Entscheidungsdatum
28.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W142 2128644-1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.06.2016, Zl.1084124106/151176851, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.08.2019 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, der am 24.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich stellte.
2. Am 25.08.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Er gab an, am XXXX in der Provinz Nangarhar geboren, verheiratet und Moslem zu sein sowie der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören. Seine Muttersprache sei Paschtu. Er sei von 2003 bis 2010 in Jalalabad in die Grundschule gegangen, habe zuletzt den Beruf des Rikschafahrers ausgeübt und in Jalalabad gewohnt. Sowohl seine als auch die finanzielle Situation seiner Familie seien gut. Sein Vater habe ein Lebensmittelgeschäft gehabt, er habe eine Spedition und importiere verschiedene alkoholische Getränke.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, dass er sich durch seinen Import von alkoholischen Getränken bei vielen Leuten unbeliebt gemacht habe. In Momand Dari sei schon mehrmals auf ihn geschossen worden. Ein paar Tage später sei er von vermummten Tätern mit Messern in den Bauch, die Hand und den Fuß gestochen worden. Danach sei er ein Monat im Krankenhaus gewesen. Durch seinen illegalen Alkoholhandel habe es auch Schwierigkeiten innerhalb der Familie gegeben. Wegen diesen lebensgefährlichen Umständen habe er sein Land verlassen.
3. Am 28.12.2015 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) eine Meldung über eine Straftat des BF übermittelt. Der BF wurde auf frischer Tat bei einer Entwendung betreten, als er eine gestohlene Ware in seiner Hosentasche versteckte und anschließend den Kassabereich passierte ohne die Ware an der Kassa zu bezahlen.
4. Am 25.01.2016 wurde der BF beim BFA niederschriftlich in der Sprache Paschtu einvernommen. Der BF gab an, gesund zu sein und keine Medikamente einzunehmen. Er könne jederzeit arbeiten.
Zu seinem Leben in Österreich gab er an, sich in einem Privatquartier zu befinden und durch die Grundversorgung finanziert zu werden. Er sei kein Mitglied in einem Verein oder sonstige Organisation, er besuche aber einen Deutschkurs. Einmal in der Woche spiele er mit seinen Freunden Volleyball. Soziale oder private Bindungen in Österreich habe er nicht.
Er sei 19 Jahre und 6 Monate alt zu sein und in der Provinz Nangarhar geboren zu sein. Er sei noch sehr klein gewesen als sie in die Stadt Jalalabad übersiedelt seien. Er habe einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Seine Eltern würden in einem Einfamilienhaus leben, seiner Familie gehe es finanziell sehr gut. Er habe 6 Jahre lang die Grundschule in Jalalabad besucht. Er gab, an etwa eineinhalb bis zwei Jahre als Taxifahrer gearbeitet und Alkohol verkauft zu haben. Vor etwa eineinhalb Jahren habe er traditionell geheiratet und sei dann mit seiner Frau in ein kleines Haus gezogen. Kontakt habe er keinen zu seiner Frau. Das letzte Mal habe er in der Türkei mit seiner Frau telefonieren können. Zu seiner Familie habe er vor ca. einem Monat das letzte Mal telefonischen Kontakt gehabt.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF wie folgt an (Schreibfehler korrigiert):
[…]
VP: Ich habe von Torkham Heineken-Bier nach Afghanistan gebracht. Und Alkohol habe ich von „Mumand Dara“ eingeführt. Das Heineken-Bier wird von Dubai mit Schiffen nach Pakistan gebracht. Mit dem Bier hatte ich nie Probleme. Als ich eines Nachts nach „Mumand Dara“ gefahren bin, wurde auf uns geschossen. Mir ist es gelungen, von dort zu flüchten. Danach erhielt ich mehrere Drohungen. Diese habe ich aber ignoriert. Als ich am Weg nach Hause war, wurde ich angegriffen und mit dem Messer verletzt. Ich bin dann ohnmächtig geworden. Einige Leute brachten mich dann ins Krankenhaus. Dort wurde ich etwa einen Monat lang behandelt. Der Arzt meinte, dass ich fünf Monate lang nicht arbeiten dürfte.
Nachdem ich geheiratet habe, habe ich mir ein Taxi gekauft und begann wieder zu arbeiten. Daraufhin erhielt ich wieder Drohungen. Der Hausverwalter riet mir, von dort wegzugehen, da diese besser sei. Ich bin dann mit dem Auto nach Kabul gefahren. Dort lebte mein Cousin, also der Sohn meines Onkels mütterlicherseits namens XXXX . Ich bat ihn, mir einen Schlepper zu organisieren. Er nahm mit dem Schlepper Kontakt auf.
Ich hatte kein Bargeld, weshalb ich meinem Cousin mein Taxi gab, damit er den Schlepper bezahlen kann.
Dann bin ich hierhergekommen.
LA: Haben Sie den Angaben etwas hinzuzufügen?
VP: Ich habe das Auto um 6200 gekauft, er hat es um 6000 verkauft. Sonst habe ich meinen Angaben nichts hinzuzufügen.
LA: Was erwarten Sie im Fall einer Rückkehr?
VP: Ich habe Angst vor dem, was ich ihnen beschrieben habe. Das letzte Mal hatte ich Glück, überlebt zu haben.
LA: Wann begannen Sie damit, aus Torkham Heineken-Bier zu importieren?
VP: Mit 17 Jahren.
LA: Welches Monat, welches Jahr?
VP: Das kann ich nicht sagen. Es war vor über 2 Jahren. In meiner Provinz ist es immer gleich warm.
LA: Wann begannen Sie damit, Alkohol aus Momandara zu importieren?
VP: Zur selben Zeit.
LA: In welcher Form importierten Sie die Alkoholika?
VP: Wir gingen dorthin und suchten die Ware aus. Dann brachten wir die gekauften Alkoholika mit dem Auto nach Jalalabad.
LA: Mit welchem Auto?
VP: Mit verschiedenen.
LA: Mit wem gingen Sie dieser Tätigkeit nach?
VP: Ich begab mich alleine zu den Märkten in Pakistan. Dort gab es noch andere Burschen, die Alkoholika kauften. Wir taten uns dann zusammen und transportierten dann unsere Waren gemeinsam nach Jalalabad.
LA: Wann kam es zu diesem von Ihnen zuvor angedeuteten Angriff gegen Ihre Person?
VP: Vor etwa…damals war ich noch nicht verheiratet…das war vor etwa einem Jahr. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass eigentlich ich das Ziel war.
LA: Wie lange hatten Sie davor in diesem Bereich Geld verdient?
VP: Ungefähr 12 Monate.
LA: Wie lange setzten Sie Ihre beruflichen Tätigkeiten aus?
VP: Etwa vier bis fünf Monate.
LA: Begannen Ihre Schwierigkeiten mit diesem Angriff auf Sie?
VP: Nein. Ich hatte schon davor Drohungen erhalten. Diese habe ich aber nicht ernst genommen.
LA: Schildern Sie bitte über diese!
VP: Ich erhielt Drohbriefe.
LA: Haben Sie dazu mehr Details?
VP: Anfangs erhielt ich Drohbriefe, dachte, dass mich meine Freunde ärgern wollten, wusste nicht, dass es sich um die Taliban handelte.
Es stand, dass ich mich freiwillig stellen müsste. Außerdem warfen sie mir vor, dass ich ein Ungläubiger sei. Diese Dinge halt.
LA: Sonst noch etwas Konkretes?
VP: Sie schrieben, dass sie mich umbringen wollten, falls ich mich weigerte.
LA: Wie viele Briefe bekamen Sie?
VP: Vor dem Angriff bekam ich zwei.
LA: Und nach dem Angriff?
VP: Danach erhielt ich nur noch einen.
LA: Von welcher Attacke sprechen Sie – meinen Sie die Schussattacke oder die Messerattacke?
VP: Ich spreche von der Schussattacke.
LA: Und wie viele bekamen Sie dann nach der Schussattacke?
VP: Vor der Schussattacke bekam ich keinen Drohbrief. Die erhielt ich erst nach der Schussattacke. Zwei Briefe bekam ich zwischen Schuss- und Messerattacke, einen bekam ich dann noch nach der Messerattacke. Ich habe die ersten Drohbriefe erst einen Monat nach der Schussattacke erhalten.
LA: Waren die Inhalte der Drohbriefe immer gleich?
VP: Beim ersten wollten sie, dass ich mich freiwillig stelle. Beim zweiten meinten sie, dass sie mich finden würden, egal wo ich mich aufhalte, es besser sei, mich freiwillig zu stellen. Beim dritten sagten sie mir, dass ich es noch einmal überlebt hätte, beim nächsten Mal würden sie mich umbringen.
LA: Weshalb sollten Sie sich stellen?
VP: Das weiß ich nicht genau.
LA: Haben Sie eine Vermutung?
VP: Ich glaube, dass sie mich nicht am Leben lassen wollten.
LA: Wie wurden Ihnen diese Briefe zugestellt?
VP: Vor meinem Haus befindet sich eine Moschee. Die Briefe wurden für mich immer in der Moschee hinterlegt.
LA: Weshalb wurden Ihnen die Briefe nicht persönlich zugestellt?
VP: Das ist so üblich. Zuerst bekommt man die Drohbriefe. Wenn man sich nicht stellt, wird man umgebracht.
LA: Wie lange nach der Wiederaufnahmetätigkeit kam der dritte Brief?
VP: Etwa ein Monat danach.
LA: Wie lange waren Sie danach noch als Alkoholhändler tätig?
VP: Gar nicht mehr. Als ich den dritten Brief bekam, reiste ich sofort nach Kabul.
LA: Wie lange waren Sie in Kabul?
VP: Dort hielt ich mich zwei, drei Nächte auf.
LA: Zwei oder drei?
VP: Das ist jetzt fünf, sechs Monate her. Ich bin mir nicht mehr sicher.
LA: Weshalb blieben Sie nicht dort?
VP: Die Sicherheitslage in Kabul ist auch sehr schlecht. Beides sind Städte.
LA: Von wo waren Sie am Rückweg, als auf Sie geschossen wurde?
VP: Ich war in Jalalabad zu Fuß unterwegs.
LA: Waren Sie nun am Rückweg vom Alkoholkauf?
VP: Nein.
Auf mehrfaches Nachfragen gebe ich an:
Geschossen wurde auf mich und die anderen Käufer in Muhmand Dara, das ist ein Distrikt in der Provinz Nangahar. Die Schüsse fielen gerade, als wir die Beladung des Fahrzeuges beobachteten.
LA: Weshalb sagten Sie gerade noch, dass in Jalalabad auf Sie geschossen worden sei?
VP: Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ich danach nach Jalalabad gegangen bin.
LA: Sind Sie gegangen?
VP: Nein. Gefahren.
LA: Mit welchem Auto?
VP: Mit einem XXXX lackierten japanischen Auto. Modell Corolla. Es war unser Auto. Das habe ich mir mit vier weiteren Freunden geteilt.
LA: Haben Sie mit diesem Auto auch Taxifahrten unternommen?
VP: Ja. Gelegentlich.
LA: Zur Messerattacke: Wo, wann, wie wurden Sie attackiert?
VP: Ich war in der Stadt Jalalabad auf dem Weg nach Hause, als ich angegriffen wurde, in der Gasse XXXX . Ich wurde mit dem Messer angegriffen. Ich war dann ohnmächtig. Ich weiß nicht, was dann passiert ist.
LA: Fällt Ihnen sonst noch etwas dazu ein?
VP: Die Angreifer waren vermummt.
LA: Sonst noch etwas?
VP: Die Polizei war in der Nähe.
LA: Tageszeit?
VP: In der Nacht.
LA: Genauer!
VP: Gegen 20:00, 21:00 Uhr.
LA: Wie viele Angreifer?
VP: Das weiß ich nicht.
LA: Weshalb nicht?
VP: Das ging alles sehr schnell. Nachdem ich angegriffen wurde, war ich ohnmächtig.
LA: Wo erwachten Sie aus dieser Ohnmacht?
VP: Ich habe sehr viel Blut verloren. Als die Polizei auftauchte, kam ich wieder zu mir.
Auf Nachfragen gebe ich an, dass ich am Tatort wieder erwachte.
LA: Wie lange waren Sie ohnmächtig?
VP: Das weiß ich nicht.
LA: Gab es vor der körperlichen eine verbale Attacke?
VP: Nein.
LA: Aus welcher Richtung kamen die oder der Angreifer?
VP: Ich bekam in keiner Weise mit, woher die Angreifer kamen.
LA: Wenn Sie die Mehrzahl verwenden, müssen Sie doch ungefähr eine Richtung der Angreifer erkannt haben, zumal Sie ja andernfalls nicht von mehreren sprechen würden!
VP: Es waren fünf oder sechs. Genau kann ich es nicht sagen.
[…]
5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den gegenständlichen Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.). Ferner wurde dem BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist. In Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
Das BFA stellte fest, dass die von ihm vorgebrachte Furcht vor Verfolgung nicht (glaubhaft) habe festgestellt werden können. Eine Gefährdungslage in Bezug auf ganz Afghanistan liege nicht vor. Es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul.
Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der BF seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Er habe lediglich eine emotions-, inhalts- und zusammenhanglose Schilderung von allgemeinen Lebensumständen in Afghanistan vorgebracht. Der Fluchtgrund sei lediglich vage und rudimentär, ohne Details geschildert worden. Darüber hinaus habe sich der BF mehrfach in Widersprüche verwickelt und sein Vorbringen zunehmend gesteigert. Er könne im Fall einer Rückkehr seinen Lebensunterhalt bestreiten, zumal er ein arbeitsfähiger, als Taxifahrer arbeitender und gesunder Mann sei. Außerdem verfüge er über familiäre Anknüpfungspunkte im Heimatland.
6. Der BF erhob gegen den Bescheid fristgerecht vollumfänglich Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass die Ausführungen des BFA hinsichtlich des unglaubwürdigen und widersprüchlichen Fluchtvorbringens überwiegend aus selektiven Zitaten bestehen und den Fall nicht objektiv beurteilen würden. Der BF habe ausführliche und hinreichend detaillierte Angaben zu seiner Handelstätigkeit gemacht. Er führte an, dass die vorgeworfenen Widersprüche und Inkonsistenten nicht vorkommen und die Vorwürfe des BFA mit dem Protokoll der Einvernahme schlicht nicht übereinstimmen würden. Das BFA habe in seiner Beweiswürdigung die Angaben des BF in weiten Teilen ignoriert. Es sei auf die vorgebrachten Fluchtgründe in der Beweiswürdigung nicht substantiell eingegangen, weshalb dem Bescheid ein massiver Begründungsmangel anhafte. Die afghanischen Behörden könnten aufgrund der miserablen Sicherheitslage keinen Schutz gewährleisten. Afghanen, die aus ihrer Heimat entwurzelt sind, würden im Fall einer Rückkehr in eine aussichtlose Lage geraten, womit eine Verletzung der Art 2 und 3 EMRK einhergehen würde. Das BFA habe nicht den Anforderungen eines amtswegigen Ermittlungsverfahrens genügt, zumal nicht die konkrete und aktuelle Situation des BF und dessen Verfolgungssituation untersucht worden seien.
7. Am 28.06.2016 langte eine Berichterstattung der LPD Wien wegen des Verdachts der Vergewaltigung ein. Der BF soll eine unbekannte Frau mit ausländischem Akzent in eine WC-Anlage gezerrt haben. Das vermeintliche Opfer konnte jedoch nicht mehr erreicht werden. Der BF gab an, den Vorfallsort nicht zu kennen.
8. Mit Urkundenvorlage vom 05.07.2017 wurde eine Kursteilnahmebestätigung des „Deutschkurses für AsylwerberInnen Sprachniveau A1“ von 09.05.2017 bis 02.06.2017 vom Verein menschen.leben und der Firma XXXX übermittelt.
9. Am 18.10.2017 ersuchte der BF um positive Entscheidung bzw. Durchführung einer mündlichen Verhandlung und übermittelte eine Kursteilnahmebestätigung des „Deutschkurses für AsylwerberInnen Sprachniveau A1“ von 09.05.2017 bis 02.08.2017 vom Verein menschen.leben und der Firma XXXX sowie das ÖSD Zertifikat A1 vom 29.09.2017.
10. Am 08.01.2018 langte erneut ein Ersuchen um positive Entscheidung bzw. Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die „Bestätigung des Lehrgangs Übergangsstufe an BMHS für Jugendliche“ der BHAK XXXX ein.
11. Am 21.03.2018 übermittelte der BF das ÖSD Zertifikat A2 vom 07.03.2018.
12. Am 10.09.2018 erhielt das Bundesverwaltungsgericht den Abschluss-Bericht der LPD Niederösterreich wegen des Verdachts auf Körperverletzung. Dem BF wurde vorgeworfen einem weiteren Asylwerber im Zuge einer Auseinandersetzung mehrmals mit der Faust ins Gesicht geschlagen und ihn dadurch in Form einer Prellung der Lippen bzw. einer Zerrung der Halswirbelsäule verletzt zu haben. Der BF gab an, davor mit einem Wasserkocher gegen den Kopf geschlagen worden zu sein.
13. Die MA63 richtete am 26.03.2019 ein Auskunftsersuchen bezüglich des aufrechten Asylstatus sowie etwaiger vorgelegter Dokumente des BF an das Bundesverwaltungsgericht, um dessen Ehefähigkeit zu prüfen. Bezugnehmend darauf teilte das Gericht am 01.04.2019 mit, dass der BF keine Dokumente vorgelegt habe und das Beschwerdeverfahren nach wie vor anhängig sei. Die MA63 bestätigte am 02.04.2019 die Ehefähigkeit des BF.
14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.08.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und im Beisein des Rechtsvertreters des BF eine öffentliche, mündliche Verhandlung durch, an der das BFA nicht teilnahm.
Zu seinem Leben in Afghanistan befragt gab er an, in Nangarhar geboren zu sein. Aufgewachsen sei er in der Stadt Jalalabad, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Seine Eltern, sein Bruder und seine Schwester würden noch in Afghanistan leben, er habe aber seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr zu ihnen, weil er sich von seiner Frau habe scheiden lassen wollen und auf Grund dessen von seiner Familie verstoßen worden sei. Er habe sechs Jahre eine Schule in seiner Heimat besucht und habe dann als Rikschafahrer und Alkoholverkäufer gearbeitet.
Zu seiner Situation in Österreich befragt gab er an, im August 2015 nach Österreich gereist zu sein. Am XXXX habe er in Österreich geheiratet. Zwei bis drei Mal in der Woche helfe er freiwillig im Pflegeheim der Caritas. Er habe Deutschkurse gemacht und Prüfungen für Niveau A1 und A2 abgelegt, die B1 Prüfung habe er nicht geschafft. Er besuche zwei Deutschkurse und wolle in Österreich in Zukunft als Elektriker arbeiten. Außerdem habe er in Österreich etwas Dari gelernt.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an (Schreibfehler korrigiert):
[…]
R: Was war der Grund, warum Sie Ihr Heimatland verlassen haben?
BF: Ich wurde bedroht. Aus Sicherheitsgründen musste ich mein Heimatland verlassen.
R: Von wem wurden Sie bedroht?
BF: Ich wurde von den Taliban bedroht.
R: Wann sind Sie von den Taliban bedroht worden?
BF: Ich wurde zwei Mal bedroht, dann wurde ich angegriffen. Ich wurde mit einem Messer so stark verletzt, dass ich fast tot war. Deswegen war ich ca. einen Monat im Spital.
R: Sie haben gesagt, Sie wurden zwei Mal bedroht. Können Sie mir den Zeitpunkt sagen, wann Sie bedroht wurden?
BF: Ich bin nach Momandara gegangen, um Alkohol zu kaufen. Dort waren auch andere Menschen, die auch deswegen dorthin gekommen waren. Diese Ortschaft war in der Nähe eines Berges. Auf uns wurde geschossen. Alle sind in unterschiedliche Richtungen geflüchtet. Diese Ortschaft befindet sich nahe der pakistanischen Grenze.
R: Wann ist das passiert?
BF: Ich erinnere mich nicht daran. Ich weiß nicht, wann ich geboren wurde. Bei uns kennt man nicht so das Datum.
R: Können Sie das Jahr nennen?
BF: Es ist schon lange her, ich weiß es nicht.
R: Wer hat auf Sie geschossen?
BF: Am Anfang wusste ich es nicht, auf uns wurde einfach geschossen.
R: Sind Sie nach den Schüssen auch geflüchtet, und wenn ja, wohin sind Sie geflüchtet?
BF: Ich bin mit anderen Leuten, die auch Alkohol kaufen wollten, nach Jalalabad geflüchtet.
R: Was ist dann in Jalalabad passiert?
BF: Auf uns wurde geschossen, aber ich habe das nicht so ganz ernst genommen und ich dachte, dass es in Zukunft nicht mehr passieren würde. Ein paar Tage war ich dort. Ca. einen Monat bin ich geblieben, genau weiß ich es nicht. Ich wurde das erste Mal bedroht.
R: Von wem sind Sie bedroht worden?
BF: Am Anfang wusste ich nicht, von wem ich bedroht wurde. Ich habe den Drohbrief überhaupt nicht ernst gemeint. Ich dachte, dass jemand mit mir Witze macht und habe es nicht ernst genommen.
R: Also wurden Sie durch einen Brief bedroht?
BF: Ja.
R: Was stand in diesem Drohbrief?
BF: In diesem Drohbrief ist gestanden, dass ich mich freiwillig den Taliban zur Verfügung stellen soll.
R: Was ist dann passiert, nachdem Sie den Drohbrief erhalten haben?
BF: Wie gesagt, ich habe den Drohbrief nicht ernstgenommen und habe ihn weggeworfen. Ich habe dann einen zweiten Drohbrief erhalten.
R: Wie viel Zeit ist vergangen bis Sie den zweiten Drohbrief erhalten haben?
BF: Es ist schon lange her, ich weiß es nicht genau. Es können ein paar Tage, 15 Tage oder ein Monat gewesen sein.
R: Was ist dann nach dem zweiten Drohbrief passiert?
BF: Ich habe früher nie einen Drohbrief gesehen. Ich habe den Drohbrief vom afghanisch/islamischen Emirat – die Taliban haben damals so geheißen – bekommen.
R: Was ist in dem Drohbrief gestanden?
BF: Der zweite Drohbrief war ein Gerichtsbeschluss. Es hat sich um ein Talibangericht gehandelt. Es ist schon lange her. Sie haben entschieden, dass sie mich, wenn sie mich irgendwo erwischen, töten werden.
R: Was haben Sie mit diesem „Gerichtsbeschluss“ gemacht?
BF: Ich weiß nicht, was ich damit gemacht habe, ich habe ihn weggeworfen.
R: Was ist nach dem Erhalt des Gerichtsbeschlusses passiert?
BF: Ich habe weitergearbeitet und ich hatte nicht so große Angst. Eines Tages, als ich mit meiner Ryksha (Taxi) nach Hause unterwegs war, wurde ich angegriffen.
R: Wer hat Sie angegriffen?
BF: Die Taliban.
R: Wann ist das passiert, können Sie sich erinnern?
BF: Soweit ich mich erinnere, war es ca. einen Monat danach.
R: Was meinen Sie mit „ca. einen Monat danach“?
BF: Einen Monat nach dem zweiten Drohbrief.
R: Wie hat dieser Angriff genau ausgeschaut, können Sie mir das detailliert beschreiben?
BF: Es war gegen Abend, es wurde langsam dunkler, ich war auf dem Weg nach Hause. Ich musste über Rokhan Mina nach Hause fahren. Die Straße bis Rokhan Mina ist asphaltiert, danach nicht mehr. Deshalb muss man mit der Ryksha langsam fahren, weil die Straßen nicht asphaltiert sind. Irgendetwas wurde auf meine Ryksha geworfen, ich weiß nicht, was es war. Die Windschutzscheibe ist gebrochen, meine Ryksha ist auf eine Seite gekippt und ich bin auf den Boden gefallen.
R: Haben Sie gesehen, wer etwas auf die Ryksha geworfen hat?
BF: Nein.
R: Als Sie am Boden gelegen sind, was ist dann passiert?
BF: Ich bin ohnmächtig geworden. Ich wurde mehrmals mit einem Messer gestochen und überall in meinem Körper waren die Teile vom Glas der Windschutzscheibe.
R: Als Sie nach der Ohnmacht wieder aufgewacht sind, wo haben Sie sich da befunden?
BF: Damals, als ich mit den Messern gestochen wurde, hatte ich Gefühle als würde ich träumen. Ich habe viel geblutet und war extrem schwach.
R: Wer hat Ihnen geholfen, als Sie schwerverletzt am Boden lagen?
BF: Ich war total durcheinander, es war nicht so, dass ich ganz bewusstlos war.
R wiederholt die Frage.
BF: Ich glaube, die Polizei ist gekommen und andere Leute haben sich dort versammelt. Ich habe gehört, dass Polizisten dort waren. Ich weiß nicht wie, aber ich wurde zu einem Spital gebracht.
R: In welches Spital wurden Sie gebracht?
BF: XXXX .
R: Wo befindet sich dieses Spital?
BF: In Jalalabad.
R: Wie lange haben Sie sich im Spital aufgehalten?
BF: Es ist schon lange her, ich erinnere mich nicht, aber ca. einen Monat.
R: Nach diesem Monat haben Sie sich dann wo aufgehalten?
BF: Ich war total schwach. Ich habe eine große Operation gehabt und deshalb war ich dann zu Hause.
R: Das heißt, Sie waren dann in Ihrem Heimatort aufhältig mit Ihren Eltern und Geschwistern?
BF: Ja.
R: Wurde seitens der Polizei herausgefunden, wer Sie angegriffen hat?
BF: Ja, aber 80 % von der afghanischen Regierung ist in der Hand der Taliban, das ist nichts Neues.
R: Wer hat Sie angegriffen, was hat die Polizei herausgefunden?
BF: Es ist kein Bedarf, ich weiß selber, wer mich angegriffen hat. Ich habe nach sechs Monaten wieder einen Drohbrief erhalten. Als ich die zwei Drohbriefe erhalten habe, habe ich gewusst, wer dahintersteckt.
R: Was meinen Sie mit „es war kein Bedarf“? Meinen Sie, es war kein Bedarf, dass die Polizei recherchiert hat, wer Sie angegriffen hat?
BF: Es ist nichts Neues, dass in Afghanistan die Polizei nichts machen kann. Die Polizei ist selber schwach.
R: Das heißt, die Polizei hat nicht herausgefunden, wer Sie angegriffen hat?
BF: Die Polizei hat keine starken Geheimdienste. In Afghanistan werden über 200 Leute täglich getötet. Dahinter stehen die Taliban.
R wiederholt die Frage.
BF: Doch, die Polizei hat es herausgefunden.
R: Die Polizei hat herausgefunden, dass es die Taliban waren?
BF: Ja, weil ich denen auch gesagt habe, dass ich Drohbriefe erhalten habe. Ich konnte aber nicht der Polizei alles sagen, weil ich gegen afghanische und islamische Gesetze verstoßen habe, ich habe Alkohol verkauft.
R: Das heißt, Sie haben eine Straftat nach den gesetzlichen Bestimmungen Ihres Heimatlandes begangen?
BF: Nach meiner Meinung ist es keine Straftat.
R: Ihre Meinung ist nicht gefragt, nach dem afghanischen Gesetz ist es eine Straftat.
BF: Ja.
R: Nachdem dieser Angriff passiert war, haben Sie nach 6 Monaten einen Drohbrief erhalten. Stimmt das?
BF: Ja, nach ca. 6 Monaten.
R: Was stand in diesem Drohbrief?
BF: Es stand darin, dass ich Glück hatte, dass ich den Angriff überlebt habe und noch am Leben bin. Es stand dort auch, dass ich gegen die Gesetze der Taliban gehandelt habe und das Höchstgericht entschieden hat, dass sie mich, wenn sie mich erwischen, töten werden müssen.
R: Das heißt, nach diesem Angriff haben Sie weiterhin mit Alkohol gehandelt?
BF: So richtig nein, ein bisschen habe ich es gemacht. Als ich den letzten Drohbrief erhalten habe, habe ich keinen Alkohol mehr verkauft und habe sofort das Land verlassen.
R: Meinen Sie mit „dem letzten Drohbrief“ den Drohbrief, den Sie nach sechs Monaten nach dem Angriff mit dem Messer erhalten haben?
BF: Ja, den meine ich. Als ich den dritten Drohbrief erhalten habe, habe ich sofort das Land verlassen.
[…]
Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, März 2019, UNHCR Richtlinien Afghanistan, 30.08.2019 und EASO Bericht Afghanistan, April 2019 wurden erörtert.
Der BF brachte in der Verhandlung folgende Unterlagen in Vorlage:
- Ärztliches Attest einer Allgemeinmedizinerin vom 10.07.2019;
- Auszug aus dem Heiratseintrag und österreichische Heiratsurkunde;
- Bestätigung über die Absolvierung von Deutschkursen;
- Bestätigung, wonach der BF seit Mai 2019 als freiwilliger Helfer in einem Caritasheim tätig sei;
- Empfehlungsschreiben;
- ÖSD Zertifikat B1 (nicht bestanden);
- Bestätigung über den Abschluss des Lehrganges einer Übergangsstufe (BHAK, BHAS, BHAK).
15. Am 19.02.2020 langte ein Schreiben des BF ein, wonach er schon lange auf eine Entscheidung warte und in dieser Zeit weder eine Arbeit noch eine Ausbildung beginnen habe dürfen. Er wolle gerne einen finanziellen Beitrag zum gemeinsamen Haushalt mit seiner Frau leisten und sein Leben in Österreich nützlich gestalten.
16. Am 19.06.2020 wurden dem BF folgende aktuelle Berichte zur Situation in Afghanistan übermittelt und der BF aufgefordert zu diesen Berichten eine schriftliche Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen zu erstatten:
- LIB der Staatendokumentation Afghanistan (Stand: 18.05.2020);
- EASO Special Report Asylum Trends and Covid-19 vom 07.05.2020;
- EASO COVID-19 emergency measures in asylum and reception vom 13.05.2020, Bulletin 11;
- OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report -vom 17.06.2020;
- EASO Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019.
17. Am 30.06.2020 wurde dem BF die letzte Kurzinformation der Staatendokumentation zur Situation in Afghanistan (Covid-19, Stand 29.06.2020) übermittelt.
18. Am 09.07.2020 brachte der BF eine Stellungnahme ein. Darin wurde ausgeführt, dass die Coronavirus-Pandemie in Afghanistan völlig außer Kontrolle sei. Den offiziellen Zahlen sei kaum zu trauen und würde er bei einer Abschiebung in eine existentielle Notlage geraten. Von einer Verbesserung der allgemeinen Situation sei nicht auszugehen. Die aktuellen Berichte würden die katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage ebenso aufzeigen, wie die mangelnde Effizienz und Durchschlagkraft der Zentralbehörden den BF zu beschützen oder eine Reintegration zu ermöglichen. Eine IFA sei für den BF nicht zumutbar. Eine Rückkehr nach Kabul sei keinesfalls zumutbar, auch habe sich die Situation in Herat und Mazar-e Sharif verschlechtert. Der BF habe bereits große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen, die deutsche Sprache gelernt und soziale Kontakte entwickelt. Er sei arbeitsfähig und –willig und bereits jetzt selbsterhaltungsfähig. Er sei keine Belastung für die Gebietskörperschaft. In Afghanistan habe er keine Lebensperspektive und würde er in eine existenzbedrohende Notlage geraten.
19. Am 10.07.2020 brachte der BF folgende Unterlagen in Vorlage:
- Empfehlungsschreiben der Ehefrau;
- weiteres Empfehlungsschreiben, wonach der BF an wöchentlich stattfindenden interkulturellen Deutsch-Lese- und Schreibkreisen teilnehme und sich in einem Pflegeheim als ehrenamtlicher Sozialbegleitet angemeldet habe;
- Bestätigung, wonach der BF ehrenamtliche Tätigkeiten in einem Pflegeheim ausübe bzw. Bewohner eines Pflegeheimes ehrenamtlich begleitet habe;
- Lohn-/Gehaltsabrechnungen der Ehefrau des BF.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF führt den Namen XXXX , ist am XXXX geboren und ein Staatsangehöriger Afghanistans. Er bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch etwas Dari. Der BF hat keine Kinder.
Der BF wurde in Afghanistan in der Provinz Nangarhar geboren und ist als kleines Kind mit seiner Familie in die Stadt Jalalabad gezogen, wo er auch aufgewachsen ist und bis zu seiner Ausreise gelebt hat. Er hat etwa sechs Jahre lang eine Grundschule besucht und mit etwa 17 Jahren begonnen als Rikschafahrer (Taxifahrer) zu arbeiten (OZ 14Z, S. 4-5).
Seine Eltern, sein Bruder und seine Schwester leben laut der letzten Information des BF nach wie vor in der Provinz Nangarhar, er steht seit einiger Zeit in keinem telefonischen Kontakt mehr mit ihnen (OZ 14Z, S. 4).
Der BF leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen, die einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen würden oder ihn in seiner Arbeits- oder Leistungsfähigkeit einschränken würden. Er hat während des Verfahrens lediglich Zahnschmerzen aufgrund einer Entzündung vorgebracht. Es konnte von der Ärztin für Allgemeinmedizin festgestellt werden, dass der BF multiple Narben am Bauch und Bewegungsapparat hat. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Narben von einem Angriff der Taliban aufgrund seiner Tätigkeit als Alkoholhändler stammen. Der BF ist ansonsten gesund sowie arbeits- sowie leistungsfähig (OZ 14Z, S. 3, Beilage ./B).
Der BF ließ sich von seiner Frau in Afghanistan, mit der er traditionell verheiratet war, scheiden. Da er nicht selbst anwesend sein konnte, wurde er bei der Scheidung in Afghanistan von seinem Vater vertreten. (OZ 14Z, S. 5). Er heiratete am XXXX vor dem Standesamt Wien-Ottakring die Serbin XXXX (OZ 14Z, Beilage ./B), die er 2017 über Facebook kennengelernt hat. Sie ist aufgrund einer Rot-Weiß-Rot-Karte plus bis zum 29.07.2021 in Österreich aufenthaltsberechtigt. Seit 01.08.2019 sind der BF und seine Ehefrau an einer gemeinsamen Adresse aufrecht gemeldet.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Das Vorbringen des BF zu einer Bedrohung und Verfolgung durch Taliban oder andere Akteure ist nicht glaubhaft. Der BF war in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Gründe, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des BF im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung maßgeblich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht.
Der BF hatte in Afghanistan selbst keine konkret und individuell gegen ihn gerichteten Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den sunnitischen Paschtunen.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan in seinem Recht auf Leben gefährdet wird, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wird oder eine Rückkehr für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.
Der BF stammt ursprünglich aus einem kleinen Dorf in der Provinz Nangarhar und ist in der in dieser Provinz liegenden Stadt Jalalabad aufgewachsen. Da seit dem Jahr 2011 in der Provinz Nangarhar eine Verschlechterung der sicherheitspolitischen Lage zu beobachten ist, kann der BF nicht in seine Heimatprovinz zurückkehren.
Der BF kann sich aber im Rückkehrfall in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen.
Zwar sind die wirtschaftlichen Bedingungen für Rückkehrer schwierig. Der BF läuft jedoch im Falle einer Rückkehr in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine auswegslose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen. Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif ausschließen, können nicht festgestellt werden.
Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Paschtu und etwas Dari) vertraut, wuchs in einem afghanischen Familienverband auf und besuchte etwa sechs Jahre lange die Grundschule in Afghanistan. Der BF lebte zwar nie in Herat oder Mazar-e Sharif und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte. Angesichts seiner Erwerbstätigkeit als Rikschafahrer (Taxifahrer) sowie seiner uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit könnte sich der BF dennoch in Herat und Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Ihm wäre der Aufbau einer Existenzgrundlage in Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Er kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif auf dem Luftweg sicher erreichen.
Der BF unterliegt keinen gesundheitlichen Einschränkungen, welche einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen. Insbesondere ist im Hinblick auf die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie festzuhalten, dass der BF mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 angehört. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
1.4. Zum (Privat) Leben des BF in Österreich:
Der BF hält sich seit etwa vier Jahren und 11 Monaten im Bundesgebiet auf. Er bezieht laufend Leistungen aus der Grundversorgung, ist nicht erwerbstätig und nicht selbsterhaltungsfähig. Er hat mehrere Deutschkurse besucht und die ÖSD Zertifikate A1 und A2 bestanden. Die Prüfung für das ÖSD Zertifikat B1 hat er nicht bestanden. Er hat am XXXX eine in Österreich aufenthaltsberechtigte serbische Staatangehörige geheiratet. Mit ihr lebt er seit 01.08.2019 in einem gemeinsamen Haushalt. Weiters hat der BF einen Lehrgang an einer Übergangsstufe besucht und ehrenamtlich in einem Pflegeheim der Caritas gearbeitet. In seiner Freizeit spielt er mit Freunden Volleyball, besucht einen Lese- und Schreibkreis und hilft bei einem interkulturellen Pfarrcafe mit. Der BF gehört keinem Verein, keiner religiösen Verbindung und keiner sonstigen Gruppierung in Österreich an. Er hat in Österreich keine sonstige Fortbildung besucht.
Eine nachhaltige Integration des BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet kann nicht erkannt werden.
Der BF ist strafgerichtlich unbescholten, wurde jedoch schon mehrmals wegen dem Verdacht verschiedene strafrechtliche Delikte begangen zu haben, von der Polizei einvernommen.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Unter Bezugnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, letzte Kurzinfo vom 29.06.2020), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, den EASO-Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019, dem EASO Special Report Asylum Trends and Covid-19 von 07.05.2020, dem EASO COVID-19 emergency measures in asylum and reception vom 13.05.2020, Bulletin 11 und dem Bericht von OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report -on 17.06.2020, werden folgende entscheidungsrelevante, die Person der BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:
COVID-19:
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).
Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan
Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).
Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran
Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).
Stand: 18.5.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Internatio