TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/24 W187 2191559-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.07.2020
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Entscheidungsdatum

24.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W187 2191561-1/16E
W187 2191559-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX und 2. XXXX , geboren am XXXX , beide afghanische Staatsangehörige, beide vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom jeweils 2.3.2018, 1. XXXX und 2. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden wird hinsichtlich Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide stattgegeben und XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 wird XXXX und XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos behoben.

V. Die Beschwerde von XXXX gegen Spruchpunkt VII. des sie betreffenden angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang

1. XXXX (in der Folge: Erstbeschwerdeführerin), ihr zum damaligen Zeitpunkt minderjähriger Sohn XXXX (in der Folge: Zweitbeschwerdeführer) und ihre zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Tochter XXXX reisten gemeinsam unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am XXXX ihren Antrag auf internationalen Schutz stellten.

2. Die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer und XXXX wurden im Rahmen ihrer jeweiligen Erstbefragungen am XXXX durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu ihren Identitäten, ihrer Reiseroute und ihren Fluchtgründen einvernommen. Die Erstbeschwerdeführerin gab an, am XXXX in Maidan Wardak in Afghanistan geboren zu sein und der Volksgruppe der Hazara anzugehören. Sie sei verwitwet und Mutter der mitgereisten Minderjährigen. Als Beweggrund für die gemeinsame Ausreise führte sie an, ihr Mann sei vor ca. zwei Jahren im Krieg verstorben. Ihr Schwager habe sie danach heiraten wollen, um ihren Sohn, den Zweitbeschwerdeführer, in den Krieg schicken zu können. Die Erstbeschwerdeführerin habe dies jedoch nicht gewollt, da sie Angst gehabt habe, ihren Sohn zu verlieren. Aus diesem Grund sei sie mit ihren Kindern geflüchtet. Im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan befürchte die Erstbeschwerdeführerin, sie und ihre Kinder könnten umgebracht werden, da es afghanischen Frauen nicht erlaubt sei, von zu Hause wegzugehen.

Der Zweitbeschwerdeführer gab an, er sei am XXXX in Maidan Wardak in Afghanistan geboren und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei ledig und habe keine Kinder. Die Erstbeschwerdeführerin sei seine Mutter, sein Vater sei verstorben. Weiter sei seine Schwester mit nach Europa gereist. Zum Fluchtgrund führte er aus, sein Vater sei vor zwei Jahren im Krieg gestorben. Sein Onkel habe seine Mutter heiraten wollen, damit er ihn in den Krieg schicken könne. Seine Mutter habe sich geweigert. Auch der Zweitbeschwerdeführer habe nicht in den Krieg ziehen wollen, da sein Vater deshalb bereits gestorben sei. Aus diesen Gründen seien sie geflüchtet. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan befürchte der Zweitbeschwerdeführer, dass man ihn und seine Mutter umbringen werde. Afghanische Frauen würden nicht von zu Hause weggehen dürfen. Sie würden gesteinigt und getötet werden. Womöglich würde man den Zweitbeschwerdeführer auch einsperren.

3. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde die Erstbeschwerdeführerin zur Zahl XXXX wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs 2, 224 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt. Gemäß § 43 Abs 1 StGB wurde die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl teilte der Erstbeschwerdeführerin mit Verfahrensanordnung vom XXXX den Verlust ihres Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs 2 AsylG wegen Straffälligkeit mit.

5. Die Beschwerdeführer und XXXX wurden am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson niederschriftlich zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen.

Die Erstbeschwerdeführerin gab hier zunächst an, sie leide unter psychischen Problemen und nehme Medikamente ein. Zwei bis drei Mal im Monat sei sie bei einem Therapeuten in Behandlung. Sie sei nicht in Maidan Wardak, sondern in der afghanischen Provinz Parwan im Distrikt XXXX geboren. Erst nach ihrer Hochzeit sei sie nach Maidan Wardak gezogen. Zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen zusammengefasst an, ihr Gatte sei vor ungefähr dreieinhalb Jahren im Hazara-Kutschi-Konflikt getötet worden. Daraufhin habe ihr Schwager, ein tyrannischer Mann, sie heiraten wollen, um ihren Sohn, den Zweitbeschwerdeführer, in den Krieg schicken zu können. Im Fall einer Heirat wäre der Schwager das Familienoberhaupt geworden. Solange die Erstbeschwerdeführerin ihn nicht heiratete, sei ihr Sohn, der Zweitbeschwerdeführer, das Familienoberhaupt gewesen. Da die Erstbeschwerdeführerin sich geweigert habe, ihn zu heiraten, habe ihr Schwager sie regelmäßig geschlagen und sie am Kopf und am Rücken verletzt. Einmal habe er sie auch vergewaltigt. Eines nachts habe die Erstbeschwerdeführerin ihre Tochter schreien gehört. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer seien davon wach geworden. An jenem Platz, wo normalerweise Brot gebacken wird, hätten sie ihren Schwager gefunden, der ihre Tochter vergewaltigen habe wollen. Nach diesem Vorfall habe ihre Tochter in der Nacht regelmäßig geschrien und Angst gehabt. Daraufhin habe die Erstbeschwerdeführerin den Entschluss gefasst, vor ihrem Schwager zu flüchten. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte die Erstbeschwerdeführerin, getötet zu werden, da eine Frau, die das Haus verlassen habe, gesteinigt werde.

Der Zweitbeschwerdeführer führte zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen zusammengefasst aus, sein Vater sei im Jahr XXXX ( XXXX ) von den Kutschis getötet worden. Daraufhin habe sein Onkel die Familie terrorisiert und den Zweitbeschwerdeführer und seine Mutter, die Erstbeschwerdeführerin, regelmäßig geschlagen. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters habe der Onkel an den Kämpfen mit den Kutschis teilnehmen müssen, da aus jedem Haus eine Person dazu verpflichtet gewesen sei. Sein Onkel habe dann beschlossen, seine Mutter zu heiraten, weil er den Zweitbeschwerdeführer dann an seiner Stelle in den Krieg schicken hätte können. Seine Mutter habe sich jedoch geweigert. Zwei Jahre lang habe seine Mutter dies ausgehalten. Dann hätten sie jedoch um Mitternacht seine Schwester schreien hören und den Onkel dabei erwischt, als er seine Schwester vergewaltigen habe wollen. In dieser Nacht habe der Onkel den Zweitbeschwerdeführer und seine Mutter geschlagen. Seine Schwester habe nach diesem Vorfall nicht mehr schlafen können und nachts immer geschrien. Eine Woche später habe seine Mutter, die Erstbeschwerdeführerin, daher entschieden, dass sie flüchten müssten.

6. Am XXXX langte bei der belangten Behörde eine gemeinsame Stellungnahme der Beschwerdeführer zu ihren Fluchtgründen sowie zu den Länderinformationen ein.

7. Am XXXX langte eine Anwesenheitsbestätigung von XXXX , Partner-, Ehe-, Familien- und Lebensberatung betreffend die Erstbeschwerdeführerin bei der belangten Behörde ein.

8. Mit den gegenständlich angefochtenen Bescheiden vom jeweils XXXX wurden die Anträge der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers sowie mit Bescheid vom XXXX , XXXX , der Antrag von XXXX sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt. Betreffend die Erstbeschwerdeführerin wurde unter Spruchpunkt VII. zudem ausgesprochen, sie habe gemäß § 13 Abs 2 Z 1 AsylG ihr Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 24.1.2017 verloren.

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde den Beschwerdeführern amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

9. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer und XXXX , alle vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schreiben vom XXXX gemeinsam fristgerecht vollumfängliche Beschwerde.

10. Die Beschwerden und die dazugehörigen Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt. In einem verzichtete die belangten Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

11. Mit Entscheidung des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX wurde das Beschwerdeverfahren betreffend die Tochter bzw Schwester der Beschwerdeführer, XXXX , wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung einer Gerichtsabteilung mit weiblicher Leitung zugewiesen, da diese gemäß § 20 AsylG im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Einvernahme durch eine weibliche Organwalterin verlangte. Das Beschwerdeverfahren betreffend die Erstbeschwerdeführerin verblieb (gemeinsam mit dem Beschwerdeverfahren betreffend den Zweitbeschwerdeführer) bei der erkennenden Gerichtsabteilung, da diese trotz behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Fortsetzung ihrer Einvernahme durch den männlichen Organwalter zustimmte, was als Verlangen, nicht von einem gleichgeschlechtlichen Organwalter einvernommen zu werden, gewertet wurde. Im Sinne der Bestimmungen zum Familienverfahren (§ 34 AsylG 2005) sei durch die beteiligten Gerichtsabteilungen bei der Entscheidungsfindung koordiniert vorzugehen.

Das Beschwerdeverfahren betreffend die Tochter der Erstbeschwerdeführerin bzw die Schwester des Zweitbeschwerdeführers, XXXX , wurde in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W161 zugewiesen.

12. Mit Schriftätzen vom XXXX sowie vom XXXX übermittelten die Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht durch ihre Rechtsvertretung ein Konvolut an Integrationsunterlagen.

13. Mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom XXXX , XXXX wurde der zum damaligen Zeitpunkt minderjährigen Tochter der Erstbeschwerdeführerin bzw Schwester des Zweitbeschwerdeführers, XXXX , gemäß § 3 Abs 1 und 4 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG wurde festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Begründend wurde ausgeführt, bei XXXX handle es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte junge Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten, Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sei. Es sei zu prognostizieren, dass sie im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan als westlich orientierte Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffen von erheblicher Intensität ausgesetzt sein werde.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhob gegen dieses Erkenntnis weder Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof noch außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof, weshalb das mündlich verkündete Erkenntnis vom XXXX , XXXX , rechtskräftig ist.

14. Am XXXX langte ein gemeinsames ergänzendes Vorbringen der Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein, in dem insbesondere darauf verwiesen wird, dass der zum damaligen Zeitpunkt minderjährigen Tochter der Erstbeschwerdeführerin der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Es werde ersucht, den Beschwerdeführer schnellstmöglich Asyl gemäß § 34 AsylG zuzuerkennen. Im Übrigen wird näheres zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer sowie zur Asylrelevanz ihres Vorbringens ausgeführt. In einem wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen betreffend die Beschwerdeführer vorgelegt.

15. Mit Ladung vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht je eine mündliche Verhandlung für den XXXX an und übermittelte den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan.

16. Mit Schriftsatz vom XXXX übermittelte die Rechtsvertretung der Beschwerdeführer dem erkennenden Gericht ein Konvolut an Integrationsunterlagen betreffend die Beschwerdeführer. Weiter wurde ausdrücklich bestätigt, dass die Erstbeschwerdeführerin trotz behaupteten Eingriffs in ihre sexuelle Selbstbestimmung damit einverstanden ist, wenn das Verfahren nicht von einem Organwalter desselben Geschlechts geführt wird.

17. Die belangte Behörde teilte dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom XXXX mit, dass kein Behördenvertreter an den für den XXXX anberaumten mündlichen Verhandlungen teilnehmen werde.

18. Am XXXX fanden vor dem Bundesverwaltungsgericht zwei öffentliche mündliche Verhandlungen statt, im Zuge derer die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer im Beisein des ausgewiesenen Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari jeweils getrennt vom erkennenden Richter zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz und ihren Beschwerdegründen einvernommen wurden. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

Die Verhandlungsschrift betreffend die Erstbeschwerdeführerin lautet auszugsweise:

„[…]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Ich nehme regelmäßig Medikamente und bin in Behandlung. Ich habe psychische Beschwerden.

Richter: Sind Sie mit einer Verhandlungsleitung durch einen Verhandlungsleiter/RichterIn eines anderen Geschlechts einverstanden?

Beschwerdeführer: Ich habe keine Einwände.

[…]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich kenne mein genaues Geburtsdatum nicht. Ich bin in der Provinz XXXX geboren. Das ist in der Provinz Parwan und ist ein Distrikt.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Ich bin Analphabetin. Seit XXXX Jahren besuche ich in Österreich einen Deutschkurs. Ich kann jetzt abschreiben. Ich kann meine Muttersprache, Dari, und ein bisschen Deutsch. Deutsch verstehe ich sehr wenig.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich war verheiratet, mein Ehemann wurde getötet, ich bin Hazara und Schiitin.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Ja. Ich habe 2 lebende Kinder. 3 meiner Kinder sind verstorben.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Bis zu meinem XXXX . oder XXXX Lebensjahr habe ich im Distrikt XXXX gelebt. Dann habe ich geheiratet. Mein Ehemann stammte aus der Provinz Maidan Wardak, aus der Region XXXX . Dort habe ich dann gelebt. Bis vor XXXX Jahren habe ich in der Region XXXX gelebt.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: Im Elternhaus meines Ehemannes haben wir gelebt. Dann ist dort der Krieg ausgebrochen. Im Sommer sind die Kochi gekommen und haben auf die Hazara geschossen.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich habe in der Landwirtschaft gearbeitet. Wir hatten Tiere, ich habe die Tiere gehütet und habe mich auch um den Haushalt gekümmert.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Ich bin Analphabetin, ich habe nie eine Schule besucht.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Meine Familie und meine Geschwister leben in Afghanistan. Zwei Brüder leben in Afghanistan. Ein Bruder lebt in der Region Parwan. In der Ortschaft XXXX .

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Ja, zu meinen zwei Schwestern und zu einem Bruder habe ich Kontakt.

Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Nur zu meinen Schwestern und zu meinem Bruder habe ich Kontakt.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Ich gehe in den Deutschkurs und lerne. Ich unterstütze meine Kinder und koche für sie und mache den Haushalt. Ich möchte, dass meine Kinder etwas lernen und das sie einen guten Beruf erlernen.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Ja. Ich habe einige Freundinnen. Die habe ich im Kurs kennengelernt.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Ja. Wegen dem Reisepass. Das war am Flughafen und ich hatte eine Gerichtsverhandlung.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Mein Ehemann wurde bei den Kämpfen mit den Kochi getötet. Nach dem Tod meines Mannes habe ich ein Jahr lang mit meinen beiden Kindern bei meinem Schwager und seiner Familie gelebt. Mein Schwager wollte mich unter Zwang heiraten. Mein Sohn war bereits 16 Jahre alt. Er wollte meinen Sohn in den Krieg schicken, damit er selbst nicht mitkämpft. Mein Schwager wollte mich unter Zwang heiraten. Es ist mir zwar unangenehm, weil meine Kinder hinten sitzen und zuhören…

Richter: Sollen sie hinausgehen?

Beschwerdeführer: Nein. Ich wurde von meinem Schwager vergewaltigt. Meine Kinder können ruhig hier bleiben. Ich wurde auch geschlagen – er hat mich überall geschlagen. Beim Brotbacken hat er mich verbrannt. Die Narben sind an meinem Handgelenk zu sehen. Am Kopf habe ich Verletzungen. (Die Beschwerdeführerin beginnt zu weinen) Einmal hat er mich geschlagen und ich bin davongelaufen. Dabei bin ich gestürzt und habe mir drei Wirbeln gebrochen. Wenn ich krank geworden bin, hat er mich nie zu einem Arzt gebracht. Ich wurde zu einem Naturheiler gebracht. Der hat heiße Gegenstände auf meinen Körper gelegt und gemeint, dass ich dadurch gesund werde. Ich habe auf meinem Brustkorb Narben von dieser Selbstheilungskur. Ich wurde nie zu einem Arzt gebracht und meine Kinder wurden geschlagen. Mein Sohn wurde von ihm geschlagen und meine Tochter auch. Eines Abends hat er versucht, meine Tochter zu vergewaltigen. Mein Sohn und ich sind aufmerksam geworden und konnten sie von dort herausholen. Seitdem hatte sie dann Albträume. Er wollte mich unter Zwang heiraten. Seine Frau war damit überhaupt nicht einverstanden. Eines Abends habe ich den Entschluss gefasst, dass es so nicht mehr weiter geht. Ich habe es ausgehalten, so viel er mich auch geschlagen hat, aber ich konnte es nicht ertragen, wenn er meine Kinder geschlagen hat. Er wollte meinen Sohn in den Krieg schicken, statt sich selbst. Mein ganzes Leben dreht sich um meine Kinder. Wenn mein Sohn in den Krieg geschickt worden und wie sein Vater getötet worden wäre, wäre es für mich das Ende des Lebens. Einmal hat er meinen Sohn mit der Schaufel auf den Feldern in die Hand geschlagen. Er wurde verletzt. Ein anderes Mal hat er ihn mit der Sense geschlagen. Das war immer Streit. Auch das Essen haben wir nie glücklich verzehrt. Ich musste immer weinen und meine Kinder weinten mit. Er hat mich unterdrückt. Ich habe den Kindern nichts gesagt. Ich habe ihre Kleidung und alles vorbereitet und sie um 4 Uhr früh aufgeweckt und gesagt, dass wir jetzt von hier weggehen. Wir sind dann Richtung Kabul aufgebrochen. Ich habe meinen Bruder angerufen. Er hat mich nicht zu sich mitgenommen, denn er sagte, es könnte sein, dass mein Schwager mich bei ihm er wischt. Er brachte mich in ein Hotel. Wir sind dann dort geblieben. Mein Bruder meinte, dass wir von Kabul weggehen sollten, denn er könnte uns dort erwischen. Dann hat er uns zu einem Bus gebracht und wir haben unsere Reise gestartet.

Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Nur vom Schwager wurde ich bedroht. Er hat uns geschlagen, er hat mich vergewaltigt, er hat mich und meine Kinder unterdrückt. Ständig wurden wir geschlagen. Ich wollte nicht wieder heiraten. Er sagte mir, wenn ich nicht heirate, dann wird so mein alltägliches Leben sein. Es wäre sein Vorteil gewesen, mich zu heiraten, denn dann könnte er meinen Sohn statt sich in den Krieg schicken. Weder nachts noch tagsüber hatte ich Ruhe. Ich hatte ständige Angst. Er hat mich nie zum Arzt gebracht. Ich bekam psychische Probleme. Ich bin immer ohnmächtig geworden. In Österreich war ich dann 18 Tage im Krankenhaus aufhältig. Ich wurde zu unterschiedlichen Psychologen geschickt – die Unterkunftsgeber haben mich sehr unterstützt.

Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?

Beschwerdeführer: Ich habe Angst vor meinem Schwager, denn dort ist es üblich, wenn eine Frau aus dem Haus flüchtet, wird sie gesteinigt. Es ist kein einfacher Tod, sondern der Tod durch Steinigung.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: Illegal. Von Kabul sind wir in Richtung Iran aufgebrochen und vorn dort dann in die Türkei. Von der Türkei bin ich dann nach Griechenland. Ich war in Begleitung meiner beiden Kinder. In Griechenland sind wir dann 3 Monate geblieben. Dann wurden wir vom Schlepper mittels Flugzeug nach Österreich geschickt und waren schließlich hier.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Mein Bruder hat uns finanziell unterstützt und sein Haus verkauft. Ich hatte nur 100.000 Afghani, das war das Geld von den Ersparnissen meines Mannes. Alles andere hat mein Bruder bezahlt.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Ich möchte hier bleiben.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Man wird mich dort sofort töten. Man wird mich und meine Kinder töten. Wenn eine Frau flüchtet, kann sie auf keinen Fall zurückkommen. Insbesondere bei den Hazara.

Rechtsvertreter: Ich verweise auf das Erkenntnis der Tochter vom XXXX zur Aktenzahl XXXX , womit der Tochter die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Daher ersuche ich um Stattgabe der Beschwerde.

[…]

Der Beschwerdeführer bringt nichts mehr vor.

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja.“

Die Rechtsvertretung der Erstbeschwerdeführerin legte in der mündlichen Verhandlung ein Unterstützungsschreiben der XXXX vom XXXX vor, das zum Akt genommen wurde.

Die Verhandlungsschrift betreffend den Zweitbeschwerdeführer lautet auszugsweise:

„[…]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Mir geht es gut.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Nein. Ich nehme keine Medikamente und stehe auch nicht in ärztlicher Behandlung.

[…]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin am XXXX geboren, in der Provinz Maidan Wardak, im Distrikt XXXX .

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Ich spreche Deutsch, etwas Englisch und Dari.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich bin Hazara, Schiit und ledig.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Ich habe immer schon in der Region XXXX , im Dorf XXXX , in der Ortschaft XXXX gelebt.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: Ich habe im Elternhaus gelebt.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich habe bis zur 5. Klasse die Schule besucht. Ab der 6. Klasse habe ich die Schule abgebrochen. Danach habe ich begonnen, auf den Feldern in der Landwirtschaft zu arbeiten. Das war zu der Zeit, als mein Vater getötet wurde.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: 5 Jahre in Afghanistan und 1.5 Jahre habe ich hier die Hauptschule besucht.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: 2 Tanten und 2 Onkel mütterlicherseits leben in Afghanistan. Sonst habe ich niemanden. Ich habe einen Onkel väterlicherseits. Er ist im Heimatdorf, aber von ihm weiß ich nichts.

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Ich persönlich habe zu niemandem Kontakt.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Hier habe ich ein gutes Leben. Ich kann hier machen was ich möchte. Zurzeit arbeite ich. Ich habe den Deutschkurs schon gemacht. Auch die Schule habe ich hier besucht. Das Leben ist her besser, als in Afghanistan.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Ja. Ich bin im Verein XXXX .

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Ja, ein Mal. Das war XXXX , kurz nachdem ich in Österreich eingereist war. Es gab Streitigkeiten. Außer dieser Auseinandersetzung hatte ich keine weiteren Probleme.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Das, was meine Mutter gesagt hat, stimmt alles. (Der Beschwerdeführer war bei der mündlichen Verhandlung am heuteigen Tag im Verfahren XXXX anwesend und hat die Aussage seiner Mutter zur Gänze gehört.) Meine Mutter, meine Schwester und ich wurden von meinem Onkel unterdrückt. Er war gewalttätig. Mein Vater ist im Krieg getötet worden. Nach dem Tod meines Vaters hat mein Onkel beschlossen, dass er meine Mutter heiraten möchte. Er wollte mich dann als mein Vater in den Krieg schicken. Meine Mutter wollte mich nicht in den Krieg schicken und ich wollte auch nicht, da mein Vater im Krieg umgekommen ist. Es war nicht mehr auszuhalten, dass mein Onkel väterlicherseits mit meiner Mutter und meiner Schwester gemacht hat. Er hat mich misshandelt. Einmal hat er mich mit der Schaufel auf den Fingern geschlagen. Ich kann meinen linken Mittelfinger nicht beugen. Auch auf der rechten Handfläche und am Handrücken wurde ich verletzt. Die Narben sind noch zu sehen. Meine Mutter hat eine Entscheidung getroffen – ohne uns etwas zu erzählen. Es war in der Nacht, als sie uns aufgeweckt hat und uns gesagt hat, dass wir von hier weggehen müssen. Sie sagte, wir können nicht länger diese Gewalt und Unterdrückung aushalten. Ich wollte selbst nicht zur Waffe greifen und gegen den Feind kämpfen. Deswegen sind wir dann vom Heimatdorf in Richtung Kabul geflüchtet. Dort haben wir unseren Onkel mütterlicherseits getroffen. Wir haben ihm alles erzählt. Er sagte, dass wir in Afghanistan nicht länger bleiben können und von hier weg müssen. Meine Mutter ist von zuhause weggelaufen und wenn jemand von zuhause wegläuft, besteht für ihn keine Hoffnung mehr, dort weiter zu leben.

Richter: Sind Sie – abgesehen von Ihrem Onkel – jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?

Beschwerdeführer: Bei einer Rückkehr wird er meine Mutter steinigen. Was er mit meiner Schwester machen wird, weiß ich nicht. Mich wird er bestimmt in den Krieg gegen die Kochi schicken. In Afghanistan herrscht Krieg. Das möchte ich nicht. Ich möchte nicht zur Waffe greifen. Die letzten XXXX Jahre, seit ich hier lebe, waren die glücklichsten Tage meines Lebens.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin gemeinsam mit meiner Mutter von Kabul in den Iran gereist. Vom Iran in die Türkei und nach Griechenland. Von Griechenland sind wir dann mit dem Flugzeug nach Österreich gereist.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Meine Mutter hatte etwas Geld. Das restliche Geld wurde von meinem Onkel mütterlicherseits bezahlt.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Aus diesem Grund, dass wir nicht nach Afghanistan zurückkehren wollen. Dort ist es weder für mich, noch für meine Mutter oder meine Schwester sicher. Ich möchte in Österreich bleiben und mir hier ein neues Leben aufbauen.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Es gibt keinen Weg, um zurückzukehren. Es geht gar nicht und ich möchte niemals nach Afghanistan zurückkehren.

[…]

Der Beschwerdeführer bringt nichts mehr vor.

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja.“

Die Rechtsvertretung des Zweitbeschwerdeführers verwies in der mündlichen Beschwerdeverhandlung auf die bisherigen Anträge aus der Beschwerde sowie auf Länderberichte betreffend die Zwangsrekrutierung von jungen Männern und die Praxis, neue Kämpfer anzuwerben. Der Zweitbeschwerdeführer gehöre daher zu einer Risikogruppe, die als solche mit dem Tod bedroht und verfolgt werde. Aus diesem Grund sei der Zweitbeschwerdeführer Flüchtling im Sinn der GFK. Die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylstatus und der Flüchtlingseigenschaft würden vorliegen. Der Zweitbeschwerdeführer zähle nicht zur Risikogruppe der durch COVID-19 gefährdeten Personen (ältere Menschen bzw Menschen mit Vorerkrankungen). Lebensgefahr könne für den Zweitbeschwerdeführer jedoch nicht ausgeschlossen werden, zumal auch junge und derzeit gesunde Menschen aufgrund einer Infektion mit dem COVID-19-Virus sterben können. Die gesundheitlichen Folgen einer Rückkehr nach Afghanistan seien insbesondere hinsichtlich einer möglichen Mangelernährung aufgrund der angespannten Situation und der steigenden Lebensmittelpreise nicht absehbar. Es könne daher nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden, dass der Zweitbeschwerdeführer in keine besorgniserregende bzw lebensbedrohliche Situation geraten werde. Es werde daher um Stattgabe der Beschwerde ersucht.

Weiter legte die Rechtsvertretung des Zweitbeschwerdeführers in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ein Unterstützungsschreiben des Vereins XXXX vom XXXX und eine Bestätigung über die ehrenamtliche Tätigkeit des XXXX vom XXXX vor. Diese Unterlagen wurden zum Akt genommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakten des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und die Verfahrensakten des Bundesverwaltungsgerichts betreffend die Beschwerdeführer sowie XXXX (Beschwerdeführerin zu XXXX ), insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zu den Personen der Beschwerdeführer und ihrem Leben in Afghanistan

Die Beschwerdeführer tragen den im Spruch angeführten Namen und sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan. Sie gehören der Volksgruppe der Hazara an und sind der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari. Die Erstbeschwerdeführerin ist Analphabetin und kann diese Sprache weder lesen noch schreiben. Der Zweitbeschwerdeführer beherrscht seine Muttersprache in Wort und Schrift. Die Erstbeschwerdeführerin spricht zumindest etwas Deutsch, der Zweitbeschwerdeführer spricht Deutsch zumindest auf Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

Die Erstbeschwerdeführerin ist verwitwet und Mutter des Zweitbeschwerdeführers sowie einer Tochter, XXXX , geboren am XXXX (Beschwerdeführerin zu XXXX ). Sie hat keine weiteren Kinder. Der Zweitbeschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Beide Beschwerdeführer sind im Entscheidungszeitpunkt jedenfalls volljährig.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde in der afghanischen Provinz Parwan im Distrikt XXXX geboren und wuchs dort im afghanischen Familienverband gemeinsam mit ihren Eltern, drei Brüdern und drei Schwestern auf. Sie lebte dort bis zu ihrem XXXX . oder XXXX . Lebensjahr. Nach der Hochzeit mit ihrem Gatten übersiedelte die Erstbeschwerdeführerin zu ihrem Ehemann in die Provinz Maidan Wardak. Dort lebte sie mit ihrem Ehemann, dessen Bruder und seiner Frau im Elternhaus ihres Gatten. Im Jahr XXXX kam der Zweitbeschwerdeführer und im Jahr XXXX die Tochter, XXXX (Beschwerdeführerin zu XXXX ), in Maidan Wardak zur Welt. Ungefähr im Jahr XXXX kam der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin (= Vater des Zweitbeschwerdeführers) ums Leben, wobei die genaue Todesursache nicht festgestellt werden kann. Die Familie lebte daraufhin bis zur gemeinsamen Ausreise im Jahr XXXX im gemeinsamen Haushalt mit dem Schwager der Erstbeschwerdeführerin (= Onkel väterlicherseits des Zweitbeschwerdeführers) und dessen Gattin.

Die Erstbeschwerdeführerin durfte keine Schule besuchen und erlernte nie einen Beruf. Sie war ihr gesamtes Leben bis zur Ausreise Hausfrau, kümmerte sich als solche um den Haushalt und versorgte die Kühe und Schafe in der familieneigenen Landwirtschaft. Sie ist nicht selbsterhaltungsfähig und wurde in Afghanistan von ihrem Gatten bzw nach dessen Tod von ihrem Schwager versorgt. Der Zweitbeschwerdeführer besuchte in Afghanistan fünf Jahre die Schule, erlernte jedoch ebenfalls keinen Beruf. Nach dem Tod seines Vaters brach er die sechste Klasse ab und begann, auf den Feldern in der familieneigenen Landwirtschaft zu arbeiten.

Die Eltern der Erstbeschwerdeführerin sowie der Gatte der Erstbeschwerdeführerin (= Vater des Zweitbeschwerdeführers) sind bereits verstorben. Ein Bruder der Erstbeschwerdeführerin lebt in der afghanischen Provinz Parwan im Distrikt XXXX . Die drei Schwestern und zwei Brüder der Erstbeschwerdeführerin leben in Kabul. Der Schwager der Erstbeschwerdeführerin, der Onkel väterlicherseits des Zweitbeschwerdeführers, lebt nach wie vor im Heimatdorf in der Provinz Maidan Wardak. Weitere Verwandte oder enge Bezugspersonen der Beschwerdeführer leben nicht in Afghanistan. Die Erstbeschwerdeführerin steht in regelmäßigem Kontakt mit zwei Schwestern und einem Bruder. Der Zweitbeschwerdeführer hat keinen Kontakt mit Verwandten in Afghanistan. Es haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Verwandten der Beschwerdeführer in der Lage wären, die Beschwerdeführer im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan finanziell zu unterstützen. Die Tochter der Erstbeschwerdeführerin, die Schwester des Zweitbeschwerdeführers, XXXX die Beschwerdeführerin zu XXXX , reiste mit den Beschwerdeführern gemeinsam ein und lebt in Österreich gemeinsam mit den Beschwerdeführern in XXXX

1.2 Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich

Die Erstbeschwerdeführerin, der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Zweitbeschwerdeführer und die zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Tochter der Erstbeschwerdeführerin, die Schwester des Zweitbeschwerdeführers, XXXX , die Beschwerdeführerin zu XXXX , gelangten im XXXX gemeinsam in das österreichische Bundesgebiet und stellten am XXXX , der damals minderjährige Zweitbeschwerdeführer und die damals minderjährige Tochter der Erstbeschwerdeführerin, XXXX , vertreten durch ihre Mutter, die Erstbeschwerdeführerin, (gegenständliche) Anträge auf internationalen Schutz. Seither halten sie sich durchgehend im Bundesgebiet auf.

Das Verfahren wird – auch betreffend die zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige Tochter der Erstbeschwerdeführerin, XXXX , die Beschwerdeführerin zu XXXX , – als Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 geführt.

Der zum Zeitpunkt ihrer gemeinsamen Antragstellung minderjährigen Tochter der Erstbeschwerdeführerin, XXXX , wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , gemäß § 3 Abs 1 und 4 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG wurde festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Dieses Erkenntnis ist rechtskräftig. Es wird kein Aberkennungsverfahren gegen die Tochter der Erstbeschwerdeführerin, XXXX , geführt.

Außer XXXX leben in Österreich keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen der Beschwerdeführer. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft der Beschwerdeführer in Österreich, noch gibt es in Österreich geborene Kinder der Beschwerdeführer.

Die Beschwerdeführer bewohnen gemeinsam mit XXXX , der Tochter der Erstbeschwerdeführerin bzw Schwester des Zweitbeschwerdeführers, eine Unterkunft in XXXX . Die Erstbeschwerdeführerin bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. Der Zweitbeschwerdeführer ist erwerbstätig und arbeitet seit XXXX bei der XXXX in XXXX .

Die Erstbeschwerdeführerin nahm seit ihrer Einreise an mehreren Basisbildungs-, Deutsch- und Integrationskursen teil. Unter anderem besuchte sie regelmäßig das Deutsch-Angebot des Magistrats der Landeshauptstadt XXXX „Miteinander Sprechen“. Seit XXXX besucht die Erstbeschwerdeführerin laufend Basisbildungs- und Deutschkurse im Verein „ XXXX “ in XXXX Zusätzlich zum Kursangebot nutzt die Erstbeschwerdeführerin die Lernberatung. Die Erstbeschwerdeführerin hat den Alphabetisierungsprozess zwischenzeitlich abgeschlossen und besucht derzeit einen Deutschkurs auf Niveau A1. Sie hat jedoch noch keine Prüfung zu ihren Deutschkenntnissen abgelegt. Es kann daher nicht festgestellt werden, auf welchem Niveau die Erstbeschwerdeführerin Deutsch spricht. Weiter nahm sie an einem Workshop zum Thema „Interkulturelle Kompetenzen“ teil und schloss einen Computerkurs für Anfängerinnen ab. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. In ihrer Freizeit besuchte die Erstbeschwerdeführerin einen Handarbeit-Workshop, einen Nähkurs und einen Schwimmkurs. Weiter half sie der „ XXXX “, Freie Christengemeinde-Pfingstgemeinde, bei der Ausrichtung kultureller Feste und kochte zwei Mal im Rahmen verschiedener afghanischer kultureller Feste für die Besucher.

Der Zweitbeschwerdeführer nahm seit seiner Einreise an mehreren Deutsch-, Integrations- und Basisbildungskursen teil. Im XXXX legte der Zweitbeschwerdeführer eine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen auf Niveau A1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen ab, die er mit der Note „sehr gut“ bestand. Seit XXXX nimmt der Zweitbeschwerdeführer regelmäßig an „ XXXX “, einem Projekt von „ XXXX “ in XXXX und XXXX für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren, die weder in Arbeit, Ausbildung, Schulung noch in Beschäftigung sind, teil. Im Rahmen dieses Projekts nimmt der Beschwerdeführer insbesondere an der wöchentlichen Deutsch- und Mathematik-Nachhilfe teil oder arbeitet in der Kreativ-Werkstatt unter anderem mit Holz. Weiter nahm er im XXXX am Boys Day teil und erhielt einen Einblick in den Beruf des Fachsozialbetreuers. Im XXXX legte der Zweitbeschwerdeführer erfolgreich eine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen auf Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen ab und erwarb ein ÖSD-Zertifikat B1. Zuletzt besuchte der Beschwerdeführer einen Deutschkurs auf Niveau B2. Von XXXX bis XXXX erledigte der Zweitbeschwerdeführer ehrenamtlich Hilfstätigkeiten für die XXXX in zwei Flüchtlingshäusern. Weiter war er im XXXX ehrenamtlich für die Organisation XXXX tätig, die er bei „ XXXX “ durch Vorbereitung und Mitarbeit in der Getränkebar unterstützte. Im Haus für Senioren des XXXX in XXXX war der Beschwerdeführer ebenfalls von XXXX bis XXXX als ehrenamtlicher Mitarbeiter tätig. Am XXXX legte der Beschwerdeführer erfolgreich die Pflichtschulabschluss-Prüfung vor der Externistenprüfungskommission an einer Neuen Mittelschule mit künstlerisch-kreativem Schwerpunkt ab. Seit XXXX ist der Zweitbeschwerdeführer erwerbstätig und unbefristet bei der Firma XXXX angestellt. Der Zweitbeschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft.

Die Erstbeschwerdeführerin leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) sowie an einer Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion (F43.2). Gelegentlich treten bei der Erstbeschwerdeführerin auch Suizidgedanken auf. Weiter klagt sie häufig über chronische Kopfschmerzen sowie über Brustkorb- und Hüftschmerzen. Zudem weist die Erstbeschwerdeführerin eine ältere Wirbelkörperfraktur, eine 2,5 cm lange Narbe am rechten Handgelenk sowie eine 1 cm große Narbe am Kopf auf. Sie befindet sich seit XXXX in Betreuung bei einer Klinischen- und Gesundheitspsychologin der XXXX . Seit XXXX ist die Erstbeschwerdeführerin im erhöhten Betreuungsbedarf, was bedeutet, dass sie vermehrte und spezifische Unterstützung bekommt. Laut der behandelnden Psychologin leidet die Erstbeschwerdeführerin aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen auch unter Konzentrationsstörungen, reduziertem Erinnerungsvermögen und Merkfähigkeit, Schlafstörungen, Panikattacken, raschen Ermüdungserscheinungen und Schluck- und Atembeschwerden. Wegen ihres Gesundheitszustandes befand sich die Erstbeschwerdeführerin von XXXX bis XXXX von XXXX bis XXXX sowie im XXXX in Behandlung im Gesundheitszentrum XXXX Physikalische Medizin und ambulante Rehabilitation. Neben den psychotherapeutischen Sitzungen bei der XXXX nimmt die Erstbeschwerdeführerin auch Angebote einer Beratungsstelle im XXXX von XXXX Abteilung Beziehung, Ehe und Familie der XXXX wahr. Zudem befindet sich die Erstbeschwerdeführerin in psychiatrischer Behandlung. Zuletzt war die Erstbeschwerdeführerin von XXXX bis XXXX wegen ihrer psychischen Erkrankungen in stationärer Behandlung im XXXX , Klinik für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin. Die medikamentöse Therapie umfasst die Einnahme von Sertralin 1A 100 mg Filmtabletten, Sertralin 1A 50 mg Filmtabletten, Aripiprazol G.L. 5 mg Tabletten, Saroten 10 mg Filmtabletten, Pantoprazol 1A Pharma 20 mg magensaftresistente Tabletten und Sirdalud 4 mg Tabletten. Regelmäßige fachärztlich-psychiatrische Kontrollen sind im Fall der Erstbeschwerdeführerin unbedingt erforderlich. Aufgrund ihrer Erkrankungen ist die Erstbeschwerdeführerin mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit konfrontiert.

Der Zweitbeschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich bescholten. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde sie zur Zahl XXXX verurteilt, weil sie am XXXX in XXXX einen falschen japanischen Reisepass, lautend auf XXXX , im Zuge der Identitätskontrolle am Flughafen zum Beweis ihrer Identität und ihres Rechtes zum Aufenthalt im Bundesgebiet, sohin im Rechtsverkehr, gebraucht hat. Hierfür wurde die Erstbeschwerdeführerin wegen des Vergehens der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs 2, 224 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt. Gemäß § 43 Abs 1 StGB wurde die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Bei der Strafzumessung wurden das Geständnis der Erstbeschwerdeführerin sowie ihre bisherige Unbescholtenheit mildernd berücksichtigt. Als erschwerend wurde kein Umstand gewertet.

Der Zweitbeschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3 Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrsituation der Beschwerdeführer

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurden oder eine Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätten.

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer wurden in Afghanistan von ihrem Schwager bzw Onkel nach dem Tod ihres Gatten bzw Vaters geschlagen und misshandelt. Der Schwager der Erstbeschwerdeführerin hatte jedoch nicht die Absicht, sie zu heiraten. Im Fall ihrer Rückkehr droht der Erstbeschwerdeführerin daher auch keine Zwangsverheiratung mit dem Schwager. Die Erstbeschwerdeführerin wurde von ihrem Schwager vergewaltigt, wovon jedoch weder die Familie der Erstbeschwerdeführerin, noch sonstige Personen in Afghanistan Kenntnis haben. Der Erstbeschwerdeführerin droht daher keine gegen sie gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Private wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs (zina). Auch droht weder der Erstbeschwerdeführerin, noch dem Zweitbeschwerdeführer Verfolgung durch den Schwager bzw Onkel, zumal dieser auch nicht in der Lage wäre, die Beschwerdeführer im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan zu finden.

Der Gatte der Erstbeschwerdeführerin bzw Vater des Zweitbeschwerdeführers kam nicht bei einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den Kutschis, paschtunischen Nomaden, ums Leben. Die genaue Todesursache kann nicht festgestellt werden. Es kam jedenfalls zu keinem gezielten Anschlag auf den Gatten der Erstbeschwerdeführerin bzw Vater des Zweitbeschwerdeführers. Die Familie der Beschwerdeführer war nicht in den Konflikt zwischen Kutschis und Hazara involviert, der auf Streitigkeiten um Weideland gründet. Systematische Angriffe auf Hazara durch Kutschis finden nicht statt. Dass die Beschwerdeführer im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen oder Verfolgung durch die Kutschis, etwa aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit, ausgesetzt wären, ist nicht zu erwarten.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in ihrem Herkunftsstaat nicht allein aufgrund ihres Geschlechtes einer Verfolgung ausgesetzt. Sie hat während ihres Aufenthaltes in Österreich keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Die Erstbeschwerdeführerin ist nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert. Der Alltag der Erstbeschwerdeführerin in Österreich unterscheidet sich nicht wesentlich von ihren Tätigkeiten in Afghanistan. Sie kümmert sich auch in Österreich überwiegend um ihre Kinder, für die sie kocht und den Haushalt führt. Weiter besucht sie Deutschkurse. In ihrer Freizeit nimmt sie an Handarbeits-Workshops oder Nähkursen teil. Es handelt sich bei der Erstbeschwerdeführerin nicht um eine Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Ihr droht daher aufgrund ihrer in Österreich angenommenen Lebensweise in Afghanistan keine individuelle und konkrete Gefahr physischer und psychischer Gewalt.

Der Zweitbeschwerdeführer ist im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch keinen Übergriffen, Zwangsrekrutierung oder Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe der jungen waffenfähigen bzw wehrfähigen Männer ausgesetzt.

Ebenso wenig drohen dem Zweitbeschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

Dass den Beschwerdeführern im Fall ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat Übergriffe oder Verfolgung wegen ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit drohen, ist nicht zu erwarten.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Heimatprovinz der Erstbeschwerdeführerin (Parwan) zählt zu den volatilen Provinzen Afghanistans. Die Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren in manchen Distrikten der Provinz verschlechtert. Im August 2018 waren Taliban-Aufständische unter anderem im Herkunftsdistrikt der Erstbeschwerdeführerin, XXXX , aktiv, von wo aus sie Angriffe auf die Provinzhauptstadt Charikar und die Luftwaffenbasis Bagram planten. In der Provinz werden regelmäßig Sicherheitsoperationen durch afghanische Sicherheitskräfte ausgeführt. Bei manchen dieser Operationen werden auch Zivilisten getötet. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Streitkräften.

Die Heimatprovinz des Zweitbeschwerdeführers (Maidan Wardak) zählt ebenfalls zu den volatilen Provinzen Afghanistans. Die Sicherheitslage in der Provinz hat sich in den letzten Monaten verschlechtert. Aufständische sind in gewissen Distrikten aktiv und führen terroristische Aktivitäten aus. Es kommt regelmäßig zu Sicherheitsoperationen in der Provinz und die Taliban greifen Kontrollpunkte der Sicherheitskräfte an.

Im Fall einer Rückkehr der Beschwerdeführer in ihre Herkunftsprovinzen (Parwan bzw Maidan Wardak) droht ihnen die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.

Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht den Beschwerdeführern die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat gehören zu den friedlichsten Provinzen Afghanistans und sind vom Konflikt relativ wenig betroffen. Insbesondere Balkh gehört zu den stabilsten und ruhigsten Provinzen Afghanistans mit im Vergleich zu anderen Provinzen geringen Aktivitäten von Aufständischen. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch nicht betroffen. Die Provinz Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen Afghanistans. Aufständische sind in einigen abgelegenen Distrikten aktiv. Die Hauptstadt der Provinz – Herat (Stadt) – ist davon wenig betroffen und gilt trotz Anstiegs der Kriminalität nach wie vor als sehr sicher. Sowohl Mazar-e Sharif in Balkh als auch Herat (Stadt) stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können.

Die Provinzen Balkh und Herat waren von einer Dürre betroffen. Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Wasser und medizinische Versorgung sind in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) grundsätzlich gegeben. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet.

Aufgrund der derzeit bestehenden Pandemie durch das Corona-Virus ist der Zugang zu einer medizinischen Versorgung in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) zwar vorhanden, jedoch beschränkt. Aufgrund kurzfristiger Lockdowns wegen des Corona-Virus kann auch die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zeitlich begrenzt zusätzlich eingeschränkt sein. Die Versorgungslage ist angespannt und der Zugang zum Arbeitsmarkt ist aufgrund der herrschenden COVID-19-Pandemie zusätzlich beschränkt.

Für den Fall einer Niederlassung der Beschwerdeführer in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat kann nicht festgestellt werden, dass diesen die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer wäre es im Fall einer Niederlassung in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) jedoch nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch ihre Landsleute führen können. Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine Analphabetin, die nie eine Schule besuchen durfte und keinen Beruf erlernt hat. Sie verfügt auch über keine Berufserfahrung und war in Afghanistan lediglich als Hausfrau tätig. Zudem leidet sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) sowie unter einer Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion (F43.2), die mit Konzentrationsstörungen, reduziertem Erinnerungsvermögen und Merkfähigkeit, Schlafstörungen, Panikattacken und raschen Ermüdungserscheinungen einhergehen. Daraus resultiert auch eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit der verwitweten Erstbeschwerdeführerin. Sie ist aufgrund ihrer mangelnden Schulbildung und Berufserfahrung in Zusammenschau mit ihren psychischen Erkrankungen nicht selbsterhaltungsfähig und auf die Unterstützung männlicher Verwandter angewiesen. Aufgrund ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes zählt die Erstbeschwerdeführerin hinsichtlich einer potentiellen Infektion mit COVID-19 zu einer Risikogruppe. Im Fall einer Erkrankung ist daher mit einem schweren Krankheitsverlauf bei der Erstbeschwerdeführerin zu rechnen. Zudem benötigt sie laufende psychotherapeutische und fachärztliche Behandlung. Im Fall einer Niederlassung der Beschwerdeführer in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) wäre der Zweitbeschwerdeführer gezwungen, sowohl für seinen eigenen als auch für den Unterhalt seiner Mutter aufzukommen. Der Zweitbeschwerdeführer verfügt jedoch ebenfalls über keine abgeschlossene Berufsausbildung. In Afghanistan konnte er lediglich in der familieneigenen Landwirtschaft Berufserfahrung erwerben. In Österreich ist der Zweitbeschwerdeführer seit XXXX bei der Firma XXXX beschäftigt, konnte bislang aufgrund der kurzen Dauer seines Dienstverhältnisses jedoch ebenfalls nur rudimentäre Berufserfahrung sammeln. Aufgrund der COVID-19-Pandemie ist die Arbeitsmarktsituation zudem äußerst angespannt, viele Tagelöhner finden keine bzw nur unzureichende Arbeit. Zwar ist der Zweitbeschwerdeführer gesund und arbeitsfähig, weshalb bei ihm von einer grundsätzlichen Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben auszugehen ist; es ist jedoch nicht anzunehmen, dass der Zweitbeschwerdeführer – insbesondere auch in Anbetracht der derzeitigen Wirtschaftslage aufgrund der COVID-19-Pandemie – alleine in der Lage wäre, auch den Lebensunterhalt für seine Mutter zu verdienen und für eine entsprechende Wohnmöglichkeit zu sorgen. Die Beschwerdeführer verfügen über kein Vermögen und sind mittellos. Zwar leben Verwandte der Beschwerdeführer in der Provinz Parwan, in Kabul und in Maidan Wardak, es konnte jedoch nicht festgestellt werden, dass diese in der Lage wären, die Beschwerdeführer im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan finanziell zu unterstützen. Damit verfügen die Beschwerdeführer in ihrem Heimatstaat über kein unterstützungsfähiges soziales Netzwerk. In Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) besteht grundsätzlich kein soziales Netzwerk der Beschwerdeführer. Im Fall einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) liefen die Beschwerdeführer – insbesondere vor dem Hintergrund der aktuell bestehenden COVID-19-Pandemie und der psychischen Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin – in Gefahr, mangels sozialer und familiärer Unterstützung sowie mangels ausreichender (leistbarer) Unterkunftsmöglichkeiten grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen und die erforderliche medizinische Behandlung der Erstbeschwerdeführerin nicht finanzieren zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.4.1 Staatendokumentation (Stand 13.11.2019, außer wenn anders angegeben)

1.4.1.1 Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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