TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/28 W142 2146096-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.07.2020
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Entscheidungsdatum

28.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W142 2146096-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.01.2017, Zl. 1103651903/160142675, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.09.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 27.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am 28.01.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Er gab an, am XXXX in Balkh geboren, verheiratet und schiitischer Moslem zu sein sowie der Volksgruppe der Hazara anzugehören. Seine Muttersprache sei Farsi. Er sei drei Jahre in die Grundschule gegangen und habe zuletzt den Beruf des Bauarbeiters ausgeübt. Auch seine Eltern, seine Schwester, sein Bruder und seine Frau seien derzeit in Österreich.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, dass in Afghanistan die innerpolitische Lage sehr unsicher sei und sie daher geflüchtet seien. Er habe auch Angst gehabt, dass seine Frau oder seine Mutter und Schwestern verschleppt werden würden. Wegen Kleinigkeiten würden Menschen enthauptet werden. Sie hätten versucht in Afghanistan in verschiedenen Gebieten zu leben, aber die Bedrohung und Unsicherheit sei immer vorhanden (AS 25).

3. Am 04.10.2016 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) der Abschluss-Bericht hinsichtlich des Verdachtes auf Körperverletzung (Begehung im Familienkreis) von der LPD Niederösterreich übermittelt. Der BF wurde beschuldigt seine Gattin, XXXX , in der Flüchtlingsunterkunft Stockerau geschlagen und am Kopf unbestimmt verletzt zu haben.

4. Am 02.01.2017 wurde der BF beim BFA niederschriftlich in der Sprache Dari einvernommen. Der BF gab an, gesund zu sein, keine Medikamente zu nehmen und jederzeit arbeiten zu können. Er sei am XXXX (= XXXX ) geboren worden, 25 Jahre alt, schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er habe in Balkh, in Sayedabad gelebt, habe keine Schule besucht, sondern wäre nur drei Jahre in eine Koranschule gegangen. Er gab an als Bauarbeiter, Maler und Schweißer gearbeitet zu haben. In der Unterkunft schneide er anderen Flüchtlingen die Haare. Der BF sei seit etwa drei Jahren verheiratet gewesen, habe sich aber vor zweieinhalb oder drei Monaten von seiner Frau getrennt. Er bestreite seinen Lebensunterhalt durch Leistungen aus der Grundversorgung, Verwandte in Österreich habe er nicht. Er habe zwei bis drei österreichische Freunde.

Zu weiteren Verwandten in Afghanistan befragt gab er an, in seiner Heimat keine Angehörigen zu haben. Auf Nachfrage erklärte er, dass sein Vater einen Bruder in Afghanistan habe.

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF wie folgt an:

[…]

VP: Wegen der unsicheren Lage. Es gibt dort keine Sicherheit. Zweimal sind die Taliban in unser Haus gekommen. Einmal kamen sie, haben an der Türe geklopft, ich war nicht zu Hause. Mein Vater hat meine zwei Schwestern und meine Frau im Keller versteckt. Die Taliban wollten sie mitnehmen. Die Taliban sind dann weggegangen und kamen einige Zeit später wieder. Sie waren sieben oder acht Personen, haben die Türe eingetreten. Sie sagten, dass sie uns alle mitnehmen wollen. Draußen wurde geschossen, deshalb gingen die Taliban wieder hinaus. Einer von ihnen kam zurück und sagte, dass sie wieder kommen werden. Aus Angst um unser Leben, sind wir nach Sang-charak gegangen und blieben zwei oder drei Monate dort. Von dort sind wir dann ausgereist.

LA: Haben Sie dem Vorbringen zur Gefährdungslage etwas hinzuzufügen? Haben Sie noch Details Ihrer Schilderung hinzuzufügen?

VP: Nein, das wars.

LA: Wann war der erste Besuch der Taliban?

VP: Beide Male sind sie am Abend gekommen.

LA: Aber in welchem Jahr war das?

VP: Vor eineinhalb Jahren.

LA: Wie viel Zeit war zwischen den beiden Besuchen?

VP: Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

LA: Ungefähr?

VP: Drei bis vier Wochen.

LA: Wo waren Sie beim ersten Besuch?

VP: Ich war draußen auf der Arbeit.

LA: Wie lange haben Sie an dem Tag gearbeitet?

VP: Ich habe jeden Tag von acht bis 17 Uhr gearbeitet.

LA: Welche Jahreszeit war bei den Besuchen?

VP: Kann mich nicht erinnern.

LA: War es warm oder kalt?

VP: Es war kalt.

LA: War es Winter oder Herbst?

VP: Es war Herbst.

LA: Wann geht in Afghanistan im Herbst die Sonne unter?

VP: Um 20:30.

LA: Beim ersten Besuch der Taliban, war es da schon dunkel oder noch hell?

VP: Es war dunkel.

LA: Dann hätten Sie zu Hause sein müssen!

VP: Ich war nicht zu Hause.

LA: Waren Sie beim zweiten Besuch zu Hause?

VP: Ja.

LA: Was Sie gemacht bevor die Taliban in das Zimmer eingedrungen sind?

VP: Ich war im Zimmer.

LA: In welchem?

VP: Wir sind alle im Vorzimmer gesessen.

LA: Was haben Sie gemacht?

VP: Wir haben uns unterhalten.

LA: Über was?

VP: Zuhause spricht man über alles.

LA: Hat Ihr Vater am Gespräch teilgenommen?

VP: Ja.

LA: Ihre Mutter auch?

VP: Ja.

LA: Zu welcher Uhrzeit sind die Taliban beim zweiten Mal gekommen?

VP: Auch in der Nacht.

LA: Haben Sie schon zu Abend gegessen oder noch nicht?

VP: Noch nicht.

LA: Hätte es noch etwas zu Abendessen gegeben?

VP: Ja.

LA: Was?

VP: Ich weiß es nicht.

LA: Wer hat gekocht?

VP: Ja, meine Mutter.

LA: Hat Ihre Exfrau auch einmal gekocht?

VP: Ja.

LA: An dem Tag auch?

VP: Ich war ständig arbeiten und wenn ich zurückgekommen bin habe ich nicht geschaut, was im Topf gekocht wurde.

LA: Haben Sie bei der Arbeit gegessen?

VP: Ja.

LA: Zuhause nicht mehr?

VP: Abends zu Hause.

LA: Wie sind Sie dann nach Sang-charak gekommen?

VP: Mit dem Auto von Nachbarn. Mein Vater hat das mit dem Nachbarn vereinbart.

LA: Wer saß am Steuer?

VP: Der Nachbar.

LA: Wie lange dauerte die Fahrt ungefähr?

VP: Sieben bis acht Stunden.

LA: Beim zweiten Besuch der Taliban, wie lange dauerte das Gespräch ungefähr?

VP: Eine Stunde.

LA: Was wurde da gesprochen? Bitte schildern Sie mit allen Details und so lebensnahe wie möglich!

VP: Die Taliban wollen Leute aus der Bevölkerung zu sich holen, entweder unter Zwang oder mit Einverständnis. Sie erreichen alles, was sie sich vornehmen.

LA: Was hat Ihre Mutter gemacht, als die Taliban das zweite Mal gekommen sind?

VP: Sie ist eine kranke Frau. Die Taliban haben gesagt, dass sie uns mitnehmen wollen. Mein Vater und meine Mutter sind zu den Taliban gegangen und haben sie angefleht. Sie haben meinen Vater geschlagen.

LA: Wie kann man sich das anflehen vorstellen?

VP: Sie haben sie angefleht und sind auf die Knie gegangen.

LA: Hat das Knie den Boden berührt?

VP: Sie sind ihnen zu den Füßen gefallen.

LA: Was wurde eine Stunde lang gesprochen?

VP: Sie sagten, dass sie uns mitnehmen werden, wir haben versucht es zu verhindern. Ich weiß nicht ob es eine Stunde oder nur eine halbe Stunde gedauert hat.

LA: Warum sind Sie dann von Sang-charak weggegangen?

VP: Weil es dort auch nicht sicher ist, so wie in ganz Afghanistan.

LA: Wurden Sie schon einmal persönlich bedroht?

VP: Ja.

LA: Von wem?

VP: Von den Taliban.

LA: Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?

VP: Die Polizei macht nichts und die Polizei wirkt mit den Taliban mit.

[…]

5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den gegenständlichen Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.). Ferner wurde dem BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist. In Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.

Das BFA stellte fest, dass die von ihm vorgebrachte Furcht nicht habe festgestellt werden können. Eine Gefährdungslage in Bezug auf ganz Afghanistan liege nicht vor.

Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der BF seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Er habe keine individuellen Fluchtgründe vorgebracht. Auch die vorgebrachte Gefährdungslage sei völlig unglaubhaft. Er könne im Fall einer Rückkehr seinen Lebensunterhalt bestreiten, zumal er jung, erwachsen, gesund und arbeitsfähig sei. Er könne auch den Unterhalt für seine Familie bestreiten, da er das bereits vor seiner Ausreise getan habe und bereits über reichlich Berufserfahrung verfüge. Außerdem verfüge er über soziale und familiäre Anknüpfungspunkte im Heimatland. Da er noch nicht allzu lange in Österreich sei und nur sehr unregelmäßig Deutschkurse besuche, spreche er kaum Deutsch. Er sei illegal eingereist, verfüge über keine nennenswerten Kontakte und befinde sich erst relativ kurz in Österreich.

6. Der BF erhob gegen den Bescheid fristgerecht vollumfänglich Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass das Verfahren vor dem BFA nicht den Anforderungen eines amtswegigen Ermittlungsverfahrens gemäß § 18 Abs. 1 AsylG genügt habe. Es sei hinsichtlich des Vorbringens des BF gar keine individuelle Beweiswürdigung durchgeführt worden, außerdem seien veraltete und unzulängliche Länderfeststellungen herangezogen worden. Die Auffassung des BFA, der BF könnte ohne Gefahr nach Sayedabad zurück und dort Unterstützung bei seinem Onkel erhalten, sei aktenwidrig. Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund sei gegeben, da der Grund für die Verfolgung des BF jedenfalls in der von den Taliban aufgrund der verweigerten Rekrutierung zugeschriebenen politisch-religiösen Gesinnung liege. Die Inanspruchnahme des Schutzes durch den afghanischen Staat vor dieser Bedrohung durch die Taliban sei angesichts der ineffizienten Schutzmechanismen des afghanischen Staates sowie der instabilen Sicherheitslage nur theoretischer Natur. Auch würde sich die Sicherheitslage in der Heimatprovinz des BF kontinuierlich verschlechtern, weshalb eine Rückkehr des BF nicht möglich sei. Zudem stehe dem BF keine innerstaatliche Fluchtalternative (IFA) offen, da der BF weder in Kabul, noch in Mazar-e-Sharif oder Herat über soziale Kontakte verfüge und Mazar-e-Sharif darüber hinaus nicht sicher zu erreichen sei. Der Beschwerde wurden einige Referenzschreiben angefügt.

7. Am 29.08.2018 langte eine Beweismittelvorlage des BF ein, worin vorgebracht wurde, dass der BF vorbildlich integriert sei und Deutsch auf Niveau A2 spreche. Der BF legte ÖSD-Zertifikate über die bestandenen Prüfungen für Niveau A1 und A2 sowie eine Kursteilnahmebestätigung des Vereins menschen.leben für den „Deutschkurs für Asylwerbende – Sprachniveau A2“ vor.

8. Am 02.11.2018 langte eine ergänzende Stellungnahme sowie eine weitere Beweismittelvorlage ein, in der der BF ausführte, dass er in seinem Heimatland und auch im Bundesgebiet immer mit seinen Eltern und Geschwistern in einem gemeinsamen Haushalt gelebt habe. Deren Bescheide seien mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes behoben und an das BFA zurückverwiesen worden. Ergänzend wurden weitere Länderberichte zu der Sicherheitslage in den Großstädten Afghanistans in das Verfahren eingebracht. Der BF brachte vor, dass Kabul aufgrund der hohen Zahl ziviler Opfer als interne Flucht- oder Schutzalternative nicht zur Verfügung stehe und eine IFA in Großstädte wie Mazar-e-Sharif oder Herat aufgrund anhaltender Dürre und der damit schlechter werdenden Wasser- Nahrungsmittel-, Arbeits- und Wohnsituation in die Großstädte Afghanistans derzeit nicht relevant und zumutbar sei und mit einer Verletzung der Rechte nach Art 2,3 EMRK einhergehen würde. Der BF legte den EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan vom August 2017 vor und brachte außerdem eine Kursbesuchsbestätigung für einen Deutschkurs auf Niveau B1, eine Vereinbarung über gemeinnützige Tätigkeit mit der Stadtgemeinde Stockerau sowie Empfehlungsschreiben ein.

9. Mit Stellungnahme vom 16.09.2019 wurde angeführt, dass die Sicherheits- und Wirtschaftslage Afghanistans eine tiefgreifende Verschlechterung erfahren habe und es an Durchschlagskraft und Effizient der Zentralbehörden mangle. Da der BF zu einer Personengruppe gehöre, die einer erhöhten Gefahr unterliegen, könne er kein sicheres Leben in Afghanistan führen. Außerdem stehe Kabul aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage nicht mehr als IFA zur Verfügung. Auch die Großstädte Mazar-e-Sharif und Herat seien von der mangelhaften Nahrungsmittelversorgung und der schlechten Arbeitsmarktlage betroffen. Hinzu komme, dass der BF über keine sozialen Netzwerke verfüge, da er den Großteil seines Lebens außerhalb von Afghanistan verbracht hätte und folglich über keinerlei Ortskenntnisse und nur geringe Kenntnisse der sozialen Gepflogenheiten verfügen würden. Auch Frauen würden eine unmenschliche Erfahrung erleben müssen und es fehle ihnen nahezu an jeder Möglichkeit, einen freien Willen zu äußern.

10. Mit Urkundenvorlage vom 18.09.2019 wurden die Zuerkennungsbescheide des BFA der Schwester ( XXXX ) sowie der Eltern ( XXXX ), übermittelt.

11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.09.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und im Beisein des Rechtsvertreters des BF eine öffentliche, mündliche Verhandlung durch, an der das BFA nicht teilnahm.

Zu seinem Leben in Afghanistan befragt gab er an, keine Schule besucht zu haben, lediglich den Koran könne er lesen, da eine Frau zu ihnen nach Hause gekommen sei, die ihnen den Koran beigebracht habe. Er habe als Maler, Schweißer und Bauarbeiter gearbeitet. Er sei verheiratet gewesen, sei aber seit etwa einem Jahr geschieden. Er habe mit seiner Familie in einem großen Haus mit Garten gelebt. In Afghanistan habe er einen Onkel in Herat, zu dem er aber seit 15 Jahren keinen Kontakt mehr habe. Seine zweite Schwester sei im Iran geblieben, weil sie zu wenig Geld gehabt hätten. Sie hätte ein Kind und einen Mann gehabt, sei aber mittlerweile verstorben. Woran, wisse er nicht.

Zu seiner Situation in Österreich befragt gab er an, seit ca. 3,5 bis 4 Jahren hier zu sein. Er habe Deutschkurse bis Niveau A2 gemacht und auch die Prüfung dafür bestanden. Einen Teil eines B1 Kurses habe er schon gemacht. Er wolle die Ausbildung zum Friseur machen.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an:

[…]

R: Was war der Grund dafür, dass Sie mit Ihrer Familie Ihr Heimatland verlassen haben?

BF2: Zwei Mal sind die Taliban gekommen. Einmal haben sie an der Tür geklopft. Es war sehr laut. Als dann mein Vater gesagt hat, wir sollen alle in den Keller gehen, ich, meine Ehefrau, meine zwei Schwestern und mein Bruder.

R: Wissen Sie, wann die Taliban das erste Mal gekommen sind? Wissen Sie das Jahr oder den Monat?

BF2: Es war das „Tirmonat“, es war im Herbst.

D: Das Monat „Tir“ ist das vierte Monat im Jahr. Bei uns ist das Juni/Juli.

R: Welches Jahr?

BF2: Mit „Tir“ meine ich Herbst.

R wiederholt die Frage.

BF2: Ich habe ein bisschen Probleme mit Daten.

R: Was ist passiert, als die Taliban zum ersten Mal gekommen sind?

BF2: Wir sind beim ersten Mal in den Keller gegangen und haben uns versteckt. Mein Vater hat mit ihnen gesprochen. Ich weiß nur, sie haben gewusst, dass wir zwei Brüder und zwei Schwestern sind. Sie haben mit meinem Vater geredet und er hat ihnen gesagt, dass er mit seinen Kindern sprechen werde. Mein Vater hat zu ihnen gesagt: „Ja, ich akzeptiere es, kein Problem, aber sie sind jetzt alle nicht zu Hause. Wenn sie wieder nach Hause kommen, dann spreche ich mit ihnen“. Mein Vater hat die Taliban angelogen.

R: Wann sind dann die Taliban das zweite Mal gekommen?

BF2: Ca. 35 Tage später. Sie wollten uns alle mitnehmen.

R: Können Sie mir das genau schildern, was genau passiert ist, als die Taliban das zweite Mal gekommen sind?

BF2: Es war dunkel, wir sind zu Hause gesessen. Jeder von uns war mit seiner Arbeit beschäftigt. Auf einmal hörten wir einen lauten Knall, dass die Türe aufgegangen ist. Es war wirklich sehr laut. Ich weiß nicht, wie sie die Türe aufgemacht haben.

R: Wie viele Taliban sind beim zweiten Mal gekommen?

BF2: Sechs oder sieben oder auch mehr. Die, die wir gesehen haben waren sechs oder sieben.

R: Wissen Sie, wie viele Taliban beim ersten Mal gekommen sind?

BF2: Es waren vier.

R: Hat Ihnen das Ihr Vater erzählt, dass vier Taliban gekommen sind, denn Sie waren ja im Keller?

BF2: Ja.

R: Als die Taliban beim zweiten Mal hereingestürzt sind, was ist dann passiert?

BF2: Als sie plötzlich hereingekommen sind, haben zwei von ihnen meine Schwestern festgehalten und einer hat mich festgehalten und ein anderer Mann hat meinen Bruder festgehalten.

R: Was haben die Taliban weiter gemacht?

BF2: Mein Vater wollte uns von ihnen befreien, als ein Talib dann auf meinen Vater eingeschlagen hat.

R: Wie wurde auf Ihren Vater eingeschlagen?

BF2: Mit dem Hinterteil der Waffe und mein Vater ist dann gleich zu Boden gefallen.

R: Was ist mit Ihrer Mutter passiert?

BF2: Meine Mutter wollte meinem Vater aufhelfen und wurde selbst zu Boden gestoßen.

R: Was ist dann weiter passiert? Sind die Taliban einfach wieder gegangen?

BF2: Sie waren dort. Einer von ihnen hat einen Anruf erhalten und ist hinausgegangen. Ca. 4 bis 6 Minuten hat er draußen gesprochen. Dann ist er hereingekommen und hat zu seinen Männern gesagt: „Lasst uns gehen“. Das hat er in ihrer eigenen Sprache gesagt.

R: Wie konnten Sie das verstehen, wenn die ihre eigene Sprache gesprochen haben?

BF2: Wir Afghanen wissen, ob einer Usbeke oder Tadschicke oder Turkmane ist.

R: Wie konnten Sie verstehen, dass er sagte: „Lasst uns gehen“?

BF2: Die Sprache habe ich nicht verstanden. Er hat etwas gesagt und sie sind weggegangen.

R: Haben Sie dann gleich mit Ihrer Familie das Haus verlassen, oder sind Sie noch länger geblieben?

BF2: Als sie hinausgegangen sind, ist einer zurückgekommen und hat gesagt: „Bewegt euch nicht, wir kommen in einer halben bis einer Stunde wieder zurück“.

R: In welcher Sprache haben Ihnen die Taliban das gesagt?

BF2: Auf Farsi.

R: Was ist dann weiter passiert?

BF2: Sie sind dann gegangen. Mein Vater lag am Boden. Wir haben ihm ein bisschen Wasser gegeben. Wir sind gesessen. Meine Schwestern haben geweint. Wir haben sie beruhigt.

R: Was ist dann passiert?

BF2: Dann ist mein Vater rausgegangen. Er ist dann mit einem Auto gekommen, ich weiß nicht, ob es vom Nachbarn oder von Freunden war und er sagte: „Steht alle auf wir fahren“.

R: Wohin sind Sie gefahren?

BF2: Wir sind nach Sang Jarak gefahren.

R: Wer ist mit dem Auto gefahren?

BF2: Diese Person, die mein Vater mitgenommen hat. Ich weiß es nicht.

R: Wissen Sie den Namen dieser Person?

BF2: Nein.

R: Wie weit ist Sang Jarak entfernt von Ihrem Heimatdorf? Wie lange sind Sie gefahren?

BF2: Ich weiß nicht, ca. zwei bis drei Stunden. Wir hatten alle Angst. Wir wussten nicht einmal, wo uns unser Vater hinbringt.

R: Haben Sie mit Ihrer Familie, Ihren Eltern, Ihren Geschwistern und Ihrer Frau in einem Haus gelebt?

BF2: Ja.

R: Hatten Sie auch Grundstücke dabei?

BF2: Nein, das Haus hat uns gehört.

R: Hatten Sie Grundstücke, wo Sie etwas anbauen konnten?

BF2: Nein.

R: Hatten Sie einen Garten?

BF2: Ja, im Haus hatten wir einen Garten.

R: Wie konnten Sie im Haus einen Garten haben?

BF2: Wenn man beim Haupteingang hineingegangen ist, ist man zuerst durch den Garten gekommen und dann ins Haus.

R: Wo haben Sie dann in dem Dorf Sang Jarak gelebt?

BF2: Dort hat mein Vater ein Haus genommen, es war ein altes Haus. Ich weiß nicht ob es überhaupt jemand gehört hat. Es war ein kaputtes Haus. Wir sind in das Haus hineingegangen, haben es geputzt und darin gewohnt.

R: Was ist mit Ihrem eigenen Haus passiert?

BF2: Ich weiß es nicht, wir haben es verlassen.

R: Wie lange haben Sie dann im Dorf Sang Jarak gelebt?

BF2: Zwei Monate.

R: Warum haben Sie das Dorf Sang Jarak verlassen?

BF2: Dort hat es auch Probleme gegeben, vor allem, wenn wir nachts geschlafen haben, wurde dort immer geschossen.

R: Dann haben Sie sich entschieden, mit der Familie wegzugehen?

BF2: Wir haben dort keine Entscheidungen treffen können. Alles was gemacht wurde hat der Vater entschieden.

R: Wie sind Sie dann nach Österreich gelangt?

BF2: Mein Vater hat gesagt, dass er mit einem Schlepper gesprochen hat. Er brachte uns in den Iran. Wir bleiben zwei Tage im Iran und sind dann weiter in die Türkei. Ca. 30 bis 35 Tage verbrachten wir in der Türkei. Wir dachten, wir bleiben dann dort, aber unser Vater hat dann entschieden, weiterzureisen.

R: Den Schlepper hatten Sie bereits in Afghanistan?

BF2: Ich weiß nicht, mein Vater hat immer gesagt: „Wir müssen hier weg“. Und er hat mit dem Schlepper gesprochen.

R: Sie wissen also nicht, ob es den Schlepper bereits in Afghanistan gegeben hat?

BF2: Nein. Alles, was mein Vater gesagt hat, wurde gemacht.

[…]

Abschließend wurden mit dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Stand: März 2019) und die UNHCR-Richtlinien betreffend Afghanistan vom 30.08.2018 erörtert.

12. Mit Verfahrensanordnung vom 24.01.2020 wurden die aktuellen Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan, Stand 13.11.2019, die UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender (30.08.2018) und die EASO Leitlinien zu Afghanistan (Juni 2019) zur Stellungnahme binnen zwei Wochen übermittelt.

13. Eine Stellungnahme des BF langte am 12.02.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein. In dieser wurde dargelegt, dass von einer Verbesserung der allgemeinen Situation in Afghanistan überhaupt keine Rede sein könne. Die Gefahr, dass er im Falle einer Abschiebung in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde, sei akut. UNHCR zeige richtigerweise auf, dass eine Rückkehr nach Kabul gegenwärtig nur mehr im Ausnahmefall zulässig sei, sowohl aufgrund der Sicherheitslage, aber auch der katastrophalen Wirtschafts-wohnungs- und Versorgungslage, auch auf Grund der hohen Zahl an IDPs. Für den BF bestehe die reale Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung auf Grund der weiterhin ausgesprochen schlechten Situation in Afghanistan, insbesondere in seiner Heimatgegend und wegen seiner Entwurzelung. Auch die Sicherheitssituation in Herat habe sich verschlechtert. Er habe bereits große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen, die deutsche Sprache erlernt und soziale Kontakte entwickelt. Er sei arbeitsfähig, arbeitswillig und bereits jetzt selbsterhaltungsfähig. In Afghanistan habe er keine Lebensperspektive.

14. Am 19.06.2020 wurden dem BF folgende aktuelle Berichte zur Situation in Afghanistan übermittelt und der BF aufgefordert zu diesen Berichten eine schriftliche Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen zu erstatten:

-        LIB der Staatendokumentation Afghanistan (Stand: 18.05.2020);

-        EASO Special Report Asylum Trends and Covid-19 vom 07.05.2020;

-        EASO COVID-19 emergency measures in asylum and reception vom 13.05.2020, Bulletin 11;

-        OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report -vom 17.06.2020.

15. Mit Verfahrensanordnung vom 30.06.2020 wurde dem BF die aktuellste Kurzinformation der Staatendokumentation zur Situation in Afghanistan (Covid-19, Stand: 29.06.2020) übermittelt und er aufgefordert binnen einer Frist von zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme zu erstatten.

16. Am 30.06.2020 brachte der BF eine Stellungnahme ein. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Coronavirus-Pandemie in Afghanistan völlig außer Kontrolle sei. Den offiziellen Zahlen sei kaum zu trauen und würde er bei einer Abschiebung in eine existentielle Notlage geraten. Von einer Verbesserung der allgemeinen Situation sei nicht auszugehen. Die aktuellen Berichte würden die katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage ebenso aufzeigen, wie die mangelnde Effizienz und Durchschlagkraft der Zentralbehörden den BF zu beschützen oder eine Reintegration zu ermöglichen. Eine IFA sei für den BF nicht zumutbar. Eine Rückkehr nach Kabul sei keinesfalls zumutbar, auch habe sich die Situation in Herat und Mazar-e Sharif verschlechtert. Der BF habe bereits große Anstrengungen zu seiner Integration unternommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der volljährige BF führt den Namen XXXX , ist am XXXX geboren und ein Staatsangehöriger Afghanistans. Er bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Der BF spricht Dari, ist geschieden und hat keine Kinder (AS 17, Protokoll vom 20.09.2019 = OZ 15Z, S. 16-17).

Er reiste gemeinsam mit seiner Familie (Eltern XXXX , Schwester XXXX , Bruder XXXX und Frau XXXX ) nach Österreich ein (AS 19) und hält sich seit zumindest 27.01.2016 durchgehend in Österreich auf (AS 21).

Seine Eltern und seine Schwester befinden sich in Österreich und haben hier Asylstatus erhalten (OZ 14, Beilage 1). Da für die Eltern des BF keine eigenen Fluchtgründe festgestellt wurden, kam die Zuerkennung der Asylberechtigung aus eigenen Gründen nicht in Betracht. Die Verfahren der Eltern und der minderjährigen Schwester des BF wurden jedoch als Familienverfahren geführt. Das Gericht geht davon aus, dass der minderjährigen Schwester des BF aufgrund der drohenden Zwangsverheiratung im Heimatland Asyl gewährt wurde. Den Eltern wurde daher als Familienangehörigen der Status des Asylberechtigten zuerkannt, da diese nicht straffällig geworden sind und gegen sie kein Aberkennungsverfahren anhängig ist (Bescheid vom 12.04.2019, Zl. 1103546603, Bescheid vom 11.04.2019, Zl. 1103545203, Bescheid vom 12.04.2019, Zl. 1103652203).

Der BF wurde in Afghanistan in der Provinz Balkh geboren, wo er gemeinsam mit seiner Familie lebte. Kurz vor seiner Ausreise lebten sie in einem Ort namens Sang Jarak. Es konnte nicht festgestellt werden, ob der BF in seiner Heimat eine Schule besucht hat. Er hat als Maler, Schweißer und Bauarbeiter gearbeitet. (AS 17-19, 93, OZ 15Z, S. 17- 21). In Afghanistan (Provinz Herat) hat der BF einen Onkel väterlicherseits.

Der BF leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen, die einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen würden oder ihn in seiner Arbeits- oder Leistungsfähigkeit einschränken würden. Der BF ist gesund und hat während des Verfahrens keine gesundheitlichen Probleme vorgebracht. Der BF ist arbeits- sowie leistungsfähig (AS 92).

Der BF weist keine strafgerichtlichen Verurteilungen auf.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Es kann in Bezug auf das Fluchtvorbringen des BF nicht festgestellt werden, dass dieser in Afghanistan aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt wurde. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan ist der BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.

Der BF wurde weder von den Taliban bedroht noch zur Zusammenarbeit gezwungen.

Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Dem BF droht individuell und konkret, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder die afghanische Regierung.

Der BF hatte in Afghanistan selbst keine konkret und individuell gegen ihn gerichteten Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den schiitischen Hazara.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan in seinem Recht auf Leben gefährdet wird, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wird oder eine Rückkehr für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

Der BF ist in der Provinz Balkh aufgewachsen und hat zuletzt - kurz vor seiner Ausreise - in einem kleinen Dorf namens Sang Jarak gelebt.

Der BF kann sich im Rückkehrfall in einer der relativ sicheren Städte Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen.

Zwar sind die wirtschaftlichen Bedingungen für Rückkehrer schwierig. Der BF läuft jedoch im Falle einer Rückkehr in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine auswegslose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen. Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF in die Städte Herat oder Mazar-e Sharif ausschließen, können nicht festgestellt werden.

Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut und wuchs in einem afghanischen Familienverband auf. Es konnte aufgrund der widersprüchlichen Angaben des BF zwar nicht festgestellt werden, ob dieser in Afghanistan eine Schule besucht hat, er hat in Afghanistan aber jedenfalls das Lesen des Korans erlernt. Er hat in seinem Heimatland Afghanistan auch umfassende Berufserfahrung als Maler, Schweißer und Bauarbeiter gesammelt. Auch in Österreich hat der BF gemeinnützige/ehrenamtliche Arbeiten bei einer Gemeinde verrichtet. Der BF lebte zwar nie in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif und verfügt dort auch über keine familiären Anknüpfungspunkte, angesichts seiner uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit, seiner bereits gesammelten Berufserfahrung in Afghanistan und seiner Weiterbildung in Österreich ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass sich der BF in Herat und Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und diese zumindest anfänglich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern kann. Der BF kehrt gemeinsam mit seinem volljährigen Bruder in seine Heimat Afghanistan zurück und wäre ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage in Herat oder Mazar-e Sharif möglich. Er ist in der Lage, in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Er kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif auf dem Luftweg sicher erreichen.

Der BF unterliegt keinen gesundheitlichen Einschränkungen, welche einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen. Insbesondere ist im Hinblick auf die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie festzuhalten, dass der BF mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 angehört. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.4. Zum (Privat) Leben des BF in Österreich:

Der unbescholtene BF hält sich seit etwa vier Jahren und sechs Monaten im Bundesgebiet auf (OZ 15Z, S. 16). Er bezieht laufend Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig (AS 92). Der BF hat mehrere Deutschkurse besucht - Volksbildungsverein NÖ Volkshochschulen (AS 103), Kursteilnahmebestätigung „Deutschkurs für Asylwerbende“ Sprachniveau A2 vom Verein menschen.leben (OZ 3, Beilage 3) und Deutschkurs B1 (OZ 6, Beilage 2) - sowie die ÖSD Deutschprüfungen für die Stufen A1 und A2 gut bestanden (OZ 3, Beilage 1 und 2). Außerdem hat er ehrenamtlich für die Gemeinde gearbeitet. (OZ 6, Beilage 3, OZ 14, Beilage ./B).

Der BF hat angegeben in Österreich zwei oder drei Freunde zu haben (AS 93). Eine nachhaltige Integration des BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet kann nicht erkannt werden.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Unter Bezugnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, letzte Kurzinfo vom 29.06.2020), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, den EASO-Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019, dem EASO Special Report Asylum Trends and Covid-19 von 07.05.2020, dem EASO COVID-19 emergency measures in asylum and reception vom 13.05.2020, Bulletin 11 und dem Bericht von OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report -on 17.06.2020, werden folgende entscheidungsrelevante, die Person der BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

Stand: 18.5.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

?        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

?        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderunge

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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