TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/6 L507 1230313-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.07.2020
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Entscheidungsdatum

06.07.2020

Norm

BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs4 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs4

Spruch

L507 1230313-2/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. HABERSACK über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenrecht und Asyl vom 01.09.2017, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt I. folgendermaßen zu lauten hat:

„I. Gemäß § 52 Abs. 4 Z 1 FPG iVm § 9 BFA-VG wird gegen XXXX eine Rückkehrentscheidung erlassen.„

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.12.2016 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass aufgrund seiner strafgerichtlichen Verurteilungen grundsätzlich die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß
§ 67 FPG vorliegen würden. Nach Vornahme einer Interessensabwägung überwiege derzeit aber nicht das öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Bei einer neuerlichen rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe beabsichtige das BFA jedoch die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes.

2. Am 15.03.2017 wurde der Beschwerdeführer vom XXXX zu XXXX wegen § 229 Abs. 1 StGB, § 241e Abs. 3 StGB, §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von zehn Monaten verurteilt.

3. Mit Schreiben des vom 20.06.2017 forderte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Beschwerdeführer zur Abgabe einer Stellungnahme auf, zumal aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen beabsichtigt sei, gegen ihn eine Ausweisung sowie ein Aufenthaltsverbot zu erlassen. Zudem wurde der Beschwerdeführer vom „Ergebnis der Beweisaufnahme“ informiert und ihm mitgeteilt, dass – sollte er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen – nach der Haftentlassung die Schubhaft über ihn verhäng werde.

4. Am 12.07.2017 langte beim BFA die Stellungnahme zum Schreiben des BFA vom 20.06.2017 ein.

5. Mit Schreiben vom 19.07.2017 forderte das BFA den Beschwerdeführer neuerlich zur Abgabe einer Stellungnahme auf, zumal aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen beabsichtigt sei, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung sowie ein Einreiseverbot zu erlassen. Zudem wurde der Beschwerdeführer vom „Ergebnis der Beweisaufnahme“ informiert und ihm mitgeteilt, dass – sollte er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen – nach der Haftentlassung die Schubhaft über ihn verhäng werde.

6. Am 31.07.2017 langte beim BFA die Stellungnahme zum Schreiben des BFA vom 19.07.2017 ein.

7. Am 18.08.2017 erfolgte vor dem BFA eine niederschriftliche Einvernahme der Ex-Ehegattin des Beschwerdeführers.

8. Mit Bescheid des BFA vom 01.09.2017 wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß
§ 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß
§ 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Gemäß § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt und gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Das BFA führte aus, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers aufgrund seines bisher gesetzten Gesamtverhaltens nicht öffentlichen Interessen widerstreite und kein schützenswertes Privat- und Familienleben vorliege. Es lägen auch keine Umstände vor, welche gegen eine Abschiebung in die Türkei sprechen würden.

Bezüglich der Verhängung eines Einreiseverbots wurde ausgeführt, dass mit den Verurteilungen des Beschwerdeführers die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt seien und aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers davon auszugehen sei, dass er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Eine Gefährlichkeitsprognose gehe zu Lasten des Beschwerdeführers. Die Erlassung eines auf fünf Jahre befristeten Einreiseverbotes sei daher angemessen.

9. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 01.09.2017 wurde gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt und gemäß
§ 52a Abs. 2 BFA-VG die Verpflichtung mitgeteilt, bis 15.09.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

10. Gegen den am 05.09.2017 dem Beschwerdeführervertreter ordnungsgemäß zugestellten Bescheid wurde mit Schreiben vom 20.09.2017 fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin wurde ersucht, noch einmal den Grad der Integration, die intensive Bindung zu seiner Familie (insbesondere zu seinen Kindern), sowie die Teilnahme am sozialen Leben und die gesamte Bindung zu Österreich zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer bereue sein Fehlverhalten und würde er für den Fall der Rückkehr in die Türkei in eine existenzbedrohende Lage geraten. Zudem habe sich die Situation in der Türkei in allen Bereichen des Lebens verschlechtert. Medien würden berichte, dass Rückkehrer aus dem Ausland – besonders die Kurden – festgenommen und inhaftiert werden würden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Er ist türkischer Staatsangehöriger und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe moslemischen Glaubens.

Er stammt aus XXXX , verzog aber 1991 mit seinen Familienangehörigen nach Istanbul, wo er mit diesen bis zur Ausreise einen gemeinsamen Wohnsitz teilte. Nach dem Schulbesuch war der Beschwerdeführer als Schneider bis kurz vor der Ausreise erwerbstätig.

Der Beschwerdeführer reiste am 15.03.2002 auf dem Luftweg von Istanbul kommend auf legalem Wege unter Verwendung seines ihm kurz zuvor ausgestellten Reisepasses aus der Türkei aus und über den Flughafen Wien-Schwechat in das Bundesgebiet ein.

Am 16.03.2002 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz, der letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 14.01.2010, E7 230313-0/2008, gemäß
§§ 7 und 8 AsylG 1997 abgewiesen wurde. Dieses Erkenntnis erwuchs mit 18.01.2010 in Rechtskraft.

Von 19.01.2010 bis 16.12.2011 hielt sich der Beschwerdeführer rechtswidrig im Bundesgebiet auf und verfügte im Weiteren von 17.12.2011 bis 20.12.2017 über einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“. Von 21.05.2015 bis 21.05.2018 verfügte der Beschwerdeführer über einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“.

Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 FPG aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich ausgewiesen. Dieser Bescheid wurde im Instanzenzug bestätigt, letztlich aber mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom XXXX , Zl. XXXX , wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Beschwerdeführer hat am 29.12.2005 eine österreichische Staatsangehörige geheiratet. Dieser Ehe entstammen zwei gemeinsame Kinder, die am 05.08.2008 und am 14.07.2010 in Österreich geboren wurden. Der Beschwerdeführer war seiner Ex-Ehegattin gegenüber in der Ehe gewalttätig. Am XXXX wurde die Ehe vor dem Bezirksgericht XXXX geschieden. Der Beschwerdeführer teilt sich seit der Ehescheidung das Sorgerecht für die Kinder. Nach der Trennung der Ehegatten im Jahr 2014 hatte der Beschwerdeführer im ersten Jahr täglich telefonischen Kontakt mit den Kindern und hat er diese auch besucht, wobei diese Besuche ca. zehn Minuten dauerten. Im Weiteren beschränkte sich der Kontakt zu den Kindern auf Anrufe. Während der Haftaufenthalte ist der Beschwerdeführer von seinen Kindern nicht besucht worden. Nach der Scheidung ist der Beschwerdeführer seinen Unterhaltspflichten drei Monate nachgekommen. Seither bezieht die Ex-Ehegattin des Beschwerdeführers Unterhaltsvorschuss vom Staat. Die Ex-Ehegattin beabsichtigt, die alleinige Obsorge zu beantragen.

Mit der Ex-Ehegattin und später mit den Kindern bestand von 26.09.2005 bis 26.03.2009 und von 25.08.2009 bis 05.06.2014 ein gemeinsamer Wohnsitz.

In Österreich leben drei Onkel des Beschwerdeführers. Mit einem der Onkel bestand von 18.12.2015 bis 29.03.2017 ein gemeinsamer Wohnsitz.

In der Türkei sind nach wie vor die Eltern sowie zwei Geschwister des Beschwerdeführers aufhältig. Diese betreiben in Istanbul ein Geschäft und besitzen ein Haus Der Beschwerdeführer war zuletzt 2011 in der Türkei, verbrachte dort seinen Urlaub und verfügt in Istanbul über einen Wohnsitz.

Der Beschwerdeführer spricht auf dem Niveau A2 die deutsche Sprache (AS 59). Zudem spricht er Kurdisch und Türkisch.

Der Beschwerdeführer war von 13.11.2002 mit vierzehn Unterbrechungen (ein bis sechs Monate - Arbeitslosengeldbezug, Notstandshilfe) bis 16.12.2015 erwerbstätig. Dabei war er unter anderem von 13.11.2002 bis 05.12.2003 und von 27.01.2006 bis 31.05.2007 durchgehend bei einem Arbeitgeber beschäftigt. Von 17.12.2015 bis 28.065.2016 bezog der Beschwerdeführer Arbeitslosengeld und von 04.07.2016 bis 26.10.2016, 31.10.2016 bis 02.11.2016 und 04.11.2016 bis 27.12.2016 Notstandshilfe.

Der Beschwerdeführer wurde am 20.07.2005 vor dem XXXX zu XXXX wegen § 105 Abs. 1, § 105 Abs. 1, § 15 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe in Höhe von € 360,-- (Probezeit drei Jahre) verurteilt.

Am 11.08.2005 wurde der Beschwerdeführe vor dem XXXX zu XXXX wegen § 15 Abs. 1, § 269 Abs. 1 1. Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von sechs Monaten (Probezeit drei Jahre) verurteilt.

Am 30.03.2011 wurde der Beschwerdeführer vor dem XXXX zu XXXX , wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von sechs Wochen verurteilt.

Am 28.11.2016 wurde der Beschwerdeführer vor dem XXXX zu XXXX wegen § 241e Abs. 3 StGB, § 229 Abs. 1 StGB, § 127 StGB, § 83 Abs. 1 StGB, §§ 27 Abs. 1 Z 1 1. Fall, 27 Abs. 1 Z 1 2. Fall, 27 Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Monaten verurteilt.

Am 15.03.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem XXXX zu XXXX wegen § 229 Abs. 1 StGB, § 241e Abs. 3 StGB, §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von zehn Monaten verurteilt.

Der Beschwerdeführer befand sich von 08.03.2011 bis 19.04.2011 und von 29.12.2016 bis 17.10.2017 in Strafhaft.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Am 18.10.2017 wurde der Beschwerdeführer in die Türkei abgeschoben.

Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer umfassenden und fortgeschrittenen Integration des Beschwerdeführers in Österreich in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei in eine seine Existenz gefährdende Notlage geraten würde.

Weiters konnten keine Umstände festgestellt werden, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat gemäß § 46 FPG unzulässig wäre.

Zur rechtlichen Begründung, weshalb eine Interessensabwägung im Lichte des Art. 8 EMRK im gegenständlichen Fall zugunsten einer Aufenthaltsbeendigung auszugehen hatte, darf im Übrigen auf die Punkte 3.2. ff samt der dort angeführten Judikatur des EGMR, VfGH und VwGH verwiesen werden.

1.2. Zur Lage in der Türkei

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).

Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die ZehnProzent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).

Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).

Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_ %C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T

%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 4.10.2019

•        Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/ 1513613, Zugriff 4.10.2019

•        AM – Al Monitor (4.12.2018): Turkey can't build prisons fast enough to house convict influx, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/11/turkey-overcrowdedprisons-face-serious-problems.html, Zugriff 4.10.2019

•        bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (9.7.2018): Das "neue" politische System der Türkei, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/255789/dasneue-politische-system-der-tuerkei, Zugriff 3.10.2019

•        CoE-VC – council of europe - european commission for democracy through law

(venice commission) (13.7.2017): Turkey - Opinion - The Amendments to the Constitution adopted by the Grand National Assembly on 21 January 2017 and to be submitted to a National Referendumon 16 April 2017 [Opinion No. 875/2017], S.29, Abs.130, https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=cdlad(2017)005-e, Zugriff 3.10.2019

•        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 3.10.2019

•        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlagefuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html, Zugriff 4.10.2019

•        HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidentialsystem-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 4.10.2019

•        HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen,

http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 4.10.2019

•        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-esnach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 4.10.2019

•        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHPKandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidatimamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981, Zugriff 4.10.2019

•        OSCE – Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey,
Constitutional                  Referendum,          16                April            2017:            Final            Report,

http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 4.10.2019

•        OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary

Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM

OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April

2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 4.10.2019

•        OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (21.9.2018): Turkey, Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018: Final Report,https://www.osce.org/odihr/ elections/turkey/397046?download=true, 3.10.2019

•        Der Standard (1.4.2019): Erdo?ans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-dietuerkischen-Grossstaedte, Zugriff 4.10.2019

•        Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https:// derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholungin-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul, Zugriff 4.10.2019

•        ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedungneue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 4.10.2019

Sicherheitslage

Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt.

Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A r? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein ? hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante

Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw

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•        AA – Auswärtiges Amt (8.11.2019a): Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/ tuerkeisicherheit/201962#content_1, Zugriff 8.10.2019

•        BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (8.11.2019): Türkei

– Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 8.10.2019

•        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 3.10.2019

•        EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (4.10.2019): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 4.10.2019

•        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org.tr/en/ihds-2016-report-on-human-rights-violations-in-eastern-andsoutheastern-anatolia/, Zugriff 4.10.2019

•        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (24.5.2018): 2017 Summary
Table                  of                Human            Rights           Violations          In                Turkey,

http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_balance-sheet-1.pdf, Zugriff 4.10.2019

•        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/
2019/05/2018-SUMMARY -TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN- TURKEY.pdf, Zugriff 4.10.2019

•        ICG – Internal Crisis Group (4.10.2019): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer, Zugriff 7.10.2019

Rechtsschutz/Justizwesen

Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019, vgl. PACE 24.1.2019). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Türkei verzeichnet weiterhin eine schwere Rückwärtsentwicklung hinsichtlich des Funktionierens des Justizwesens. Die Bedenken bezüglich der Unabhängigkeit der türkischen Justiz, die unter anderem auf die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch von 2016 zurückzuführen ist, bleiben bestehen (EC 29.5.2019, vgl. USDOS 13.3.2019). Obgleich Richter gelegentlich immer noch gegen die Regierung entscheiden, haben sowohl die Ernennung von tausenden neuen, regierungstreuen Richtern als auch die potenziellen beruflichen Konsequenzen für ein Urteil gegen die Interessen der Exekutive in einem größeren Rechtsfall sowie die Auswirkungen der laufenden Säuberung die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt stark geschwächt (FH 4.2.2019).

Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019).

Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zwei-jährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften

rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).

Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019).

Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 13.3.2019). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).

Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (A??r Ceza mahkemeleri) fallen (Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen). Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden (insgesamt maximal drei Jahre). Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz 3713 betreffen, beträgt die maximale U-Haftdauer höchstens sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Diese Gesetzesänderung erfolgte mit dem Dekret 694 vom 15.08.2017, das am 1.2.2018 zu Gesetz Nr. 7078 wurde (Art. 136) (ÖB 10.2019).

Wesentliche Regelungen der Dekrete des Ausnahmezustandes wurden in die reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden (AA 14.6.2019). Das nach Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 angenommene Gesetz Nr. 7145 sieht keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen. Entlassene Akademiker haben selbst nach Wiedereinsetzung nicht mehr die Möglichkeit, an ihre ursprüngliche Universität zurückzukehren (ÖB 10.2019).

Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR. Bis Mai 2019 wurden 126.000 Anträge eingebracht. Davon bearbeitete die Kommission bislang 70.406. Lediglich 5.250 Personen wurden wiedereingesetzt. Die Kommission wies 65.156 Beschwerden ab, 55.714 Beschwerden sind weiter anhängig (ÖB 10.2019).

Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen. Den Beschwerdeführern fehlt es an Möglichkeiten, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. Umgekehrt verwendet die Kommission schwache Beweise zur Aufrechterhaltung der Entlassungsentscheidungen. Herangezogen werden oftmals rechtmäßige Handlungen der Betroffenen als Beweis für rechtswidrige Aktivitäten (Interaktionen mit Banken, Wohltätigkeitsorganisationen, Medien etc.). Es besteht eine Beweislastumkehr. Die Betroffenen müssen widerlegen, dass sie Verbindungen zu verbotenen Gruppen hatten. Irrelevant ist, dass die getätigten Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme legal waren. Die Wartezeiten bis zur Entscheidung der Berufungsverfahren reichten bislang von vier bis zehn Monaten, während viele entlassene Beschäftigte im öffentlichen Sektor noch keine Antwort der Kommission erhielten, obwohl sie ihre Anträge vor über einem Jahr eingereicht haben. Die Kommission ist an keine Fristen für Entscheidungen gebunden (AI 25.10.2018, vgl. ÖB 10.2019).

Quellen:

•        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante

Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw

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•        AI – Amnesty International (25.10.2018): Purged beyond return? No remedy for Turkey's dismissed public sector workers [EUR 44/9210/2018],

https://www.ecoi.net/en/file/local/1448005/1226_1540802893_eur4492102018english .PDF, Zugriff 4.11.2019

•        AM – Al Monitor (21.11.2019): Turkish court defies higher ruling to uphold verdict in Cumhuriyet retrial, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/turkey-courtuphold-convictions-newspaper-cumhuriyet.html, Zugriff 22.11.2019

•        CCBE - Council of Bars and Law Societies of Europe (1.9.2019) Situation in Turkey While 2019 Judicial Year Begins, https://arrestedlawyers.org/2019/09/01/situation-inturkey-while-2019-judicial-year-begins/, Zugriff 6.11.2019

•        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf,          Zugriff 31.10.2019

•        EP – European Parliament (13.3.2019): 2018 Report on Turkey - European

Parliament resolution of 13 March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey

(2018/2150(INI)),

http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-

TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 4.11.2019

•        FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004358.html, Zugriff 6.11.2019

•        HRW – Human Rights Watch (10.4.2019): Türkei: Massenverfolgung von

Rechtsanwälten - Willkürliche Terrorvorwürfe untergraben Recht auf faire Verfahren, https://www.hrw.org/de/news/2019/04/10/tuerkei-massenverfolgung-vonrechtsanwaelten, Zugriff 7.11.2019

•        IPI - International Press Institute (Hg.) (18.11.2019): Turkey’s Journalistsin the Dock:

Judicial Silencing of the Fourth Estate - Joint International Press Freedom Mission To
Turkey                  (September          11–13,           2019),

https://freeturkeyjournalists.ipi.media/wp-content/uploads/2019/11/Turkey-MissionReport-IPI-FINAL4PRINT.pdf, Zugriff 20.11.2019

•        PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp? fileid=25425&lang=en, Zugriff 7.11.2019

•        ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 6.11.2019

•        USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 6.11.2019

Sicherheitsbehörden

Die nationale Polizei, die unter der Kontrolle des Innenministeriums steht, ist für die Sicherheit in großen Stadtgebieten verantwortlich (AA 14.6.2019, vgl. USDOS 13.3.2019). Die Jandarma, eine paramilitärische Truppe, ist für ländliche Gebiete und spezifische Grenzgebiete zuständig (AA 14.6.2019, vgl. USDOS 13.3.2019, ÖB 10.2019), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 13.3.2019). Die Jandarma mit einer Stärke von 180.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 10.2019). Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Die Jandarma beaufsichtigt die sog. "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucular?], die vormaligen „Dorfschützer“, eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die PKK. Der Geheimdienst M?T ist der Präsidentschaftskanzlei unterstellt und für das Sammeln von Informationen über bestehende und potenzielle Bedrohungen verantwortlich (USDOS 13.3.2019). Die Polizei und mehr noch der Geheimdienst M?T haben unter der AKP-Regierung an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (über 33.000 Bedienstete betroffen von massenhaften Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst, Entlassungen und Strafverfahren). Die Jandarma rekrutiert sich teils aus Wehrpflichtigen (AA 14.6.2019).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei („Emniyet Genel Müdürlü?ü“ - TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (?stihbarat Dairesi Ba?kanl???“ - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der nationale Nachrichtendienst („Millî ?stihbarat Te?kilât?“- M?T), der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Es existiert nach wie vor der militärische Nachrichtendienst, der dem Generalstabschef untersteht. Dieser musste nach dem Putsch einige Aufgaben an den M?T abgeben. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem M?T erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. M?T-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen. Auch Personen, die dem M?T Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den M?T-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle aus 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten (ÖB 10.2019).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Den Militär-, Polizei- und Nachrichtendiensten fehlt es an ausreichender Transparenz und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament. Das Sicherheitspersonal verfügt über einen umfassenden Rechtsschutz. Trotz glaubhafter Berichterstattung über schwerwiegende Anschuldigungen wegen Menschenrechtsverletzungen und den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch Sicherheitskräfte im Südosten ist die Erfolgsbilanz der gerichtlichen und administrativen Prüfung solcher Anschuldigungen nach wie vor schlecht. Die parlamentarische Aufsichtskommission für die Strafverfolgung blieb wirkungslos (EC 29.5.2019).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante

Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw

%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-

_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_

%28Stand_Mai_2019%29%2

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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