Entscheidungsdatum
09.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W132 2180918-1/21E
W132 2180918-2/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ursula GREBENICEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX ,
1) gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.11.2017, Zl. 1111693009 - 160541923,
2) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2019, Zl. 1111693009 - 190107036,
nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
Ad 1.)
A) Die Beschwerde wird abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Ad 2.)
A)
I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. wird stattgegeben, und wird aufgrund des Antrages vom 14.09.2018 die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter um zwei weitere Jahre gemäß § 8 Abs. 4 AsylG verlängert.
II. Die Spruchpunkte I., II., IV., V., VI. und VII des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der zum damaligen Zeitpunkt unbegleitete minderjährige Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzvorschriften in das Bundesgebiet ein und stellte am 15.04.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am 16.04.2016 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen Folgendes an: „Mein Vater hat in der Regierung gearbeitet, deswegen hatten wir Probleme mit den Taliban. Sie haben meinen Vater und uns mit dem Tod bedroht, und behaupteten, dass mein Vater ungläubig geworden ist. Vor 2 Jahren sind Taliban in unser Haus eingebrochen und haben meinen Bruder B. entführt und wir wissen noch immer nicht wo mein Bruder ist. Vor 4 Monaten waren die Taliban wieder bei uns Zuhause und wollten mich entführen. Weil ich Angst um mein Leben hatte, bin ich hierher geflüchtet. Ich weiß jetzt nicht wo meine Familie jetzt ist, bzw. ob sie noch leben.“
Befragt zur Rückkehr gab er an: „Ich habe Angst vor den Taliban“
Gedolmetscht wurde in der Sprache Dari.
2. Mit der gesetzlichen Vertretung wurde das Land Steiermark als Kinder- und Jugendhilfeträger, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Leoben (KJHT), betraut.
3. Am 18.10.2017 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge ‚belangte Behörde‘ bzw. BFA genannt) im Beisein der gesetzlichen Vertretung. Der Beschwerdeführer merkte zu Beginn der Einvernahme an, dass einige Angaben der Protokollierung der Erstbefragung falsch notiert worden seien. Zum Ersten sei sein Bruder nicht von zuhause mitgenommen worden, sondern auf dem Rückweg von Kabul nach Hause entführt worden. Zweitens sei festgehalten worden, er habe die Reise nach Europa selbst bezahlt. Dies sei jedoch nicht richtig, sein Vater habe für die Reise gezahlt. Dieser habe ungefähr vier bis fünf Tausend USD dafür gezahlt. Er selbst habe nur die Reise von Mazedonien bis nach Österreich bezahlt.
Die wirtschaftliche Lage seiner Familie sei im Heimatland gut gewesen. Seine Familie besitze ein eigenes Haus und Grundstücke. Er habe seiner Mutter und seinem Bruder auf der Landwirtschaft geholfen. Sein Vater lebe mittlerweile in Pakistan. Dieser habe ungefähr ein halbes Jahr vor der Ausreise des Beschwerdeführers aus Afghanistan das Land verlassen. Der Beschwerdeführer wisse nicht, was sein Vater in Pakistan mache. Er habe zu ihm keinen Kontakt. Sein Bruder B. sei vor ca. drei Jahren entführt worden, seither wisse er nicht wo er ist. Seine Mutter sowie seine anderen - fünf - Geschwister seien nach wie vor im Heimatdorf aufhältig. Er habe regelmäßig Kontakt mit seiner Mutter.
Zu seinen Fluchtgründen brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst vor, er und sein Vater seien von den Taliban bedroht worden.
Sein Vater habe als Mitarbeiter bei der Organisation namens XXXX gearbeitete. Diese Organisation sei für die afghanische Entwicklung zuständig. Sie hätten Straßen, Brücken, und Schulen gebaut. Sein Vater sei dort als Bauleiter tätig gewesen. Er sei jeden Tag ein bis zwei Stunden mit dem Motorrad in die Arbeit gefahren. Sein Vater sei aus Angst entführt zu werden, nach Pakistan gegangen. Er habe sogar mit seiner Arbeit aufgehört. Sein Vater sei von den Taliban bedroht worden. Sein Vater sei der Dorfälteste von vier Dörfern gewesen, daher habe man ihn in der Gegend gekannt.
Befragt dazu, welche persönlichen Probleme der Beschwerdeführer gehabt habe, gab er an, als junger Mensch könne man seine Wünsche nicht erfüllen, und sich nicht fortbilden. Er sei schon erwachsen, und sein Vater habe sich Sorgen um ihn gemacht. Sein Vater habe nicht gewollt, dass es ihm gleich ergehe wie seinem Bruder B. Er selbst sei aber in Afghanistan nicht persönlich verfolgt oder bedroht worden.
Über Nachfrage, was seinem Bruder widerfahren sei, erklärte der Beschwerdeführer, nachdem sein Bruder die Schule in seinem Heimatdorf beendet habe, sei dieser nach Kabul gegangen, um dort zu studieren. Zuvor habe er die Prüfung gemacht, welche er bereits bestanden habe. Sein Bruder hätte wieder zurück nach Hause kommen sollen. Er habe sich telefonisch aus Kabul gemeldet, dass er wieder zurück nach Hause kommen werde. Unterwegs sei er aber von den Taliban entführt worden. Auf Nachfrage, woher der Beschwerdeführer wisse, dass die Taliban seinen Bruder entführt hätten, gab er an, weil die Taliban sie immer wieder bedroht hätten. Sein Vater habe seinen Bruder gesucht. Er habe ihn aber nicht gefunden. Der Vorfall mit seinem Bruder habe sich ca. zwei Jahre vor der Ausreise des Beschwerdeführers nach Europa ereignet.
Über Nachfrage, in wie fern die Familie des Beschwerdeführers bedroht worden sei, gab er an, dass die Taliban in dieser Gegend aktiv gewesen seien. Zu der Bedrohung seines Vaters durch die Taliban hat der Beschwerdeführer keine Angaben machen können.
Über Befragung durch die gesetzliche Vertreterin gab der Beschwerdeführer an, sein Vater sei durch die Taliban ziemlich bekannt gewesen, da sein Vater zuvor für die Partei namens XXXX gearbeitet habe. Diese Partei hätte gegen die Taliban gekämpft. Es habe eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Taliban und der Partei seines Vaters gegeben. Nach dem Kampf sei sein Vater festgenommen worden. Er sei ca. acht Monate bei den Taliban im Gefängnis gesessen. Nachdem die Taliban gestürzt worden seien, sei sein Vater wieder freigekommen. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dieser Vorfall hätte sich bereits vor langer Zeit ereignet, er sei damals noch klein gewesen. So genau wisse er es nicht, es könne auch sein, dass er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf der Welt gewesen sei.
Über Vorhalt, der Beschwerdeführer habe bei der Ersteinvernahme angegeben, vier Monate zuvor seien die Taliban bei ihm zu Hause gewesen, und hätten ihn entführen wollen, er diesen Vorfall bis jetzt aber nicht erwähnt habe, erklärte er, dazu nicht befragt worden zu sein. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, drei Monate vor seiner Ausreise habe ihn sein Vater nach Kabul geschickt. Seine Mutter hätte ihn angerufen und erzählt, dass unbekannte Männer zuhause gewesen seien, und nach ihm gefragt hätten. Er sei nicht zuhause gewesen. Daraufhin habe der Beschwerdeführer seinen Vater angerufen, dieser habe zu ihm gesagt, dass sie vielleicht hinter ihm her seien. Sein Vater habe ihn in den Iran geschickt. Dort sei er ungefähr 20 Tage geblieben. Er habe auch vorgehabt im Iran zu arbeiten und zu leben. Doch dann habe er gesehen, dass die Afghanen wieder zurückgeschoben werden. Freunde hätten ihn angesprochen und ihm gesagt, dass sie nach Europa gehen. Er habe nachgefragt, was Europa sei, und dann sei er mit ihnen mitgereist.
Seit er in Österreich sei, habe er Magenschmerzen, welche auf Depressionen und Angststörungen zurückzuführen seien. Er nehme diesbezüglich auch Medikamente, er wisse aber nicht welche.
In Österreich habe der Beschwerdeführer schon mehrere Deutschkurse besucht. Er habe Deutsch gelernt und in seiner Freizeit trainiere er drei Mal wöchentlich in Bruck an der Mur Taekwondo.
Gedolmetscht wurde in der Sprache Dari.
Im Rahmen des verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens wurden Beweismittel zur Tätigkeit des Vaters des Beschwerdeführers bei der XXXX , die Tazkira des Beschwerdeführers, integrationsbescheinigende Unterlagen, sowie medizinische Unterlagen zum Magenleiden des Beschwerdeführers und ein Schädel-CT, vorgelegt.
Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 25.09.2017, sowie ein Auszug aus der Staatendokumentation zu afghanischen Dokumenten vom 10.08.2011, ausgehändigt und eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme eingeräumt.
4. In der Folge hat die gesetzliche Vertretung eine Stellungnahme eingebracht.
5. Mit dem Bescheid der belangten Behörde vom 24.11.2017 wurde über den Antrag des Beschwerdeführers wie folgt abgesprochen:
„I. Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 15.04.2016 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen.
II. Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wird Ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
III. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wird Ihnen gemäß § 8 Absatz 4 AsylG bis zum 24.11.2018 erteilt.“
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können.
Als maßgebend für die Zuerkennung subsidiären Schutzes wurden die Minderjährigkeit und die Gesundheitseinschränkungen des Beschwerdeführers, seine mäßige Schulbildung, die mangelnde Berufserfahrung, sowie die prekäre Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, und der Umstand, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan außerhalb seiner Herkunftsregion nicht über ein effektives soziales- bzw. familiäres Unterstützungsnetzwerk verfüge, erachtet.
Zur Person des Beschwerdeführers wurde festgestellt, dass er kurz vor seiner Volljährigkeit stehe, bis zu seiner Ausreise überwiegend in Afghanistan gelebt habe, lediglich vier Jahre die Schule im Heimatdorf XXXX , Provinz XXXX , besucht habe, und über keine Berufserfahrung verfüge, da er nur bei seinen Eltern auf der Landwirtschaft mitgeholfen habe. Seine Heimatprovinz XXXX zähle zwar zu den sicheren Provinzen in Afghanistan, jedoch müsse berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer nicht gesund sei. Er leide an Bauchschmerzen bei rezidivierender Gastritis durch Helicobacter pylori (St.p. Eradikationstherapie), K29.7, Bauchschmerzen bei Z.n. Linksseitiger Colitis bei Giardia lamblia Infektion, A07.1 und Schlafstörungen aufgrund der Bauchschmerzen, G47.0.
Sein Vater lebe in Pakistan. Die Mutter des Beschwerdeführers lebe zwar noch mit seinen Geschwistern in der Provinz XXXX , jedoch sei der Beschwerdeführer nicht voll arbeitsfähig, und könne er auf die Hilfe seiner Mutter, die bereits für sechs Geschwister sorge, nicht gesichert zurückgreifen.
In der Gesamtheit betrachtet, sei es derzeit für den Beschwerdeführe nicht möglich nach Afghanistan zurückzukehren, da er in eine aussichtslose Lage geraten könnte.
Die Allgemeine Situation in Afghanistan sei im Zusammenschau mit den zur Sache zusammengetragenen, landeskundlichen Feststellungen nicht als zufriedenstellend zu bezeichnen, und sei nach wie vor als unübersichtlich, respektive unsicher, zu erachten.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände, sowie im Hinblick auf die allgemein schlechte Versorgungslage in Afghanistan, derzeit ebenfalls nicht zur Verfügung. So sei in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass er über keinerlei familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte in der Hauptstadt Kabul verfüge.
6. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer im Wege der bevollmächtigten Vertretung fristgerecht Beschwerde.
Zu den Fluchtgründen wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Furcht vor Verfolgung durch Taliban, infolge der beruflichen Tätigkeit seines Vaters, sowie wegen drohender Diskriminierung als Hazara in Afghanistan, ein umfassendes Vorbringen erstattet habe. Die wohlbegründete Furcht gründe sich auf die bereits erfolgten Bedrohungen gegen den Vater, dessen Inhaftierung durch die Taliban, sowie das Verschwinden des Bruders des Beschwerdeführers, welches ebenso den Taliban zuzuordnen sei. Der Vater des Beschwerdeführers sei Parteimitglied der XXXX , und habe im Zuge dessen bereits eine gegen die Taliban gerichtete Haltung eingenommen, weshalb ihn diese nach einer kämpferischen Auseinandersetzung inhaftiert hätten.
Der Grund der Flucht des Vaters des Beschwerdeführers nach Pakistan liege in der Verfolgung durch die Taliban, infolge der beruflichen Tätigkeit für das westliche Unternehmen XXXX . Damit habe der Vater des Beschwerdeführers wiederum eindeutig seine talibangegnerische politische Gesinnung zum Ausdruck gebracht, da das westliche Unternehmen für den Aufbau und die Weiterentwicklung Afghanistans insbesondere in sozialer, ökonomischer und gesundheitlicher Hinsicht, zuständig sei.
Der Beschwerdeführer befürchte die Verfolgung von Seiten der Taliban. Es sei davon auszugehen, dass dieser durch die berufliche Tätigkeit seines Vaters für ein westliches Unternehmen, in Verbindung der vormals talibangegnerischen politischen Parteizugehörigkeit der XXXX , ins Blickfeld der Taliban geraten sei, sowie mangels adäquater staatlicher Schutzmechanismen in Afghanistan, einer individuellen Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ausgesetzt sei. Der Anknüpfungspunkt zu einem Konventionsgrund ergebe sich aus seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie.
7. Am 14.09.2018 hat der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 AsylG 2005 (subsidiärer Schutz) gestellt.
8. Am 22.10.2018 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers („Einvernahme zur Prüfung der befristeten Aufenthaltsberechtigung/ Prüfung der Einleitung eines Aberkennungsverfahrens“) vor der belangten Behörde.
Vorgelegt wurden weitere integrationsbescheinigende Unterlagen, sowie medizinische Beweismittel zu internistischen und psychischen Leiden des Beschwerdeführers.
Gedolmetscht wurde in der Sprache Dari.
9. Am 31.01.2019 hat die belangte Behörde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorlägen, und deshalb ein Aberkennungsverfahren eingeleitet werde. Dem Schreiben wurden die aktuellen Länderberichte der Staatendokumentation zu Afghanistan beigelegt, und die Möglichkeit eingeräumt, eine Stellungnahme innerhalb von 14 Tagen abzugeben.
Mit dem Schreiben vom 12.02.2019 hat der Beschwerdeführer im Wesentlichen eingewendet, dass sich seine Geschwister, sowie seine Mutter, nach wie vor in seiner Heimatprovinz aufhielten. Sein Vater dagegen befände sich nur ab und zu in Afghanistan, da er ein Geschäft in Pakistan betreibe. Bei dem Haushalt seiner Mutter handle es sich um keinen etablierten Haushalt, in den er zurückkommen könne, zumal seine Mutter bereits für die Versorgung seiner Geschwister aufkommen müsse, und seine Familie selbst der ständigen latenten Bedrohung ihrer physischen und psychischen Integrität ausgesetzt sei. Einer seiner Brüder sei bereits seit Jahren verschollen. Eine individuelle Bedrohungssituation bestehe auch für den Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in XXXX bzw. andersorts in Afghanistan.
Auch der Umstand, dass er seit kurzem volljährig sei, stelle keine Änderung der Sach- und Rechtslage dar, die eine Aberkennung des subsidiären Schutzes rechtfertige. Vielmehr habe er die besonders prägende Phase der Pubertät in Österreich verbracht, und habe die Entfremdung von seiner Kultur, welche er als Minderjähriger verlassen habe, in besonders hohen Maß stattgefunden.
Weiters komme hinsichtlich seiner persönlichen Umstände erschwerend hinzu, dass er nach wie vor an schweren Gesundheitsproblemen leide. Der Psychiater Dr. S. habe bei ihm eine „Panikstörung“ und eine „Traumafolgestörung“ diagnostiziert, und eine medikamentöse Therapie etabliert, sowie weitere psychotherapeutische Behandlungstermine verordnet. Daher handle es sich bei dem Beschwerdeführer nicht um einen gesunden Mann, sondern um einen Mann mit spezifischer Vulnerabilität. In Afghanistan sei die medizinische Versorgung psychisch Erkrankter, und der Zugang zur notwendigen Behandlung nicht ausreichend gesichert. Zudem sei eine Ansiedelung in Kabul oder anderorts in Afghanistan, als psychisch Erkrankten, schwerer. Auch sei er zum derzeitigen Zeitpunkt in Afghanistan als Rückkehrer nach mehrjährigem Aufenthalt im westlich geprägten Ausland, in besonders hohem Maße gefährdet.
Des Weiteren sei festzuhalten, dass keine grundlegende Besserung der Lage in Afghanistan, insbesondere in seiner Herkunftsprovinz XXXX , sowie in den als innerstaatlichen Fluchtalternativen in Betracht kommenden Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, seit Gewährung des subsidiären Schutzes, festgestellt werden könne.
Der Stellungnahme wurden weitere integrationsbescheinigender Unterlagen, sowie medizinische Unterlagen, beigelegt.
10. Die belangte Behörde hat in der Folge von der Staatendokumentation Anfragebeantwortungen zur Verfügbarkeit und Kosten der Medikamente Buscopan plus (Hyoscin-N-Butylbromid und Paracetamol), Buscopan (Hyoscin-N-Butylbromid), Paracetamol, Cerebokan, Pantoprazol, Saraton, Setralin, Seroquel, Atarax und Mirtazapin, sowie der Behandlung von Gastritis, eingeholt.
11. Mit dem Bescheid vom 20.02.2019 hat die belangte Behörde zum Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung (subsidiärer Schutz) wie folgt abgesprochen:
„I. Der Ihnen mit Bescheid vom 24.11.2017, Zahl 1111693009-160541923, zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wird Ihnen gemäß § 9 Absatz 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, von Amts wegen aberkannt.
II. Die mit Bescheid vom 24.11.2017, Zahl 1111693009-160541923, erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wird Ihnen gemäß § 9 Absatz 4 AsylG entzogen.
III. Ihr Antrag vom 14.09.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird abgewiesen.
IV. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt.
V. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 4 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen.
VI. Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.
VII. Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.“
Zur Person des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass seine Eltern (dh. Mutter und Vater) sowie seine sieben Geschwister weiter in seinem Heimatdorf aufhältig seien. Zudem würde sein Vater die Familie finanziell unterstützen. Der Beschwerdeführer leide an keiner schwerwiegenden lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Erkrankung, oder sonstigen Beeinträchtigung. Er habe in Österreich den Vorbereitungskurs zum externen Pflichtschulabschluss und Deutschkurse absolviert. Seit Zuerkennung des subsidiären Schutzes durch das BFA am 24.11.2017 habe er fast immer Arbeitslosengeld bezogen. Kurze Zeitabstände dazwischen sei er vom Staat durch die Grundversorgung unterstützt worden. An ehrenamtlichen Tätigkeiten oder an anderen Integrationsmaßnahmen habe er nicht teilgenommen. Er sei Mitglied in einem Taekwando Verein. In seinem privaten Umfeld habe sich seit Zuerkennung des subsidiären Schutzes nichts geändert. Familienangehörige bzw. sonstige Anknüpfungspunkte in Österreich habe er nicht.
Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde ausgeführt, dass sich die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid vom 24.11.2017 vor allem auf die schlechten Unterstützungsmöglichkeiten seiner Verwandten, seiner nur teilweisen Arbeitsfähigkeit, und der Minderjährigkeit gestützt habe. Nunmehr werde festgestellt, dass der Sachverhalt der Zuerkennung nicht mehr vorliege. Eine Verfolgung in seinem Herkunftsstaat Afghanistan sowie eine Bedrohungssituation im Falle einer Rückkehr könne nicht festgestellt werden.
Verwandte (Eltern, Geschwister), zu denen der Beschwerdeführer Kontakt pflege, würden in Afghanistan leben, und bestünde aufgrund eines vorhandenen Bankwesen die Möglichkeit finanzieller Unterstützung durch seine Angehörigen.
Der Beschwerdeführer sei nun nicht mehr minderjährig.
Seine Herkunftsprovinz könne zwar nicht gefahrlos erreicht werden. Es könne jedoch nicht festgestellt werden, dass ihm im Falle einer Rückkehr in eine sichere Stadt (zB Mazar-e Sharif, Herat) ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit drohe. Eine Rückkehr sei für ihn zumutbar, da er mit Gelegenheitsjobs seinen Lebensunterhalt verdienen könne. Eine Integration in das Sozial- und Arbeitssystem in seinem Heimatland Afghanistan sei ebenfalls zumutbar.
Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass der Sachverhalt der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht mehr vorläge. Der Beschwerdeführer sei volljährig, arbeitsfähig und benötige im Grunde genommen keine familiären und sozialen Netzwerke in seinem Heimatland, da er selbsterhaltungsfähig sei. Da seine Familie nach wie vor in Afghanistan lebe, und es ihnen wirtschaftlich gut gehe, sei davon auszugehen, dass er auf familiäre Hilfe im Heimatland zurückgreifen könne. Zusammengefasst werde davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer ein junger, arbeitsfähiger Mann sei, der an keiner schwerwiegenden Erkrankung leide. Eine primäre ärztliche Grundversorgung in seinem Heimatland sei gegeben, die verordneten Medikamente könne er auch in Afghanistan beziehen. Ebenso könne er auf das familiäre Netzwerk bei einer Rückkehr zurückgreifen. Auch bestehe in Afghanistan ein funktionierendes Bankenwesen. Aus den angeführten Gründen stehe fest, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in der Provinz Balkh oder Herat, relativ rasch in der Lage wäre, sich eine Existenz aufzubauen, um für sich ausreichend sorgen zu können. Abgesehen von einer einmaligen Rückkehrhilfe in Form von Bargeld, könne in seinem Falle auch mit Unterstützung durch verschiedenste Organisationen und Institutionen gerechnet werden, sodass er nicht in eine ausweglose Situation geraten würde. Insbesondere aufgrund der Information des aktuellen Länderinformationsblattes, könne die Möglichkeit einer sofortigen Rückkehr nach Afghanistan, konkret in den Bereich Herat oder Mazar-e Sharif, nicht kategorisch ausgeschlossen werden, bzw. werde diese als zumutbar angesehen.
Rechtlich wurde ausgeführt, dass unter Gesamtbetrachtung aller angeführten Umstände davon ausgegangen werden könne, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan keiner Gefährdung oder Verfolgung ausgesetzt sei. Auch würden seine Angehörigen nach wie vor, offensichtlich ohne relevanten Probleme, in Afghanistan leben; von einer existenzgefährdenden Lebenssituation seiner Verwandten habe er nichts berichtet, und wurde auch amtswegig nichts bekannt.
12. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer im Wege der bevollmächtigten Vertretung fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang.
13. Am 02.05.2019 wurde eine Beschwerdeergänzung eingebracht.
14. Am 29.05.2019 wurde die Niederlegung der für die Beschwerdeerhebung erteilten Vollmacht mitgeteilt.
Mit Schriftsatz vom 04.06.2019 wurde die nunmehr für das Beschwerdeverfahren erteilte Vollmacht angezeigt, und ein ergänzendes Vorbringen erstattet.
15. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 07.06.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seiner bevollmächtigten Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Dari eingehend zu seiner Person, den Lebensumständen in Afghanistan, den Fluchtgründen, sowie zum Privat- und Familienleben in Österreich befragt.
Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung teil.
Die Stellungnahmen der bevollmächtigten Vertretung vom 24.04.2019 und 04.06.2019 wurden zusammenfassend verlesen.
Zur Untermauerung des Vorbringens wurden eine Information zur XXXX , die Accord Anfragebeantwortung vom 30.08.2017 „Sippenhaftung durch Taliban von Familienangehörigen von (angeblichen) Unterstützern der Regierungstruppen, insbesondere in der Provinz Nangarhar), die Landinfo vom 11.08.2017 „Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“, integrationsbescheinigende Unterlagen, sowie medizinische Beweismittel, in das Verfahren eingebracht.
Bereits in der Ladung wurden die Verfahrensparteien darauf hingewiesen, dass beabsichtigt ist, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan vom 29.06.2018 (letzte Information eingefügt am 26.03.2019) heranzuziehen. Das Bundesverwaltungsgericht brachte ergänzend die zwischenzeitlich zum Länderinformationsblatt ergänzte Kurzinformation vom 04.06.2019 sowie den Bericht von EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen), Arbeitsübersetzung der Staatendokumentation des BFA Stand 15.02.2018 zu afghanischen Netzwerken nach der Migration und Möglichkeit der Ansiedelung in städtischen Zentren ohne Netzwerk, die Richtlinien des UNHCR zur Feststellung der Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, sowie die EASO-Guidance Note zu Afghanistan von Juni 2018 in das Verfahren ein.
Die Verhandlungsschrift wurde den anwesenden Verfahrensparteien sowie der bevollmächtigten Vertretung des Beschwerdeführers persönlich ausgefolgt.
Dem Beschwerdeführer wurde eine Frist von vier Wochen zur Stellungnahme eingeräumt.
16. Mit dem Schriftsatz vom 05.07.2019 hat die bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers unter Vorlage integrationsbescheinigender Unterlagen und medizinischer Beweismittel eine Stellungnahme eingebracht, womit im Wesentlichen das bisherige Vorbringen wiederholt wurde.
Diese Stellungnahme wurde der belangten Behörde zur Kenntnis gebracht.
Die belangte Behörde hat sich dazu nicht geäußert.
17. Mit Schriftsatz vom 12.09.2019 hat die bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers eine ergänzende Stellungnahme zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingebracht.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person
Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensgemeinschaft des Islam. Die Muttersprache ist Dari.
Als Geburtsdatum wird der XXXX angenommen.
Er gelangte unter Umgehung der Einreisevorschriften nach Österreich und stellte am 15.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Zum Leben in Österreich
Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich bereits gut integriert. Er ist in Österreich jedoch nicht verheiratet, führt keine Lebensgemeinschaft, hat in Österreich keine Kinder und auch sonst keine nahen Verwandten oder Verwandte, die vom Beschwerdeführer finanziell abhängig sind oder Verwandte, von denen der Beschwerdeführer finanziell abhängig ist. Neben losen Freundschaften konnten keine weiteren substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens des Beschwerdeführers in Österreich festgestellt werden.
Dokumentiert sind Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2.
Der Beschwerdeführer hat Kurse betreffend den Pflichtschulabschluss, sowie Kurse zur Werteorientierung besucht, und war in Österreich mehrmals, jedoch nur kurzfristig, berufstätig. Er hat zwischendurch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bezogen.
Der Beschwerdeführer war in Österreich nicht ehrenamtlich tätig. Er ist Mitglied in einem Taekwondo-Verein.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zum Fluchtvorbringen
Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung wegen eines Konventionsgrundes in asylrelevantem Ausmaß.
Es droht ihm in Afghanistan aktuell keine Verfolgung durch die Taliban aufgrund seiner Familienzugehörigkeit, weil sein Vater Mitglied der XXXX Partei war, und für die XXXX gearbeitet hat.
Er war in Afghanistan keiner konkreten, gezielt gegen die Person gerichteten, Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht oder angegriffen, es droht ihm auch künftig keine psychische oder physische Gewalt von staatlicher Seite, oder von Aufständischen, oder von sonstigen privaten Verfolgern in seinem Herkunftsstaat. Er wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden des Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit, noch sonst irgendwelche Probleme.
Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat weder politisch tätig noch gehörte er einer politischen Partei oder politischen Bewegung an.
Aufgrund des Umstandes, dass er sich in Europa aufgehalten hat, ist konkret der Beschwerdeführer in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt bzw. hat er (oder jeder derartige "Rückkehrer") eine solche im Falle seiner Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten. Es droht ihm keine konkrete und individuelle Gefahr wegen einer ihm unterstellten Moral- und Wertehaltung, welche nicht jener in Afghanistan vorherrschenden entspricht.
Dem Beschwerdeführer droht wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara bzw. zur schiitischen Religion konkret und individuell keine physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Nicht jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion ist in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
Es haben sich im Verfahren keine hinreichend sicheren Anhaltspunkte für eine wohlbegründete Furcht des Beschwerdeführers, dass ihm in Afghanistan individuell und aktuell Verfolgung droht, ergeben.
Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.
1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand vom 29.06.2020:
Länderspezifische Anmerkungen
COVID-19:
29.06.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).
Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan
Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).
Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran
Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).
18.05.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).
Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).
IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:
? Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)
? Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).
Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)
Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).
Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer