicht alles von den Drogen retten können. Nach der Übergabe der Ladung habe es Probleme mit den Auftraggebern gegeben, weil diese der Ansicht gewesen seien, dass sie die Ware gestohlen bzw. weiterverkauft hätten. Er und sein Freund XXXX seinen in einen Keller gesperrt worden, sie hätten aber mit Hilfe eines anderen Freundes auf einem Pferd fliehen können. XXXX habe zu ihnen gesagt „entweder weitermachen oder verschwinden“. Der Beschwerdeführer sei für einige Tage daher nach Panjir geflüchtet, dann aber nach XXXX ins Familienhaus zurückgekehrt, nach einiger Zeit wieder nach Panjir gegangen, weil er „von Leuten“ gesucht worden sei, aber wieder nach XXXX zurückgekommen, wo er sich dann versteckt gehalten habe. Von dort sei er schließlich 2010 in den Iran und dann Richtung Europa geflüchtet.
5. Mit Bescheid des Bundesasylamts (nunmehr: BFA) vom 05.04.2012 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I) als auch der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II) abgewiesen. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III).
6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, damals vertreten durch den amtswegig beigegebenen Rechtsvertreter, rechtzeitig vollumfänglich Beschwerde.
7. Das BFA legte die Beschwerde und den Akt des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
8. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.03.2015, OZ 15E, wurde - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.10.2014 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eines länderkundigen Sachverständigen und des (damaligen) Rechtsvertreters – der oben genannte Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen (Spruchpunkt A.). Die Revision wurde gem. Art. 133 Abs 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B.).
9. Am 23.02.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari erneut niederschriftlich einvernommen. Hierbei gab er an, dass sein Vater 2015 gestorben sei, seine übrige Familie – Mutter und Geschwister – aber alle in XXXX im Familienhaus leben würden, der große Bruder bei der Armee und der jüngere Bruder bei einer Bank arbeite, eine Schwester studiere, er mit der Familie in Kontakt sei und es ihr gut gehe. In Österreich habe der Beschwerdeführer nunmehr eine Beziehung zu einer Frau, mit der er im gemeinsamen Haushalt wohne, sie würden ein gemeinsames Kind erwarten. Nach Afghanistan könne er wegen seiner langen Abwesenheit von dort nicht mehr zurück, er fühle sich wie ein Europäer. Er sei mehrmals straffällig geworden und 4 Jahre und 7 Monate in Österreich im Gefängnis gewesen.
10. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid des BFA vom 11.05.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.); gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.) und ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
11. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seinen amtswegig beigegebenen Rechtsvertreter fristgerecht vollumfänglich Beschwerde (protokolliert zu W107 1426298-2).
12. Mit Bescheid des BFA vom 20.09.2018 wurde ausgesprochen, dass der Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 24.08.2018 verloren habe. Rechtlich stützte sich das BFA auf die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft Graz gegen den Beschwerdeführer wegen §§ 15, 83 Abs. 1 StGB, geführt unter der AZ XXXX . Unter einem wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung der Verlust des Aufenthaltsrechtes mitgeteilt.
13. Dagegen erhob der Beschwerdeführer durch seinen amtswegig beigegebenen Rechtsvertreter fristgerecht vollumfänglich Beschwerde (protokolliert zu W107 1426298-3).
Das BFA legte die Beschwerde und den Akt des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
14. Mit Schreiben des BVwG vom 17.04.2020 wurde dem Beschwerdeführer, vertreten durch den damals ausgewiesenen Rechtsvertreter, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Stand 13.11.2019, übermittelt. Es wurde ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt. Eine Stellungnahme wurde nicht abgegeben.
15. Mit Schreiben vom 13.05.2020 legte der (ursprünglich) amtwegig beigegebene Rechtsvertreter, die ARGE Rechtsberatung -Diakonie, die vom Beschwerdeführer erteilte Vollmacht zurück. Mit Schreiben vom 18.05.2020 teilte die ARGE mit, keinen Kontakt zum Beschwerdeführer zu haben.
16. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 25.05.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Da der Beschwerdeführer trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen ist, wurde die Verhandlung vertagt.
In Folge wurde dem Beschwerdeführer die Ladung zur mündlichen Verhandlung durch das Stadtpolizeikommando Graz im Amtshilfewege rechtswirksam zugestellt.
17. Am 12.06.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari erneut eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Beweggründen für seine Ausreise aus Afghanistan und zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt sowie seine Lebensgefährtin als Zeugin einvernommen wurden. In die Verhandlung wurden zudem die aktuellste, am Tag der Verhandlung verfügbare Version des Länderinformationsblatts zu Afghanistan (Stand: 13.11.2019, in der Fassung der Kurzinformationen vom 18.05.2020) und die Berichte von EASO und UNHCR (in den aktuellen Fassungen) sowie jene, die in der gegenständlichen Beschwerde angeführt wurden, in das Verfahren eingeführt. Der Beschwerdeführer verzichtete auf eine Aushändigung der aktuellen LIB und auf eine Stellungnahme.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einvernahme der Zeugin, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten (Länder-)Berichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Fluchtgrund:
Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Seine Muttersprache ist Dari und kann in Dari lesen und schreiben. Zudem spricht er sehr gut Deutsch und Englisch. Er ist der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekennt sich zum Islam sunnitischer Ausrichtung.
Der Beschwerdeführer legte im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG eine Tazkira im Original, ausgestellt am 06.03.2009 vom Tazkiraamt der Provinz Panjshir, samt beglaubigter englischer Übersetzung vom 28.05.2018, vor. Laut Tazkira ist der Beschwerdeführer in der Provinz Panjshir, Afghanistan, geboren. Seine Identität steht somit fest (VP vom 12.06.2002, Beilage ./3).
Der Beschwerdeführer lebte gemeinsam mit seiner Familie (seinen Eltern, seinen drei Brüdern sowie zwei Schwestern) in XXXX , XXXX und ist dort aufgewachsen. Er besuchte neun Jahre die Schule in XXXX , sechs Jahre das Lycee XXXX und – nach seiner Rückkehr aus dem Iran - drei Jahre die Abendschule.
Der Beschwerdeführer ging – sowohl in Afghanistan als auch im Iran - mehreren beruflichen Tätigkeiten nach: während des Bürgerkriegs (Anmerkung: 1992-1996) arbeitete er nach der Schule ab der zweiten Klasse als Lehrling vier bis fünf Stunden täglich gegen geringen Lohn in einer KFZ – Werkstatt in XXXX , die einem Freund des Vaters gehörte. Auch als Autowäscher auf der Straße in XXXX hat sich der Beschwerdeführer etwas Geld verdient. Im Iran, wo er von 1999 bis 2004/2005 lebte, arbeitete er fünf, sechs Monate bei einer Fensterfirma und verdiente gut. 2004/2005, nach seiner Rückkehr aus dem Iran, hat er sich von Freunden Geld geliehen und in XXXX um XXXX einen Supermarkt gekauft. Er war Inhaber bzw. Chef des Supermarkts und hat dort alles gemacht, von der Warenbestellung bis zu den finanziellen Angelegenheiten. Als sein Bruder XXXX aus dem Iran nach XXXX zurückkehrte, hat dieser im Geschäft mitgearbeitet, als der Beschwerdeführer Afghanistan via Iran Richtung Europa verließ, führte der Bruder das Geschäft weiter (VP S. 15). Der Supermarkt wurde vor etwa eineinhalb Jahren verkauft. Das Geld aus dem Verkauf wurde für die Hochzeit des Bruders verwendet.
Für rund vierzig bis fünfundvierzig Tage arbeitete der Beschwerdeführer für eine kriminelle Bande in XXXX , von der er beauftragt wurde, nachts Drogen über die Berge via XXXX an die tadschikische Grenze zu schmuggeln. Der Beschwerdeführer hat von dieser kriminellen Bande keine Verfolgung mehr zu befürchten, er wird von diesen nicht (mehr) gesucht (VP. S. 17).
Die Kernfamilie des Beschwerdeführers stammt aus der XXXX Der Vater des Beschwerdeführers war als LKW-Fahrer tätig. Früher hatte er einen eigenen LKW, später nicht mehr. Er hat ca. 28 Jahre bei der staatlichen Transportfirma „ XXXX “ als LKW - Fahrer und nach dem Bürgerkrieg bei privaten Firmen gearbeitet. Er hat Lebensmittel aus Tadschikistan und Usbekistan nach Afghanistan und später Öl transportiert. Die Mutter arbeitet nicht, sie ist zu Hause.
Der Bruder XXXX arbeitet beim Militär, im Geheimdienst. Er ist Beamter, aber nicht in der Verwaltung tätig, vielmehr ist er in ganz Afghanistan unterwegs. Stationiert ist er in einer Kaserne in XXXX . Er trägt bei der Berufsausübung Uniform, aber auch Zivilkleidung. Was genau er dort macht, ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt. XXXX ist seit eineinhalb Jahren verheiratet, hat drei kleine Kinder und wohnt aktuell im Familienhaus. Seine Frau ist zuhause, sie arbeitet nicht.
Der Bruder XXXX hat vor der Coronakrise bei der XXXX in XXXX gearbeitet. Er war am Schalter tätig, ist aber seit ca. vier Monaten arbeitslos. Er hat die Schule besucht und die Universität in XXXX , wo er Jus studierte, dies aber nicht beendete. Er erwartet, die Stelle in der Bank wiederzubekommen. Er ist jetzt ca. 31 Jahre alt. Seine Frau ist zuhause und arbeitet nicht.
Der Bruder XXXX befindet sich aktuell in Griechenland, er ist ca. 21 Jahre alt, hat die Schule abgeschlossen und spricht französisch und russisch. Er lebt in Kreta in einem Flüchtlingsheim. Er arbeitet dort nicht.
Eine Schwester des Beschwerdeführers studiert Journalismus, die andere unterstützt die Mutter zu Hause. Darüber hinaus lebt noch ein Onkel des Beschwerdeführers in XXXX sowie ein Onkel in XXXX im Panshirtal und arbeitet als Landwirt. Weiters hat der Beschwerdeführer sieben Tanten vs und sieben Tanten ms, eine Tante ms lebt in Amerika, eine in Kanada und die anderen leben in XXXX . Beide haben Kinder und leben diese in Afghanistan. Mit einigen hat der Beschwerdeführer auch Kontakt.
Von 1378 bis 1384 afghanische Zeitrechnung (= 1999 bis 2005) ging der Beschwerdeführer mit seiner gesamten Familie wegen des Talibanregimes in den Iran, nach Teheran. 2004/2005 kehrte er mit der Familie wieder nach Afghanistan, nach XXXX in das Familienhaus, das dem Vater gehörte, zurück. Vor der Flucht wurde das Haus verpachtet und die Pächter haben das Haus weiterverpachtet. Nach der Rückkehr war das Haus zerstört und die Familie hat es gemeinsam wiederaufgebaut. Grundstücke hat die Familie nicht. Das Haus hat 5-6 Zimmer und einen Innenhof. Dort leben aktuell die Mutter, der ältere Bruder namens XXXX und der jüngerer Bruder XXXX . Der Bruder namens XXXX ist nach Griechenland geflüchtet und lebt jetzt dort. Die zwei leiblichen Schwestern, eine namens XXXX , ist verheiratet seit einem Jahr, lebte bis zur Ehe auch im Familienhaus und jetzt mit ihrem Ehemann in einem eigenen Haus in XXXX . Die Schwester XXXX lebt im Familienhaus. Die zwei Stiefschwestern, Kinder des Vaters aus erster Ehe, sind älter als der Beschwerdeführer. XXXX ist verheiratet, ca. 40-45 Jahre alt und hat eine Tochter. Die andere, XXXX , ist auch verheiratet und ist vier Jahre jünger als XXXX . Sie wohnt aktuell mit ihrer Familie in Panjshir. Der Beschwerdeführer hat zu allen guten und regelmäßigen Kontakt und es geht allen gut. Meistens erfolgt der Kontakt über Facebook, manchmal auch via Telefon.
Im Jahr 2011 verließ der Beschwerdeführer Afghanistan, flüchtete via Iran nach Europa und reiste am 18.11.2011 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat nie politisch tätig. Er hegt keine feindliche politische Gesinnung (VP S. 16).
Dem Beschwerdeführer wird wegen des im Zuge des Asylantrags 2011 vorgebrachten Fluchtgrundes in seinem Herkunftsstaat nicht mehr verfolgt (VP S. 17).
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat jemals einer konkret gegen seine Person gerichteten Bedrohung oder Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung ausgesetzt gewesen wäre oder ihm im Falle seiner Rückkehr eine solche droht.
1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer hält sich seit November 2011 durchgehend in Österreich auf, bezieht seit 13.03.2013 keine Leistungen mehr aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. Er hat mehrere Deutschkurse (Niveau A1, A1-A2 und A1+) besucht, ein Nachweis für den Besuch des Kurses Niveau B1 wurde nicht vorgelegt. Der Beschwerdeführer spricht sehr gut Deutsch (VP S. 17).
Der Beschwerdeführer erhielt mit Bescheid des AMS vom 20.12.2017 eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Schlosser –Schweißer für die Zeit 20.12.2017 bis 19.10.2018 im Ausmaß 40 Wochenstunden und einem monatlichen Entgelt von EUR XXXX brutto (BFA Akt, AS 475). Als Arbeitgeber ist die Firma XXXX GmbH in Graz ausgewiesen. Eine Meldung der Beschäftigungsaufnahme sowie diesbezügliche Lohnzettel wurden nicht vorgelegt (BFA, AS 471). Gemäß Mitteilung des AMS vom 23.02.2016 hatte der Beschwerdeführer Anspruch auf den Bezug von Arbeitslosengeld für den Zeitraum 05.02.2016 bis 23.06.2016 in Höhe von EUR 23,56 täglich (BFA, AS 367).
Seit April 2012 bezieht der Beschwerdeführer keine Leistungen mehr aus der staatlichen Grundversorgung (s. GVS – Auszug vom 10.06.2020).
Der Beschwerdeführer ist in Österreich mehrfach strafrechtlich bescholten und auch zu unbedingten Haftstrafen verurteilt worden (s. Strafregisterauszug vom 10.06.2020):
Mit Urteil des XXXX zu XXXX vom 02.08.2012, rechtskräftig am 09.04.2013, wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs Unmündiger nach §§ 206 Abs. 1, 201 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt.
Mit Urteil des XXXX zu XXXX vom 16.11.2016, rechtskräftig am 22.11.2016, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Monaten verurteilt, wobei die gesamte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
Mit Urteil des XXXX zu XXXX vom 14.03.2017, rechtskräftig am 20.03.2017, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall, § 27 Abs. 3, § 27 Abs. 2a zweiter Fall und § 27 Abs. 2a erster Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von fünf Monaten verurteilt und wurde die bedingte Nachsicht der Strafe zu dem Urteil des XXXX zu XXXX widerrufen.
Mit Urteil des XXXX zu XXXX vom 30.09.2019, rechtskräftig am 04.10.2019, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der versuchten Körperverletzung nach § 15 StGB, § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Monaten verurteilt.
Mit Urteil des XXXX zu XXXX vom 03.06.2019, rechtskräftig am 17.12.2019, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall, § 27 Abs. 2 SMG, wegen des Vergehens der versuchten schweren Körperverletzung nach § 15 StGB, §§ 83, 84 Abs. 2 StGB, wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall sowie wegen des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 15 StGB, § 269 Abs. 1 1. Fall StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil des XXXX zu XXXX vom 30.09.2019 zu einer Zusatzstrafe in Form einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von einem Jahr verurteilt.
Der Beschwerdeführer wurde während seines mittlerweile mehr als achtjährigen Aufenthalts in Österreich zu Freiheitsstrafen, auch unbedingten, im Ausmaß von insgesamt fünf Jahren und elf Monaten verurteilt. Laut Strafregisterauskunft vom 10.06.2020 wird die Tilgung voraussichtlich 2046 eintreten.
Während seiner Haftaufenthalte hat er Berufserfahrung als Schweißer, Schlosserhelfer sowie Hilfskoch gesammelt. Außerdem nahm er an einer Drogenberatung - nach Sicherstellung von Drogen in seiner Zelle - teil (VP 12.06.2020, S. 10). Zudem absolvierte er ein Seminar zum Führen eines Hubstaplers. Sonst spielt der Beschwerdeführer Fußball und betreibt regelmäßig Fitness.
Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Es kann nicht festgestellt werden, dass er über besonders verfestigte Sozialkontakte verfügt.
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat in Österreich keine Verwandten oder Familienangehörige. Er hat seit 2016 eine Lebensgefährtin, die Zeugin (Z), - die er im August 2016 Lokal in Graz, wo diese als Kellnerin arbeitete, kennengelernt hat - und lebt mit dieser im gemeinsamen Haushalt in Graz. Die Lebensgefährtin ist bulgarische Staatsbürgerin, heißt XXXX , ist 31 Jahre alt und ebenfalls strafrechtlich bescholten (s. Strafregisterauskunft vom 25.05.2020).
Der Beschwerdeführer hat mit der Z ein Kind, eine Tochter, die am 05.05.2018 in Graz geboren wurde und bulgarische Staatsbürgerin ist. Gesetzliche Vertreterin des Kindes ist die Z. Sie sorgt alleine für den Lebensunterhalt des Kindes. Das Einkommen der Z setzt sich zusammen aus dem monatlichen Karenzgeld in Höhe von nunmehr EUR XXXX -, zuvor EUR XXXX .-, dem Kinderbetreuungsgeld, der Familienbeihilfe und einem Kinder-Bonusgeld. Arbeitslosengeld bezieht die Z nicht. Davon ist auch die Miete in Höhe von EUR XXXX - /Monat, die GIS Gebühren in Höhe von EUR XXXX .-/Monat und das Internetpaket in Höhe von EUR XXXX -/Monat zu begleichen. Der Beschwerdeführer hat kein Einkommen und lebt nach eigenen Angaben von der Unterstützung der Z. Die Karenz endet im Oktober 2020, dann möchte die Z wieder als Kellnerin arbeiten.
Der Beschwerdeführer und die Z waren laut ZMR von 18.10.2017 – 11.04.2018 (6 Monate gemeinsamer Haushalt) in der XXXX in 8020 Graz hauptwohnsitzlich gemeldet, dann war der Beschwerdeführer von 11.04.2018 – 20.05.2020 in der XXXX in 8020 Graz gemeldet, die Z jedoch nur von 09.04.2018 – 20.11.2019 (19 Monate gemeinsamer Haushalt) und ab 20.05.2020 – aktuell (4 Wochen) sind beide wieder in der XXXX in 8010 Graz hauptwohnsitzlich gemeldet. Zwischen dem 21.11.2019 und dem 20.05.2020 wohnten der Beschwerdeführer und die Z somit getrennt. Erst am 20.05.2020 meldete der Beschwerdeführer seinen Hauptwohnsitz an der XXXX in 8010 Graz, dem Hauptwohnsitz der Z. Insgesamt wohnten der Beschwerdeführer und die Z bis dato rund 2 Jahre und 2 Monate im gemeinsamen Haushalt.
Die Z hat gemeinsam mit der Tochter den Beschwerdeführer regelmäßig (wöchentlich) in der Haft besucht. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig mit der Z und dem Kind telefoniert. Bei Haftausgängen hat der die Z und das Kind besucht und bei Freigang auch bei diesen übernachtet.
Der Beschwerdeführer befindet sich nicht in medizinischer Behandlung, war in Therapie wegen Knieschmerzen, unterzog sich während der Haft einer Gruppentherapie „Süchtiges Verhalten“, er nimmt keine Medikamente und ist gesund.
Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt zu seiner Mutter und seinen Geschwistern sowie zu einigen Verwandten in Afghanistan und auch zu seinem Bruder in Griechenland, hauptsächlich via Internet und Facebook (VP S.5).
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:
Bezogen auf die Situation des Beschwerdeführers sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 mit Kurzinformationen bis einschließlich 18.05.2020):
Länderspezifische Anmerkungen
COVID-19:
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).
Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).
IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:
•Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)
•Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).
Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)
Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).
Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB 13.11.2019, S. 26).
Taliban: Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel - die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB 13.11.2019, S. 26; S. 29).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB 13.11.2019, S. 27).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 13.11.2019, S. 27).
Haqani-Netzwerk: Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB 13.11.2019, S. 27).
Islamischer Staat (IS/DaesH) - Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP): Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw.
2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB 13.11.2019, S. 27f).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB 13.11.2019, S. 29).
Al-Qaida: Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB 13.11.2019, S. 29).
Kabul:
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 (LIB 13.11.2109, S. 36). Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB 13.11.2109, S. 38). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB 13.11.2109, S. 37; S. 237).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 38ff).
In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB 13.11.219, S. 41).
Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB 13.11.2109, S. 335f).
Alle Distrikte Kabuls sind unter der Kontrolle der Regierung oder unbestimmt (EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 101).
Sicherheitsbehörden:
Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF - Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police) (LIB 13.11.2019, S. 249).
Die Afghanische Nationalarmee (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Das Verteidigungsministerium hat die Stärke der ANA mit 227.374 autorisiert (LIB 13.11.2019, S. 250).
Die Afghan National Police (ANP) gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA (LIB 13.11.2019, S. 250). Die Afghan Local Police (ALP) wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB 13.11.2019, S. 251).
Bewegungsfreiheit:
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung schränkt die Bewegung der Bürger gelegentlich aus Sicherheitsgründen ein. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB 13.11.2019, S. 327).
Meldewesen:
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB 13.11.2019, S. 328).
Allgemeine Menschenrechtslage:
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB 13.11.2019, S. 264).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiege