Entscheidungsdatum
05.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W257 2181867-1/33E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert Gerhard MANTLER, MBA, als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan, vertreten durch XXXX , Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion vom 23.11.2017, Zl. 1093072406-151674851, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung am 23.04.2019 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigtem bis zum 06.07.2021 erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang
1.1. Der Beschwerdeführer stellte am 02.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer an, er sei Staatsbürger der Islamische Republik Afghanistan, sei am XXXX geboren. Er sei im Iran geboren und aufgewachsen, sei schiitischer Moslem, gehöre der Volksgruppe der Hazara an, sei ledig und kinderlos.
Aus dem Iran sei er geflohen, weil
er keine Aufenthaltsberechtigung gehabt hätte. Er sei festgenommen worden und man hätte ihm gesagt, dass er in den Krieg nach Syrien ziehen müsse, falls er die Aufenthaltskarte zurückhaben wolle. Zudem hätte er keine Krankenversicherung besessen. Er könne nach Afghanistan nicht zurückkehren, weil er dort nie gelebt habe und außerdem Angst von den Taliban hätte.
1.3. In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge teilweise auch „Behörde“ genannt) am 07.11.2017 führte der Beschwerdeführer
1.3.1. zu seinen sozialen Verhältnissen aus,
dass er in Afghanistan keine, bzw nur sehr weitschichtige Verwandte hätte. Seine beiden Eltern, seine vier Brüder, seine beiden Tanten und seine Onkel würden alle im Iran leben. Er hätte im Iran neun Jahre die Schule besucht und daneben seinem Vater bei der Landwirtschaft geholfen. Teilweise hätte er auch auf Baustellen gearbeitet. Er leide an einer Hautkrankheit und stehe dabei unter ärztlicher Behandlung. Er fühle sich aber grundsätzlich gesund.
1.3.2. zu seinem Fluchtgrund näher aus,
dass er im Iran eine Aufenthaltsberechtigung besessen hätte, diese hätte er jedoch missachtet, weil er sich außerhalb der Gebietsbeschränkung aufgehalten habe. Die Polizei hätte ihn festgenommen und zu ihm gesagt, dass er entweder nach Syrien in den Krieg gehen solle, oder er werde nach Afghanistan abgeschoben. Er hätte ein paar Tage Bedenkzeit bekommen, sei zu seinen Eltern zurückgegangen, woraufhin sein Vater für ihn die Ausreise organisiert hätte.
1.3.3. zu der Unmöglichkeit nach Afghanistan zurückzukehren meinte er,
dass er sich niemals in Afghanistan befunden hätte und er dort keinen Menschen kenne. Er sei auch Hazara und man höre, dass die Taliban alle Hazaras umbringen würden. Er selbst sei nie bedroht worden.
1.3.4. Zu seiner Integration führte er schließlich aus,
dass er in ein paar Wochen die Zusage zu einem Lehrabschluss bekäme. Er würde sodann in einem Gasthof die Lehrer als „Koch und Kellner“ beginnen. Er wohne in XXXX und betreibe in seiner Freizeit Sport.
Folgende Unterlagen, welche die Integration bezeugen sollen wurden vorgelegt: Bestätigung über die in Aussicht genommene Lehrstelle des Lehrberechtigten ( XXXX ), Nachweis über eine ehrenamtliche Tätigkeit in einem Seniorenheim, Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung, ÖSD Zertifikat auf dem Niveau A1 vom 23.12.2016, ÖSD Zertifikat auf dem Niveau A2 vom 10.05.2017, ÖSD Zertifikat auf dem Niveau B1 vom 07.08.2017, Bestätigungen zu Deutschkursen; fachärztlich Stellungnahme vom 09.03.2017, XXXX , wonach der Beschwerdeführer an einer Anpassungsstörung im Sinne von Angst und depressiver Reaktion, sowie Schlafstörungen leide und psychotherapeutisch behandelt werden möge; Teilnahmebestätigung von vier psychotherapeutischen Sitzungen vom 26.05.2017; Teilnahmebestätigung an einem Fußballturnier; ua Bescheid des AMS Salzburg vom 13.11.2017 mit der eine Beschäftigungsbewilligung erteilt wurde.
1.4. Die Behörde wies den Antrag des Beschwerdeführers mit dem im Spruch erwähnten Bescheid hinsichtlich des internationalen Schutzes ab, sowie wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten ebenso nicht zuerkannt. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers zulässig sei. Der Beschwerdeführer bekam eine zweiwöchige Frist für seine Ausreise zugestanden.
1.5. Gegen den Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte vollumfängliche Beschwerde des Beschwerdeführers, wobei er im Wesentlichen die Verletzung der amtswegigen Ermittlungspflicht und unrichtige Beweiswürdigung geltend machte.
1.6. Der Verwaltungsakt langte am 05.01.2018 am Bundesverwaltungsgericht ein und wurde entsprechend der Geschäftseinteilung der Gerichtsabteilung W257 zugewiesen (OZ 1). Es trägt die Geschäftszahl: W257 2181867-1.
1.7. Das Bundesverwaltungsgericht setzte für den 14.12.2018 eine mündliche Verhandlung fest, wovon die Parteien nachweislich verständigt wurden. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt der Verhandlungsausschreibung rechtsfreundlich durch den Diakonie-Flüchtlingsdienst vertreten. Die Rechtsvertretung übernahm die Ladung zur Verhandlung am 20.11.2018.
1.8. Am 13.12.2018, einen Tag vor der Verhandlung, teilte die Diakonie-Flüchtlingsdienst mit, dass sie mit dem Beschwerdeführer keinen Kontakt aufnehmen hätte können. Die Vollmacht wurde zugleich mit Wirkung 13.12.2018 zurückgelegt. Die Behörde teilte mit, dass sie an der Verhandlung nicht teilnehmen wird.
1.9. Folgende Länderberichte des Herkunftsstaates wurden der Einladung angeschlossen und den Parteien im Rahmen des Parteiengehörs Gelegenheit geboten, dazu binnen 14 Tagen Stellung zu nehmen (OZ 6).
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 29.10.2018
- UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, (Beilage 2)
Die Parteien nahmen von dieser Gelegenheit nicht Gebrauch.
1.10. Am Verhandlungstag erschien keiner der Parteien. Die Parteien waren ordnungsgemäß und nachweislich geladen. Das Bundesverwaltungsgericht verkündete ein mündliches Erkenntnis, indem die Beschwerde abgelehnt wurde und eine ordentliche Revision nicht zugelassen wurde. Das Protokoll wurde den Parteien nachweislich zugestellt. Nachdem der BF nicht mehr vertreten war, wurde ihm das Protokoll direkt an seine Wohnadresse, XXXX , zugestellt. Am 21.12.2018 übernahm dieser das Protokoll.
1.11. Am 14.12.2018 schrieb die Diakonie Flüchtlingsdienst mittels E-Mail, dass der Beschwerdeführer wegen „Zustellungsproblemen“ die Ladung für den 14.12.2018 erst an diesem Tagübernommen hätte.
1.12. Am 28.12.2018 beantragte der Beschwerdeführer unter Vollmachtsbekanntgabe des im Spruch erwähnten Rechtsanwaltes, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Es trägt die Geschäftszahl: W257 2181867-2. Begründend wird angeführt, dass der Antragsteller vorher in XXXX wohnhaft war. Diese Adresse war der Diakonie Flüchtlingsdienst bekannt und versuchte diese ihn auch dort hinsichtlich der Verhandlung für den 14.12.2018 zu erreichen. Nachdem er allerdings eine Lehrstelle angenommen habe und ihm der Arbeitgeber eine Unterkunft in der XXXX zur Verfügung stellte, verzog er an diese Adresse. Er hätte sich auch bei der Gemeinde angemeldet, vergaß allerdings dies der Diakonie bekannt zu geben. Laut einer ZMR-Auskunft ist der Beschwerdeführer seit dem 08.05.2018 an der letztgenannten Adresse wohnhaft. Das Verwaltungsgericht lud den Beschwerdeführer für den 14.12.2018 über die Diakonie Flüchtlingsdienst und diese hätte in Unkenntnis der neuen Adresse ihn an der alten Adresse versucht zu erreichen, welches ergebnislos blieb. Sie legte daraufhin am 13.12.2018 – wie oben beschrieben - die Vollmacht zurück. Tatsächlich hätte er sich allerdings an seiner Lehrstelle befunden und hätte von der Verhandlung nichts gewusst. Erst zur Mittagszeit hätte die Diakonie davon erfahren und ihm von der Verhandlung verständigt. Der Rechtsvertreter stellte den Wiedereinsetzungsantrag und ersuchte um Ausfertigung des schriftlichen Erkanntnisses.
1.13. Am 13.02.2019 teilte die Staatsanwaltschaft Salzburg mit, dass sie von der Verfolgung wegen des Verdachts des Vergehens nach § 27 Abs. 1 Suchtmittelgesetz zurücktreten.
1.14. Nachdem der Beschwerdeführer offenbar tatsächlich von dem ersten Verhandlungstermin am 14.12.2018 nichts wissen konnten (sh dazu Punkt 1.11.), wurde für den 23.04.2019 ein neuerlicher Verhandlungstermin ausgeschrieben.
Folgende Beilagen wurden zum Parteiengehör mitübermittelt:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 31.01.2019 (eine aktuellere Fassung im Gegensatz zur Erstverhandlung; Beilage 1),
- UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, (Beilage 2)
1.15. Am 12.04.2019 legte die Diakonie Flüchtlingsdienst die bereits zurückgelegte Vollmacht (sh Punkt 1.12) nochmals zurück.
1.16. Am 17.04.2019 wurde seitens des Rechtsvertreters für den Beschwerdeführer eine Stellungnahme und weitere Unterlagen vorgelegt.
1.17. Es wurden nochmals die oben beschriebenen Unterlagen vorgelegt. Darüber hinaus wurden folgende Unterlagen in Vorlage gebracht: Jahreszeugnis der Landesberufsschule XXXX , erste Fachklasse für den Lehrberuf Restaurantfachmann.
1.18. In der Stellungnahme wird auf folgende Punkte hingewiesen:
1.19. Dem Beschwerdeführer sei Afghanistan völlig fremd, weil er dort nie gelebt habe. Eine Rückführung nach Mazar-e Sahrif würde ihn in eine ausweglose, unmenschliche und menschenunwürdige Situation bringen (Seite 2). Er wäre sozial extrem isoliert. Er hätte keine realistische Chance, den Überlebenskampf überstehen zu können.
1.20. Er gehöre der Minderheit der Hazara an und hätte dadurch einen weiteren Nachteil zu ertragen (Seite 7).
1.21. Er habe in Afghanistan keine Verwandten mehr uns sei vollkommen entwurzelt (Seite 10).
1.22. Der ACCORD Bericht vom 07.12.2018 würde klar ergeben, dass er der Beschwerdeführer keine Zukunftschancen in Afghanistan hätte. Frau Stahlmann schrieb auch im März 2018, dass die Rückkehrer keine angemessene Unterkunft finden können und slumsähnliche Zustände entstehen würden.
1.23. Auf Seite 24 wird auf eine schlimme Dürre in Herat und Mazar-e Sahrif im August 2018 hingewiesen. Neuerlich wird auf Stahlmann im September 2018 hingewiesen (Seite 31), welche darlegt, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt verschärft sei.
1.24. Zusammenfassend wird von keiner zumutbaren Schutzalternative in den Großstädten ausgegangen, sowie würde im Falle einer Rückführung eine Gefährdung im Sinne des Art. 3 EMRK geben sein.
1.25. Weiters wird auf einen EASO Bericht aus Aug 2017 hingewiesen, welche die dramatische wirtschaftliche Situation nochmals wiederspiegelt. ZB ist die Arbeitslosigkeit bei 50% angelangt (Seite 40).
1.26. Verwestlicht wahrgenommene Männer würden einer Diskriminierung ausgesetzt sein (Seite 51). Das würde auf den Beschwerdeführer zutreffen und er würde auch dadurch einer Bedrohung ausgesetzt sein.
1.27. Der Beschwerdeführer hätte die Zeit in Österreich für seine Integration genutzt und sei bereits Lehrling als „Restaurantfachmann“. Eine Interessensabwägung im Sinne des § 9 Abs. 2 BFA-VG müsse zu seinem Gunsten ausgelegt werden, denn sein Privatleben wäre mittlerweile schützenswert.
1.28. Vor dem Bundesverwaltungsgericht am 23.04.2019 wurde dem Antrag auf Widereinsetzung mit mündlichem Beschluss stattgegeben.
1.29. Hinsichtlich seiner Fluchtgründe wiederhole sich der Beschwerdeführer im Grunde und vermeinte, dass er im Iran aufgewachsen sei. Er wäre als Afghane im Iran von der iranischen Vollziehung diskriminiert worden und sei er aufgefordert worden, in den Syrien-Krieg zu ziehen. Deswegen sei er vom Iran geflüchtet. Weswegen die Familie vor ca 40 Jahren von Afghanistan in den Iran verzogen sei, könne er nicht sagen, vermutlich wegen des Krieges.
Er hätte lediglich weitschichtige Verwandte in Afghanistan, zu denen er keinen Kontakt mehr hätte. Er sei gesund, hätte im Iran die Schule besucht und durch 10 Schuljahre abgeschlossen. Er hätte im Iran seinen Vater auf dem Feld geholfen und teilweise auf Baustellen gearbeitet. ER könne Farsi bzw. Darin sprechen und auch ein wenig Deutsch. Der Richter konnte sich davon überzeugen, dass er Deutsch flüssig sprechen konnte.
Er könne nicht nach Afghanistan zurück, weil er dort niemanden kennen würde. Außerdem sei er Hazara nd er habe gehört, dass die Taliban alle Hazaras töten würden.
Er hätte 5 Brüder, zwei Schwestern, einen Vater und eine Mutter. Sie alle würden im Iran leben; sie würden ein durchschnittliches Leben führen.
Er würde in Österreich seit ca 1 ½ Jahren eine Lehre absolvieren.
1.30. Mit Erk des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.09.2019, Zl. W 257 2181867-1/24E, wurde die Beschwerde abgewiesen. Die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen damit, der Beschwerdeführer sie ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann, dem auf Grund seiner Schulbildung im Iran, seiner Sprachkenntnisse und seiner Arbeitserfahrung eine „Rückkehr“ nach Afghanistan, konkret nach Kabul, zugemutet werden könne. Aus den Länderberichten ergebe sich, dass Kabul eine „relativ sichere Stadt“ sei. Für die Ansiedelung könne er auf Reintegrationsmaßnahmen bzw. Rückkehrhilfe sowie finanzielle Unterstützung seiner im iran lebenden Eltern zurückgreifen. Unter Berücksichtigung seiner persönlichen Situation sei in einer Gesamtbetrachtung dem Beschwerdeführer eine Ansiedelung in der Stadt Kabul im Lichte der Art. 2 und 3 EMRK möglich und zumutbar.
1.31. Gegen diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen hat, wurde eine außerordentliche Revision an den Verfassungsgerichtshof, in der der Beschwerdeführer behauptet, in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden zu sein, und verlangte eine kostenpflichtige Aufhebung des Erkenntnisses im angefochtenen Umfang. Begründend führte er im Wesentlichen aus, das Bundesverwaltungsgericht habe willkürlich gehandelt, indem es den Beschwerdeführer ohne Ermittlung seines „theoretische[n] Herunftsgebiet[es]“ nach Kabul schicke und diese Stadt ohne Bezugnahme auf aktuelle Länderberichte als „relativ sicher“ und die soziale und wirtschaftliche Lage als zumutbar eingeschätzt habe. Das Bundesverwaltungsgericht habe damit insbesondere den bestehenden Mangel an Wohnraum und Arbeit sowie die Tatsache, dass der BF in Afghanistan über kein soziales Netzwerk verfüge, außer Acht gelassen. Ferner sei auch die Annahme, der BF könne von seinen Eltern finanziell unterstützt werden, aktenwidrig und begründungslos, da eine Befragung zu den finanziellen Verhältnissen der Familie nie stattgefunden habe.
1.32. Mit Erk des Verfassungsgerichtshofes vom 10.03.2020, Z E 3601/2019-12, wurde entschieden, dass durch das Erk des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürden Gründen sowie gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (Art. I Abs. 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl. Nr. 390/1973) verletzt wurde. Begründend führt der Verfassungsgerichtshof aus (Rz 15).
„ [...] Das Bundesverwaltungsgericht hält – gestützt auf die UNHCR-Richtlinien, denen zufolge „Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Oper der allgegenwärtigen in der Stadt [Kabul] bestehenden Gefahr zu werden§ (S. 127) – eine Ansiedelung des Beschwerdeführers in Kabul mit der Begründung möglich und zumutbar, dass Kabul relativ sicher sei und der Beschwerdeführer auf Reintegrationsmaßnahmen bzw. Rückkehrhilfe und auch finanzielle Unterstützung seiner Eltern zurückgreifen könne... Damit lässt das Bundesverwaltungsgericht allerdings außer Acht, dass nach den UNHCR-Richtlinien „angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, und menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist“ (S. 129), obwohl es diese Richtlinie im angefochtenen Erkenntnis ausdrücklich zitiert (vgl. VfGH 12.12.2018, E 4342/2018).
Aus aktuellere EASO-Berichte geht das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang nicht ein und übersieht daher, dass zum Entscheidungszeitpunkt eine spezifische Information betreffend Fälle wie jenen des Beschwerdeführers, der im Iran geboren und aufgewachsen ist, vorliegt. Die „Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis“ des EASO auf dem Stand Juni 2019 enthält eine spezifische Beurteilung für jene Gruppe von Rückkehrern, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben. Aus dem Bericht des EASO geht hervor, dass für die genannte Personengruppe eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht kommt, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendende Maßnahmen kein Unterstützungsnetzwerk für die konkret Person vorhanden sei, dass sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könnte, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnisse der betroffenen Person bzw. Verbindungen zu Afghanistan, sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund (insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung, Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans).
Indem das Bundesverwaltungsgericht sich weder mit der aktuellen Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul unter Bezugnahme auf aktuelle Länderberichte hinreichend auseinandergesetzt noch den Umstand, dass der Beschwerdeführer im Iran geboren und aufgewachsen ist, in seine Beurteilung miteinbezogen hat, hat es seine Entscheidung mit Willkür belastet (vgl. VfGH 12.12.2019, E 2692/2019, sowie vom selben Tag VfGH E 236/2019 und E 3350/2019). [...]“
1.33. Mit Schreiben vom 09.06.2020 wurden den Parteien zu folgenden Länderberichten Parteiengehör gegeben und wurde ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahem geboten.
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, aktualisiert am 18.05.2020
- https://www.ecoi.net/en/file/local/2030303/AFGH_LIB_2020_5_18_KG.pdf
- EASO-Bericht vom April 2019; Country Guidance: Afghanistan 2019, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Afghanistan_2019.pdf
- EASO-Bericht vom April 2019; Country Guidance: Afghanistan 2018, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/easo-country-guidance-afghanistan-2018.pdf
- UNHCR-Richtlinie vom 30.08.2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1449845/90_1542006632_unhcr-2018-08-30-afg-richtlinien.pdf
1.34. Eine Stellungnahme langte nicht ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
2. Feststellungen:
Der entscheidungswesentliche Sachverhalt steht fest!
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
2.1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen
XXXX und ist zu dem im Spruch erwähnten Datum geboren. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islams. Er ist im Iran geboren und aufgewachsen.
2.1.2. Er hat nie in Afghanistan gewohnt.
2.1.3. Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte zu dem im Verfahrensgang erwähnten Datum einen Antrag auf internationalen Schutz. Er besuchte 10 Jahre lang die Schule im Iran.
Der Beschwerdeführer verfügt über folgende Berufserfahrungen: Im Iran war er in der Landwirtschaft und als Hilfsarbeiter an Baustellen beschäftigt. In Österreich absolviert er ca. seit zwei Jahren die Lehre als Restaurantfachmann. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Die Familie des Beschwerdeführers besteht aus seinen 5 Brüdern, seinen zwei Schwestern und seinen Eltern. Zu seiner in im Iran lebenden Familie hat der Beschwerdeführer regelmäßigen Kontakt. Dem Beschwerdeführer ist es möglich, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Der Beschwerdeführer verfügt über keine tragfähigen familiären und sozialen Anknüpfungspunkte in Kabul oder anderen afghanischen Großstädten. Wirtschaftlich gehe es der Familie im Iran mittelmäßig. Der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan finanzielle Unterstützung durch seine im Iran befindlichen Eltern erfahren können.
Der Beschwerdeführer leidet an einer Hautkrankheit, steht aber nicht in Behandlung. Zudem leide er an Anpassungsstörungen im Sinne von Angst, zeige eine depressive Reaktion und an Schlafstörung. Er selbst bezeichnet sich generell als gesund und ist arbeitsfähig. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Farsi/Dari. Er spricht außerdem Deutsch. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
2.2. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
2.2.1. Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
2.2.2. Der Beschwerdeführer liefe Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
2.3. Zum Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer ist seit seiner Antragstellung aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Er bezog anfänglich Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung. Seit der Aufnahme des Lehrverhältnisses ist er selbsterhaltungsfähig.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Verwandten und keine sonstigen engen sozialen Bindungen in Österreich. Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse absolviert. Die höchste deutschsprachige Ausbildung des Beschwerdeführers befindet sich entsprechend dem Europäische Referenzrahmen auf dem Niveau „B1“. In seiner Freizeit ist er sportlich aktiv. Er ist strafgerichtlich unbescholten und ist seit dem November 2017 Lehrling in der Berufssparte „Restaurantfachmann“ Er ist sichtlich um seine Integration in Österreich bemüht.
2.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
2.4.1. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).
Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
2.4.2. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 22.1).
2.4.3. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 17.3).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 17.3).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 17.3).
2.4.4. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
2.4.5. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).
2.4.6. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)
Haqani-Netzwerk:
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).
Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz:
Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).
Al-Qaida:
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 2).
2.4.7. 1.5.9. Provinzen und Städte
Nachdem der BF keine Herkunftsprovinz hat, wird die Hauptstadt Kabul als möglicher Bezugsort im Falle einer Rückkehr untersucht.
2.4.8. Kabul:
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 3.1 und Kapitel 3.35).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.1).
Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 3.1).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 21).
Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.1.1. Situation für Rückkehrer/innen
In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 23).
Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 23).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 23).
Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 23).
Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 23).
Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (LIB, Kapitel 23).
Unter Rückkehrhilfe wird in Österreich Beratung und – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen auf Antrag - Unterstützung in Form von Organisation und Übernahme der Reise- und Dokumentenkosten sowie ein finanzieller Beitrag verstanden.
Die Höhe der finanziellen Starthilfe bemisst sich grundsätzlich nach einem „2-Phasen Modell“:
- 500 EUR für Asylwerber im laufenden Verfahren I. Instanz,
- 250 EUR nach abgeschlossenem negativen Asylverfahren I. Instanz bzw. Fremde (BMI Rückkehrhilfe).
Zudem kann bei Erfüllung der Kriterien eine zusätzliche Reintegrationsunterstützung (Geld- und Sachleistung) vor Ort erfolgen. Das Projektziel dieses Reintegrationsprojektes mit dem Namen RESTART II mit IOM Österreich ist es, die freiwillige Rückkehr und Reintegration der Projektteilnehmer sowie der mit ihnen gemeinsam zurückgekehrten Familienmitglieder zu erleichtern. Rückkehrer sollen mithilfe der gewährten individuellen Unterstützung befähigt werden, sich erfolgreich in ihrem Herkunftsland einzugliedern. Die Reintegrationsleistung betragen 500 EUR Bargeldleistung und 2.800 EUR Sachleistung (BMI Rückkehrhilfe).
Erfolgt keine freiwillige Rückkehr, wird bei Zwangsrückführungen, sofern keine eigenen Mittel vorhanden sind, ein Zehrgeld in der Höhe von 50 EUR gewährt. Dieser Betrag kann im Fall von besonderen Bedürfnissen erhöht werden (BMI Rückkehrhilfe).
Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit in Afghanistan Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 23).
Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 23).
Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 23).
2.4.9. Risikogruppen in Afghanistan: (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 –zusammenfassende Darstellung des UNHCR vom 04.05.2016):
„Laut UNHCR können folgende Asylsuchende aus Afghanistan, abhängig von den im Einzelfall besonderen Umständen, internationalen Schutz benötigen. Diese Risikoprofile sind weder zwangsläufig erschöpfend, noch werden sie der Rangfolge nach angeführt:
(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen;
(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen;
(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Zusammenhang mit der Einberufung von Minderjährigen und der Zwangsrekrutierung;
(4) Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden;
(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen haben;
(6) Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung regierungsfeindlicher Kräfte verstoßen haben;
(7) Frauen mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;
(8) Frauen und Männer, die angeblich gegen gesellschaftliche Normen verstoßen haben;
(9) Personen mit Behinderungen, insbesondere geistigen Beeinträchtigungen, und Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden;
(10) Kinder mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;
(11) Überlebende von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind;
(12) Personen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und/oder Geschlechtsidentität;
(13) Angehörige gewisser Volksgruppen, insbesondere ethnischer Minderheiten;
(14) An Blutfehden beteiligte Personen, und
(15) Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen (sowie deren Familienangehörige).“
2.4.10. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, Seite 119 in der der deutschen Fassung.
„Eine Bewertung der Möglichkeiten für eine Neuansiedlung setzt eine Beurteilung der Relevanz und der Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative voraus.“
Folgendes kann nicht festgestellt werden (aus der gleichen UNHCR-Richtlinie, Seite 129 in deutscher Fassung):
Kabul: „UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.
2.4.11. EASO Bericht Juni 2018
"For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence. The following elements should be taken into account in this assessment:
- Support network: a support network would be of particular importance in the assessment of the reasonableness of IPA for such applicants.
- Local knowledge: particular consideration should be given to whether the applicant has local knowledge and maintained any ties with Afghanistan. Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsistence means and basic services. The support network could also provide the applicant with such local knowledge.
- Social and economic background: the background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as whether they were able to live on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations."
2.4.12. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).
Schiiten
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).