Entscheidungsdatum
11.08.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs3Spruch
G311 2180224-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Eva WENDLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX (alias: XXXX ), geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Irak, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.11.2017, Zahl: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.10.2019, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am 17.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005.
Am 20.11.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers zu seinem Antrag auf internationalen Schutz statt.
Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, wurde der Beschwerdeführer am 27.10.2016, am 06.12.2016 sowie am 07.11.2017 niederschriftlich einvernommen.
Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), der Antrag bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.), dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde dem Beschwerdeführer weiters eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt VI.).
Mit dem am 13.12.2017 beim Bundesamt eingebrachten Schriftsatz vom selben Tag erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Rechtsvertretung das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den ihn betreffenden Bescheid des Bundesamtes. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen, der Beschwerde stattgeben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten oder allenfalls des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu den angefochtenen Bescheid zur Gänze aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das zurückverweisen; in eventu feststellen, dass die gegen den Beschwerdeführer erlassene Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung (plus) gemäß § 55 AsylG vorliegen und dem Beschwerdeführer eine solche erteilen; in eventu feststellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG vorliegen und ihm eine solche von Amts wegen erteilen.
Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 19.12.2017 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
Seitens der Rechtsvertretung wurde per Telefax vom 08.04.2019 ein medizinischer Befund des Beschwerdeführers vom 26.11.2018 übermittelt.
Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 03.10.2019 wurden der bevollmächtigten Rechtsvertretung des Beschwerdeführers und dem Bundesamt zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung ein Konvolut von aktuellen und relevanten Länderberichten zum Irak zur Kenntnisnahme übermittelt und zugleich die Möglichkeit der Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung oder der mündlichen Stellungnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung eingeräumt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.10.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertretung sowie ein Dolmetscher für die Sprache Kurdisch teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde erschien nicht zur Verhandlung und die belangte Behörde nahm auch nicht zu den vorab übermittelten Länderberichten Stellung. Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde vom Beschwerdeführer eine schriftliche Stellungnahme vom 17.10.2019 zu den vorab übermittelten Länderberichten sowie Konvolut medizinischer Befunde und Unterlagen vorgelegt.
Dem Beschwerdeführer wurde vom Gericht aufgetragen, bis 25.10.2019 bei Gericht einlangend einen Bericht seines behandelnden Arztes über Menge und Art der für ihn erforderlichen Medikamente und auch die vorgebrachte wöchentliche Injektion vorzulegen, um in der Folge eine Anfrage an die Staatendokumentation zur Verfügbarkeit der Medikamente im Irak zu stellen.
Am 23.10.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht der mit 18.10.2019 datierte Befund des den Beschwerdeführer laufend behandelnden Allgemeinmediziners samt einem Karteiauszug über die zwischen 13.10.2017 und 22.10.2019 dem Beschwerdeführer verschriebenen Medikamente beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit Schreiben vom 11.11.2019 stellte das Bundesverwaltungsgericht zur Verfügbarkeit von Schmerzmedikamenten der II. Stufe des WHO-Stufenschemas zur Schmerztherapie in Bagdad (konkret etwa NSAR und Tramabene) eine Anfrage an die Staatendokumentation.
Die Anfragebeantwortung vom 13.11.2019 langte am selben Tag beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 19.11.2019 wurde dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt (diesem auch der Befund des behandelnden Arztes vom 18.10.2019 samt Medikamentenliste des Beschwerdeführers) die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Stellungnahme bis 13.12.2019 übermittelt.
Der Beschwerdeführer nahm dazu mit Schriftsatz der Rechtsvertretung vom 13.12.2019, am selben Tag beim Bundesverwaltungsgericht einlangend, Stellung.
Seitens des Bundesamtes wurde keine Stellungnahme abgegeben.
Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 20.04.2020 wurde den Parteien die aktuelle Länderberichte zur Lage im Irak mit der Möglichkeit zur Stellungnahme übermittelt. Über Antrag des Beschwerdeführers wurde die Frist zur Erstattung einer Stellungnahme bis 15.05.2020 erstreckt.
Am 15.05.2020 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden (Faily-Kurden) und bekennt sich zum moslemischen Glauben schiitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Kurdisch, er spricht jedoch auch Arabisch (vgl Erstbefragung vom 20.11.2015, AS 3 ff; Niederschrift Bundesamt vom 27.10.2016, AS 23 ff; Kopie irakischer Personalausweis samt deutscher Übersetzung, AS 29 ff; Kopie irakischer Staatsbürgerschaftsnachweis samt deutscher Übersetzung, AS 35 ff; Niederschrift Bundesamt vom 06.12.2016, AS 35 ff; Niederschrift Bundesamt vom 07.11.2017, AS 69 ff; Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 2 ff).
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Geboren und aufgewachsen ist der Beschwerdeführer in Bagdad. Er hat keine Schulbildung absolviert, kann jedoch etwas auf Arabisch lesen. Er war im Irak als angelernter Automechaniker bzw. Hilfsarbeiter erwerbstätig, bevor er im Dezember 1999 den Irak verließ und in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Den Angaben des Beschwerdeführers nach wurde ihm in Deutschland in der Folge eine Form von internationalem Schutz gewährt und ihm ein Konventionsreisepass ausgestellt. Im Jahr 2007 reiste der Beschwerdeführer mit dem Konventionspass in den Iran, um dort seine Familie aus dem Irak zu treffen. Die Rückreise nach Deutschland wurde ihm mit seinem Reisepass verweigert und der Beschwerdeführer vom Iran in den Irak abgeschoben, wo er sich etwa sechs Monate aufhielt. In der Folge reiste der Beschwerdeführer nach Schweden und stellte dort am 11.03.2008 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Er hielt sich etwa vier Jahre in Schweden auf. Nachdem sein Antrag negativ entschieden wurde, reiste der Beschwerdeführer wieder nach Deutschland, wo er am 22.01.2012 einen dritten Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag) stellte. Der Antrag wurde ebenfalls negativ entschieden und der Beschwerdeführer nach Schweden rücküberstellt, von wo aus er am 20.04.2014 in den Irak abgeschoben wurde. Dort lebte er mit seinen Eltern und Geschwistern erst in Bagdad und zog dann vorübergehend für etwa ein halbes Jahr mit seinen Eltern und Geschwistern in das eigene Ferienhaus der Familie in einen Ort nahe XXXX /Diyala. Nachdem der IS gekommen war, kehrten der Beschwerdeführer und seine Familie wieder nach Bagdad zurück und lebten dort im Haus der Großmutter bzw. einer Tante (vgl Erstbefragung vom 20.11.2015, AS 5 ff & EURODAC-Treffer, AS 11; Niederschrift Bundesamt vom 27.10.2016, AS 27; Niederschrift Bundesamt vom 06.12.2016, AS 37 ff, Niederschrift Bundesamt vom 07.11.2017, AS 71 ff; Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 3 ff).
Anfang November 2015 reiste der Beschwerdeführer erneut illegal vom Irak in die Türkei und reiste mit dem Bus nach Izmir, von wo aus der teils selbstständig/teils schlepperunterstützt über Griechenland nach Nordmazedonien reiste. Von dort reiste er mit dem Zug weiter nach Serbien und über Kroatien und Slowenien bis nach Österreich, wo er am 17.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte (vgl etwa Erstbefragung vom 20.11.2015, AS 7 ff; Niederschrift Bundesamt vom 06.12.2016, AS 39; Niederschrift Bundesamt vom 07.11.2017, AS 73).
Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Asylantragstellung ununterbrochen im Bundesgebiet auf und verfügt im Bundesgebiet von 30.11.2015 bis 05.10.2016 sowie von 12.10.2017 bis zum Entscheidungszeitpunkt über durchgehende Hauptwohnsitzmeldungen. Er ist strafgerichtlich unbescholten (vgl Auszug aus dem Zentralen Melderegister sowie dem Strafregister jeweils vom 30.03.2020).
Zwei der drei Brüder des Beschwerdeführers leben nach wie vor in Bagdad, ebenso wie die beiden Eltern und die unverheiratete Schwester des Beschwerdeführers. Die Eltern und die Schwester leben noch immer im Haus einer Tante. Es handelt sich dabei um ein großes Haus, in dem insgesamt sieben Leute wohnen. Die Eltern bezahlen keine Miete bei der Tante, beteiligen sich aber an den Kosten für das Essen. Die Eltern sind bereits sehr alt, haben selbst einige Erkrankungen, arbeiten nicht mehr und erhalten vom irakischen Staat unregelmäßig EUR 50,00 pro Monat. Der dritte Bruder des Beschwerdeführers lebt in Deutschland mit seiner italienischen Ehefrau und den gemeinsamen Kindern. Zu seinen Familienangehörigen im Irak hat der Beschwerdeführer etwa ein bis zwei Mal monatlich Kontakt. Der Beschwerdeführer hat weiters noch drei Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits und drei Tanten väterlicherseits, die alle im Irak leben (vgl Niederschrift Bundesamt vom 07.11.2017, AS 73; Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 8).
Der Beschwerdeführer übte bisher im Bundesgebiet keine legale Beschäftigung aus und lebt von der Grundversorgung. Er engagiert sich nicht in einem Verein oder einer Organisation und übt keine ehrenamtlichen Tätigkeiten aus. Er besuchte bisher keinen Deutschkurs, jedoch hat der Beschwerdeführer bereits mehrere Jahre in Deutschland gelebt und kann sich daher etwas auf Deutsch verständigen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer über maßgebliche Deutschkenntnisse verfügt (vgl Grundversorgungsdaten- und Sozialversicherungsdatenauszug vom 30.03.2020; Niederschrift Bundesamt vom 07.11.2017, AS 76; Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 3 ff).
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer noch mit seiner Freundin aus dem Jahr 2017 eine Beziehung führt. Der Beschwerdeführer hat darüber hinaus in Österreich keinerlei familiäre Bindungen (vgl schriftliche Stellungnahme vom 17.03.2017, AS 53 ff; vgl etwa Niederschrift Bundesamt vom 07.11.2017, AS 71 ff; Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 3 ff).
Insgesamt wurden keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer hinreichenden Integration des Beschwerdeführers in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt.
Der Beschwerdeführer erlitt im Zuge eines Streits in der Asylwerberunterkunft, bei dem der Beschwerdeführer von einem anderen Asylwerber auf Treppen hinabgestoßen wurde, am 08.07.2016 eine Fraktur des linken Unterschenkels und des Schienbeinkopfes, die insgesamt zwei Operationen (darunter Metallentfernung im September 2017) erforderte (vgl Konvolut von Behandlungsunterlagen der AUVA, AS 59 ff). Seither leidet der Beschwerdeführer an einem neuropathischen Schmerzsyndrom mit ausgeprägten Dysästhesien des linken Beines, welches mittels wöchentlicher Neuraltherapie (Einspritzen von Lokalanästhetika in die betroffenen Stellen) sowie Schmerzmitteln (Tramadol (konkret: Tramabene 100) und NSAR) und teilweise auch Physiotherapie behandelt wird. (vgl etwa Befunde Dris. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, zuletzt vom 18.10.2019 ). Er ist dadurch bei der Belastung (Treppensteigen, Tragen von Lasten über zehn Kilo) und Beweglichkeit (Beugen des Knies) eingeschränkt (vgl Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 8 ff).
Weiters leidet der Beschwerdeführer an Migräne ohne Aura und einer Verhaltensstörung (Wutanfälle). Wegen der Migräne nimmt er ebenfalls Schmerzmittel ein, nämlich „Metagelan 500 mg“ (Wirkstoff Metamizol-Natrium-Monohydrat; entspricht Novalgin) sowie Sirdalud, er nimmt jedoch keine Medikamente wegen der Verhaltensstörung (vgl Befundbericht Dris XXXX , Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 13.03.2018; Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 13). Der Beschwerdeführer leidet auch an mehreren Allergien, darunter einer starken Meeresfrüchte- und Fischallergie. Er verfügt deswegen über einen Anaphylaxie-Pass und einen EpiPen und nimmt täglich Loratadin als Allergiemedikament ein (vgl in der Verhandlung am 17.10.2019 vorgelegte Kopien; Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 13).
Der Beschwerdeführer ist daher in seiner Gesundheit und auch Arbeitsfähigkeit eingeschränkt. Es ist ihm jedoch möglich, trotz seiner Einschränkungen mit dem linken Bein zu Fuß von einem zum Verhandlungszeitpunkt bestehenden Wohnort bis zur XXXX und wieder zurück zu gehen. Die Wegstrecke zur XXXX führt bergauf und ist bei durchschnittlicher Gehgeschwindigkeit zumindest mit einer Gehzeit von 10 Minuten zu rechnen. Der Beschwerdeführer leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung im Endstadium, die im Irak nicht behandelbar ist.
Seit 2007 hat der Beschwerdeführer persönliche Probleme mit einem seiner Onkel, der dem Beschwerdeführer immer wieder drohte. Die Drohungen setzte er nach der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak im April 2014 fort, es kam jedoch nie zu einer persönlichen Bedrohung oder Verfolgung oder zu einer tatsächlichen Bedrohung des Beschwerdeführers durch schiitische Milizen oder den IS. Auch hat der Beschwerdeführer seinen Onkel während seines Aufenthalts im Irak zwischen 2014 und der Ausreise im November 2015 nie persönlich gesehen (vgl etwa Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 4 ff; darüber hinaus Niederschrift Bundesamt vom 06.12.2016, AS 39 ff, Niederschrift Bundesamt vom 07.11.2017, AS 75 ff;
Während des Aufenthalts des Beschwerdeführers mit seiner Familie in Diyala wurde der Familie im August 2015 von den sunnitischen Söhnen der Nachbarn USD 5.000,00 geboten, wenn sie die Schwester des Beschwerdeführers heiraten dürften. Die Familie vermutete dabei aber einen Vorwand, um die Tochter an den IS (Daesh) zu verkaufen, und erbat sich zwei Tage Bedenkzeit, in welcher sie wieder nach Bagdad zurückkehrten. In der Folge kam es deswegen zu keinerlei Problemen mehr (vgl etwa Erstbefragung vom 20.11.2015, AS 11 f; Niederschrift Bundesamt vom 06.12.2016, AS 37 ff; Niederschrift Bundesamt vom 07.11.2017, AS 69 ff; Verhandlungsprotokoll vom 17.10.2019, S 2 ff).
Der Beschwerdeführer ist weder im Irak noch einem anderen Land vorbestraft, er hat keinerlei Probleme mit irakischen Behörden, Gerichten oder der Polizei. Er hat keine Probleme mit der irakischen Regierung und wird nach ihm weder gefahndet noch besteht ein Haftbefehl. Er war bisher niemals politisch oder religiös tätig und auch kein Mitglied einer Partei oder Organisation. Auch seine Familienmitglieder haben sich nicht politisch betätigt. Er hatte im Irak keinerlei Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit.
Der Beschwerdeführer hat den Irak wegen seiner langjährigen Aufenthalte in Europa und den für ihn ungewohnten Lebensstandard verlassen.
Ein konkreter Anlass oder Vorfall für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte daher nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer generellen Verfolgungsgefahr oder Bedrohung durch schiitische Milizen, den IS oder von staatlicher Seite ausgesetzt ist.
Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:
Zur allgemeinen Lage im Irak werden die vom Bundesverwaltungsgericht zur Vorbereitung der mündlichen Beschwerdeverhandlung mit Schreiben vom 03.10.2019 in das Verfahren eingeführten Länderberichte, nämlich ein Konvolut aus fallbezogen relevanten aktueller Länderberichte samt den angeführten Quellen (mit Stand Oktober 2019), die eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.11.2019 sowie die mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 20.04.2020 ergänzend in das Verfahren eingeführten Länderberichte auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand des Erkenntnisses erhoben.
Daraus ergibt sich:
Aus dem ecoi.net-Themendossier von ACCORD vom 04.03.2020 zum Irak: Aktuelle politische Entwicklungen – Protestlage, ergibt sich:
„1.Forderungen der DemonstrantInnen
Die Protestbewegung, die am 1. Oktober 2019 in Bagdad und in den südlichen irakischen Provinzen ihren Anfang nahm, setzt sich aus Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts zusammen. Die DemonstrantInnen drücken auf der Straße ihre Frustration über hohe Jugendarbeitslosigkeit, mangelhafte öffentliche Dienste und chronische Korruption im Land aus. Simona Foltyn, eine in Bagdad ansässige Journalistin, erklärt gegenüber BBC, dass die Proteste aus einem Graswurzelbewegung gewachsen seien. Die Beteiligung politischer Parteien weisen DemonstrantInnen strikt zurück (BBC, 3. Oktober 2019)[i]. Insbesondere Studenten entwickelten sich laut Al Jazeera zum Rückgrat der Protestbewegung (Al Jazeera, 10. Februar 2020) [ii].
Die DemonstrantInnen fordern weiters das Ende des politischen Systems der letzten sechzehn Jahre, welches Regierungsbestellungen auf der Grundlage von konfessionellen oder ethnischen Quoten (ein System, das als Muhassasa bezeichnet wird) vorsieht (BBC, 7. Oktober 2019). Die DemonstrantInnen fühlen sich politisch entmachtet und sehen den Rückgriff auf Straßenaktionen als einzige Form, sich politisch zu beteiligen (ICG, 10. Oktober 2019)[iii]. Viele der Proteste, insbesondere in der südlichen schiitischen Mehrheitsregion, richten sich außerdem gegen den starken ausländischen Einfluss im Land, einschließlich dem des benachbarten Iran (RFE / RL, 17. November 2019)[iv].
2. Ausbreitung und Intensität der Proteste
Laut UNAMI versammelten sich rund 3.000 Menschen am 1. Oktober 2019 auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Bagdads (UNAMI, Oktober 2019, S.4)[v]. Die Demonstrationen breiteten sich in Provinzen im Süd- und Zentralirak aus, darunter Babil, Dhi-Qar, Diyala, Karbala, Maysan, Muthana, Nadschaf, Qadisiya und Wasit (UNAMI, Oktober 2019, S.3). Die kurdischen Regionen im Norden, sowie die sunnitischen Mehrheitsgebiete im Westen blieben größtenteils ruhig (BBC, 3. Oktober 2019).
Die erste Phase der Protestbewegung dauerte vom 1. bis zum 9. Oktober an (OHCHR, 29. Oktober 2019)[vi]. Laut eines Sprechers des Innenministeriums, Saad Maan, hatten DemonstrantInnen 51 öffentliche Gebäude und acht Parteizentralen während dieser ersten Protestphase in Brand gesetzt (HRW, 10. Oktober 2019)[vii].
Eine zweite Protestwelle brach am 24. Oktober in Bagdad und Provinzen Süd- und Zentraliraks aus (AI, 29. Oktober 2019)[viii]. Während der zweiten Welle des Protests erweiterte sich der Kreis der DemonstrantInnen. Lokalen Berichten zufolge schlossen sich ab dem 27. Oktober vermehrt auch SchülerInnen und Studierende in Bagdad und anderen Städten den Protesten an (BAMF, 28. Oktober 2019, S.4)[ix]. Darüber hinaus rief die irakische Lehrergewerkschaft zur Unterstützung der Proteste zu einem Generalstreik auf, der zur Schließung von Schulen in Nadschaf, Al Muthanna, Dhi-Qar, Basra, Babil, Karbala und Maysan führte. Auch MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors nahmen an den Protesten teil (ACLED, 19. November 2019, S.2)[x]. Im Süden des Irak blockierten DemonstrantInnen wichtige Häfen wie Umm Qasr und Khor Al Zubair sowie Ölfelder in der Provinz Basra (ACLED, 26. November 2019, S.2). Die Demonstrationen dauerten im Dezember weiter an, mit tausenden Protestierenden im Südirak, die nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Adel Abdel Mahdi einen unabhängigen Kandidaten forderten (Al Jazeera, 22. Dezember 2019).
Genaue Angaben zur Anzahl der DemonstrantInnen konnten nicht gefunden werden, doch gab UNAMI im November an, dass zwischen dem 29. Oktober und dem 4. November die Zahl der DemonstrantInnen in Bagdad schätzungsweise eine Million erreichte (UNAMI, November 2019, S.4).
Die Protestbewegung, die eine Revision des politischen Systems im Irak forderte, setzte sich im Jänner fort (Al Jazeera, 11. Jänner 2020, Al Jazeera, 19. Jänner 2020). Zeitgleich führten US-Angriffe gegen die vom Iran unterstützten Volksmobilisierungskräfte (Popular Mobilization Forces, PMF), sowie der tödliche Angriff auf den iranischen General Qasem Soleimani nahe des Flughafens Bagdad am 3. Jänner 2020 zu separaten Demonstrationen, die von pro-iranischen Gruppierungen angeführt wurden und die sich gegen amerikanischen Einfluss im Land richteten (Washington Institute, 10. Jänner 2020[xi]). Viele der DemonstrantInnen der Oktoberbewegung distanzierten sich von diesen Protesten (Al Jazeera, 31. Dezember 2019, Al Jazeera, 2. Jänner 2020) und drückten ihre Befürchtung aus, dass ihre monatelangen Demonstrationen und Forderungen von der Bewegung gegen die US-Militärpräsenz überschattet werden könnte (RFE/RL, 24. Jänner 2020).
3. Reaktion der Politik
Premieminister Adel Abdel Mahdi zeigte sich öffentlich von Beginn der Proteste um eine Lösung bemüht (RFE/RL, 1. Oktober 2019). Am 8. Oktober 2019 stimmte das Parlament über ein Maßnahmenpaket ab, das unter anderem Ausbildungsprogramme für junge Arbeitslose und die Bereitstellung einer monatlichen Unterstützungsleistung für Familien unter der Armutsgrenze ermöglichen sollte. Der Ministerrat legte daraufhin ein zweites 13-Punkte-Paket vor, das sich unter anderem mit Subventionen und der Bereitstellung von Wohnraum für Arme befasste. Am 16. Oktober kündigte der Oberste Justizrat die Einrichtung eines zentralen Strafgerichtshofs zur Korruptionsbekämpfung an (UNAMI, Oktober 2019, S.9). Das Ministerium für Arbeit und Soziales hat seitdem damit begonnen, gewissen benachteiligten Familien monatliche Auszahlungen zukommen zu lassen (Baghdad Post, 20. Jänner 2020[xii]). Des Weiteren konnten keine Quellen gefunden werden, die über die Umsetzungen der oben genannten Regierungsvorhaben berichten.
Als Reaktion auf die hohe Zahl der Todesopfer stimmte Premierminister Adel Abdel Mahdi am 22. Oktober den Empfehlungen einer Untersuchung der Todesfälle zu. Dazu gehörten die Entlassung hochrangiger Sicherheitsbeamter (HRW, 27. Oktober 2019). Gleichzeitig setzte Mahdi am 26. Oktober die Streitkräfte des Anti-Terror-Dienstes des Landes auf den Straßen der Hauptstadt Bagdad und der südlichen Stadt Nasiriyah ein und befahl ihnen laut Reuters "alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen", um die Proteste zu beenden (RFE/RL, 27. Oktober 2019).
Am 29. November beugte sich Adel Abdel Mahdi dem innenpolitischen Druck sowie dem Wunsch der DemonstrantInnen und kündigte seinen Rücktritt als Ministerpräsident an (HRW, 2. Dezember 2019). Am 24. Dezember verabschiedete das irakische Parlament ein neues Wahlgesetz, doch ein neuer Premierminister war noch nicht gefunden worden (Reuters, 24. Dezember 2019[xiii]). Am 1. Februar wurde Mohammed Tawfiq Allawi, ein ehemaliger Kommunikationsminister, zum Premierminister ernannt (Al Jazeera, 1. Februar 2020).
Human Rights Watch berichtete am 31. Jänner von einer scheinbar koordinierten Kampagne der Behörden vom 25. bis zum 27. Jänner die Besetzung der zentralen Plätze in Bagdad, Basra und Nasiriya durch die DemonstrantInnen zu beenden. Die Zelte der DemonstrantInnen wurden in Brand gesetzt, scharfe Munition abgefeuert und Demonstrierende festgenommen (HRW, 31. Jänner 2020).
4. Angriffe gegen DemonstrantInnen und AktivistInnen: Zivile Tote und Verletzte
Die genaue Zahl der bei Protesten Getöteten und Verletzten ist unklar. Human Rights Watch berichtet, dass laut irakischem Gesundheitsministerium die Zahl der Todesopfer Mitte Dezember 511 Menschen erreicht habe (HRW, 16. Dezember 2019). Laut der irakischen Menschenrechtskommission wurden bis Ende Dezember mindestens 490 DemonstrantInnen getötet (ABC News, 28. Dezember 2019)[xiv]. Amnesty International geht mit 23. Jänner von mehr als 600 Menschen aus, die seit Oktober im Zusammenhang mit den Protesten ihr Leben verloren haben (AI, 23. Jänner 2020).
Wie von RFE berichtet setzte die Bereitschaftspolizei bereits am ersten Tag der Proteste Tränengas, Wasserwerfer und scharfe Munition ein, um die Menge auseinanderzutreiben (RFE/RL, 1. Oktober 2019). Laut UNAMI wurden Sicherheitskräfte - die sowohl dem Innenministerium als auch dem Verteidigungsministerium unterstehen - vom Nationalen Operationskommando beauftragt, die Demonstrationen in Schach zu halten. Zu den Sicherheitskräften gehören die Bereitschaftspolizei, Anti-Terror-Streitkräfte, Polizeispezialkräfte, die Bundespolizei, SWAT-Teams, der Facility Protection Service (FPS), die Police Rescue Force sowie Geheimdienstoffiziere und Einheiten, die für den Schutz in der ehemaligen Internationalen Zone zuständig sind. Es könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, welche Einheit welche Angriffe auf DemonstrantInnen durchgeführt habe, da es viele verschiedene Uniformen gebe und keine identifizierbaren Embleme benutzt worden seien. Mehrere Quellen führten mögliche Verstöße, einschließlich des Einsatzes scharfer Munition, auf bewaffnete Männer zurück, die als „schwarz gekleidet mit vermummten Gesichtern“ beschrieben wurden (UNAMI, Oktober 2019, S.3). UNAMI bezieht sich weiters auf eine Vielzahl glaubwürdiger und konsistenter Berichterstattungen, aus denen hervorging, dass unbekannte Scharfschützen von Dächern und aus leer stehenden Gebäuden gezielt auf unbewaffnete DemonstrantInnen schossen (UNAMI, Oktober 2019, S.5).
In Interviews mit Human Rights Watch am 10. Oktober berichten DemonstrantInnen, dass die Bereitschaftspolizei, SWAT-Teams, Geheimdienstoffiziere, Mitarbeiter der Police Tactical Support Unit (TSU), sowie Sicherheitspersonal der Badr Gruppierung (eine Untergruppe der Volksverteidigungskräfte (Popular Mobilization Forces, PMF) Angriffe gegen DemonstrantInnen durchgeführt hätten (HRW, 10. Oktober 2019).
UNAMI dokumentierte in der ersten Oktoberwoche Tote und Verletzte im Zusammenhang mit Demonstrationen in Bagdad sowie in den südlichen Provinzen Dhi-Qar, Diwaniya, Maysan, Wasit, Nadschaf und Babil (UNAMI, Oktober 2019, S. 4). Am 22. Oktober 2019 veröffentlichte die irakische Regierung die Ergebnisse der Ermittlungen zu Toten und Verletzten während der vorangegangen Proteste. Zwischen dem 1. und 9. Oktober 2019 wurden den Ermittlungen zufolge 157 Personen (inkl. acht Sicherheitskräfte) getötet und mehr als 3.000 Personen verletzt. Die zweite Phase der Protestwelle führte zu weiteren Todesfällen (BAMF, 28. Oktober 2019). Wie von OMCT berichtet wurde auch den gesamten November hindurch von Sicherheitskräften scharfe Munition gegen Demonstrierende, insbesondere in Bagdad, Basra, Nasiriyah und Nadschaf eingesetzt (OMCT, 3. Dezember 2019)[xv]. Laut einer Darstellung von ACLED verliefen Demonstrationen im Dezember generell friedlicher als in den Wochen davor, doch nahmen gezielte Tötungen und Fälle von Verschwindenlassen von AktivistInnen zu (ACLED, 18. Dezember 2019, S.1).
UNAMI erhielt übereinstimmende Berichte, wonach MenschenrechtsaktivistInnen explizite Warnungen und Morddrohungen erhielten, nicht an Demonstrationen teilzunehmen (UNAMI, Oktober 2019, S.8). Am 2. Oktober wurden der Aktivist und Karikaturist Hussein Adel Madani und seine Frau von unbekannten Angreifern in ihrer Wohnung in Basra erschossen. Lokalen Medienberichten zufolge sollen beide zuvor an Demonstrationen teilgenommen haben (BAMF, 7. Oktober 2019, S.4). Amnesty International berichtet weiters von Entführungen und von Fällen von Verschwindenlassen von AktivistInnen, darunter eines Anwalts, der DemonstrantInnen vertrat, sowie eines Arztes (AI, 18. Oktober 2019). OMCT dokumentierte im November eine weitere Entführung, sowie einen Mord an AktivistInnen (OMCT, 12. November 2019). Laut von Amnesty International geführten Interviews sollen in der ersten Dezemberhälfte mehrere DemonstrantInnen und AktivistInnen, meist auf dem Weg nach Hause von Protesten, gezielt entführt, angeschossen oder getötet worden sein (AI, 13. Dezember 2019).
Human Rights Watch berichtet nach Interviews mit MedizinerInnen im November, dass die irakischen Sicherheitskräfte seit Beginn der Protestwelle am 25. Oktober 2019 medizinische Mitarbeiter wegen der Behandlung von DemonstrantInnen angegriffen und mit Tränengas und scharfer Munition auf medizinische Mitarbeiter, Zelte und Krankenwagen geschossen hätten (HRW, 14. November 2019).
Eine Anzahl von Medien berichtete im Jänner 2020, dass die Angriffe gegen AktivistInnen fortgesetzt wurden, mit teils tödlichem Ausgang (Basnews, 14. Jänner 2020[xvi], RFE/RL, 18. Jänner 2020, Al-Monitor, 21. Jänner 2020) [xvii]. Amnesty International bestätigt Ende Jänner weiters den Einsatz von scharfer Munition und tödlichen Rauchgranaten gegen Demonstrierende. AktivistInnen waren außerdem Einschüchterungen, Verhaftungen und Folter ausgesetzt (AI, 23. Jänner 2020).
Anfang Februar entzog der einflussreiche schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr der Protestbewegung seine Unterstützung (Al Monitor, 3. Februar 2020). In Folge kam es zu Angriffen von Unterstützern des Klerikers auf Protestlager der DemonstrantInnen (NPR, 21. Februar 2020[xviii], Haaretz, 15. Februar 2020[xix]). Bei Zusammenstößen der zwei Gruppen wurden am 5. Februar im Nadschaf mindestens acht DemonstrantInnen getötet und mehr als 50 verletzt (RFE/RL, 6. Februar 2020). Aus Bagdad wurde berichtet, dass sich Anhänger Sadrs in Nachahmung der Friedenstruppen der Vereinten Nationen blaue Schirmmützen aufsetzten, Zelte durchsuchten, DemonstrantInnen aus ihren Hauptquartieren warfen und einige der DemonstrantInnen den irakischen Sicherheitskräften zur Festnahme übergaben (NPR, 21. Februar 2020). Laut UNAMI wurden am Abend des 14., 15. und 16. in Bagdad friedliche DemonstrantInnen mit „Jagdwaffen“ angegriffen, wobei mindestens 50 verletzt wurden (UNAMI, 17. Februar 2020). Berichten zufolge wurde am 23. Februar ein Demonstrant von Sicherheitskräften im Zentrum von Bagdad erschossen und mindestens sechs wurden verletzt (The Republic, 23. Februar 2020[xx]).
5. Angriffe gegen JournalistInnen und Medien
Reporter ohne Grenzen (RSF) und UNAMI berichten im Oktober 2019 von Verhaftungen, Einschüchterungen und Belästigungen von JournalistInnen (RSF, 4. Oktober 2019[xxi], UNAMI, Oktober 2019, S.7).
Am 5. Oktober dokumentierte UNAMI fünf Razzien bei Satellitenfernsehkanälen im Zentrum Bagdads, die sich mit den Demonstrationen befasst hatten. Mitarbeiter wurden von Männern in schwarzen Uniformen ohne Abzeichen und mit verhüllten Gesichtern angegriffen. Räumlichkeiten wurden untersucht, Festplatten und Computer gestohlen und Gebäude in Brand gesetzt (UNAMI, Oktober 2019, S.8). RSF nannte Al-Arabiya, Dijlah TV, NRT und Alghad TV als betroffene Fernsehsender (RSF, 8. Oktober 2019).
Die Regierung sperrte den Zugang zu sozialen Medien am Nachmittag des 2. Oktober, bevor sie die Internetverbindung vom 3. bis zum 9. Oktober vollständig blockierte (UNAMI, Oktober 2019, S.8). Human Rights Watch berichtet, dass der Internetzugang in weiterer Folge auch Anfang November größtenteils gesperrt war. Laut NetBlocks, einer unabhängigen internationalen Gruppierung, die Internetzugang überwacht, gehörten die Störungen im Irak zu den schwerwiegendsten, die im Jahr 2019 in einem Land beobachtet wurden (HRW, 10. November 2019).
Auch in der zweiten Phase der Protestwelle beobachtete UNAMI eine Fortsetzung der Bemühungen der Regierung, die Berichterstattung über die Demonstrationen zu unterdrücken, einschließlich Erklärungen, die möglicherweise als Einschüchterungsversuche gegenüber den Medien angesehen werden könnten, und einer anhaltenden Sperrung des Zugangs zu sozialen Medien. Am 25. und 26. Oktober berichteten lokale Medienbüros von Dijlah TV, Al Sharqiya News, NRT, Al-Arabiya, Al-Hadath sowie Al Hurra, dass sie suspendiert oder ihre Arbeit anderweitig unterbrochen wurde (UNAMI, November 2019, S.6).
Am 21. November 2019 veröffentlichte die Kommunikations- und Medienkommission, die staatliche Regulierungsbehörde für Medien im Irak, ein Schreiben, in dem die Schließung der folgenden Kanäle für drei Monate angeordnet wurde: Al-Arabiya Al-Hadath, NRT, ANB, Dijlah, Al-Sharqiya, Al-Falludscha, Al-Rasheed und Hona Bagdad, zusätzlich zur Verlängerung der Schließung von Al-Hurra um weitere drei Monate (OMCT, 3. Dezember 2019).
JournalistInnen, die über Demonstrationen berichteten, waren weiterhin dem Risiko von Verletzungen und Festnahmen ausgesetzt (UNAMI, November 2019, S.6). Laut einem Bericht der Press Freedom Advocacy Association wurden 33 JournalistInnen im Oktober 2019 von Mitgliedern unbekannter Milizen mit dem Tode bedroht (Rudaw, 1. November 2019)[xxii].
RSF berichtet außerdem von der Erschießung des Schriftstellers und Journalisten Amjed Al-Dahamat am 7. November, sowie der Entführung von Muhammad Al-Shamari, Mitglied des irakischen Observatoriums für Pressefreiheit (RSF, 22. November 2019). Am 10. Jänner 2020 wurden zwei weitere Journalisten, Ahmad Abdelsamad, ein Reporter des irakischen Fernsehsenders Dijlah TV, und sein Kameramann Safaa Ghali, in Basra von unbekannten bewaffneten Männern erschossen, nachdem sie über Anti-Regierungs-Proteste berichtet hatten (RSF, 11. Jänner 2020).
6. Angriffe auf Büros pro-iranischer Milizen vonseiten der DemonstrantInnen
Das Carnegie Middle East Center zitiert den Forscher Aymenn Jawad al-Tamimi, der aussagt, dass sich die antiiranische Stimmung der irakischen DemonstrantInnen unter anderem durch Brandanschläge auf Stützpunkte iranisch unterstützter Fraktionen innerhalb der Volksmobilisierungskräfte (PMF) wie Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr Organisation und Harakat al-Abdal in mehreren Provinzen Iraks Ausdruck verliehen habe (Carnegie Middle East Center, 14. November 2019[xxiii]). Am Wochenende vom 4. bis 5. Oktober setzten DemonstrantInnen zum Beispiel die Büros führender schiitischer islamistischer Parteien oder Milizen in Nasiriya (einschließlich Daawa, Hikma und Asai‘b Ahl al-Haq) in Brand (ICG, 10. Oktober 2019).
In Karbala griffen DemonstrantInnen am 3. November das iranische Konsulat an (RFE/RL, 4. November 2019). In Nadschaf setzten DemonstrantInnen drei Wochen später das iranische Konsulat der Stadt in Brand (BBC, 28. November 2019). Dasselbe Konsulat wurde am 1. Dezember ein weiteres Mal in Brand gesetzt (RFE/RL, 1. Dezember 2019).
Die mangelnde Reaktion der DemonstrantInnen auf die Tötung General Soleimanis schuf eine weitere Kluft zwischen DemonstrantInnen und PMF, die laut einer Zusammenstellung von ACLED im Jänner zu Gewaltakten der PMF gegen DemonstrantInnen und Angriffe der Protestierenden gegen PMF Büros führte (ACLED, 16. Jänner 2020). Laut Basnews setzten am 13. Jänner 2020 DemonstrantInnen in Karbala ein Hauptquartier der Badr-Organisation in Brand (Basnews, 14. Jänner 2020).
Quellen:
- ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research an Documentation (04.03.2020): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Aktuelle politische Entwicklungen – Protestlage, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025864.html, mwN, Zugriff 02.04.2020“
Kurzinformation der Staatendokumentation vom 30.10.2019:
„Die folgende Karte von liveuamap zeigt die Einteilung des Irak in offiziell von der irakischen Zentralregierung kontrollierte Gouvernements (in rosa), die autonome Region Kurdistan (KRI) (in gelb) und Gebiete unter der weitgehenden Kontrolle von Gruppen des Islamischen Staates (IS) (in grau). Die Symbole kennzeichnen dabei Orte und Arten von sicherheitsrelevanten Vorfällen, wie Luftschläge, Schusswechsel/-attentate, Sprengstoffanschläge/Explosionen, Granatbeschuss, u.v.m.
Quelle: Liveuamap - Live Universal Awareness Map (1.10.2019): Map of Iraq, https://iraq.liveuamap.com/en/time/01.10.2019, Zugriff 1.10.2019
Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (The Portal 9.10.2019).
Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 7.8.2019). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019). Der IS setzt nach wie vor auf Gewaltakte gegen Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter sowie beispielsweise auf Brandstiftung, um Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften zu entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung zu untergraben und soziale Spannungen zu verschärfen (ACLED 7.8.2019).
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 7.8.2019). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungseinheiten (PMF/PMU/Hashd al Shabi) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Am 7.7.2019 begann die „Operation Will of Victory“, an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilization Forces (PMF), Tribal Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der USgeführten Koalition teilnahmen (ACLED 7.8.2019; vgl. Military Times 7.7.2019). Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel (Diyaruna 7.10.2019; vgl. The Portal 9.10.2019). Die am 7. Juli begonnene erste Phase umfasste Anbar, Salah ad-Din und Ninewa (Military Times 7.7.2019). Phase zwei begann am 20. Juli und betraf die nördlichen Gebiete von Bagdad sowie die benachbarten Gebiete der Gouvernements Diyala, Salah ad-Din und Anbar (Rudaw 20.7.2019). Phase drei begann am 5. August und konzentrierte sich auf Gebiete in Diyala und Ninewa (Rudaw 11.8.2019). Phase vier begann am 24. August und betraf die Wüstenregionen von Anbar (Rudaw 24.8.2019). Phase fünf begann am 21.9.2019 und konzentrierte sich auf abgelegene Wüstenregionen zwischen den Gouvernements Kerbala, Najaf und Anbar, bis hin zur Grenze zu Saudi-Arabien (PressTV 21.9.2019). Eine sechste Phase wurde am 6. Oktober ausgerufen und umfasste Gebiete zwischen dem südwestlichen Salah ad-Din bis zum nördlichen Anbar und Ninewa (Diyaruna 7.10.2019).
Die folgende Grafik von Iraq Body Count (IBC) stellt die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar (IBC 9.2019).
Quelle: Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 15.10.2019
Die folgende Tabelle des IBC gibt die Zahlen der Todesopfer an. Für Juli 2019 sind 145 zivile Todesopfer im Irak ausgewiesen. Im August 2019 wurden von IBC 93 getötete Zivilisten im Irak dokumentiert und für September 151 (IBC 9.2019).
Quelle: Iraq Bodycount (9.2019): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 15.10.2019
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden für den Gesamtirak im Lauf des Monats Juli 2019 82 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 83 Tote und 119 Verletzten verzeichnet. 18 Tote gingen auf Leichenfunde von Opfern des IS im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der tatsächlichen gewaltsamen Todesfälle im Juli auf 65 reduziert werden kann. Es war der zweite Monat in Folge, in dem die Vorfallzahlen wieder zurückgingen. Dieser Rückgang wird einerseits auf eine großangelegte Militäraktion der Regierung in vier Gouvernements zurückgeführt [Anm.: „Operation Will of Victory“; Anbar, Salah ad Din, Ninewa und Diyala, siehe oben], wobei die Vorfallzahlen auch in Gouvernements zurückgingen, die nicht von der Offensive betroffen waren. Der Rückgang an sicherheitsrelevanten Vorfällen wird auch mit einem neuerlichen verstärkten Fokus des IS auf Syrien erklärt (Joel Wing 5.8.2019).
Im August 2019 verzeichnete Joel Wing 104 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 103 Toten und 141 Verletzten. Zehn Tote gingen auf Leichenfunde von Jesiden im Distrikt Sinjar im Gouvernement Ninewa zurück, wodurch die Zahl der Todesfälle im August auf 93 angepasst werden kann. Bei einem der Vorfälle handelte es sich um einen Angriff einer pro-iranischen PMF auf eine Sicherheitseinheit von British Petroleum (BP) im Rumaila Ölfeld bei Basra (Joel Wing 9.9.2019).
Im September 2019 wurden von Joel Wing für den Gesamtirak 123 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 122 Toten und 131 Verletzten registriert (Joel Wing 16.10.2019).
Seit 1. Oktober kam es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019; Standard 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Im Zuge dieser Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig, vom 2. bis zum 5. Oktober, wurde eine Ausgangssperre ausgerufen (Al Jazeera 5.10.2019; vgl. ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und eine Internetblockade vom 4. bis 7. Oktober implementiert (Net Blocks 3.10.2019; FAZ 3.10.2019; vgl. Rudaw 13.10.2019).
Nach einer kurzen Ruhephase gingen die gewaltsamen Proteste am 25. Oktober weiter und forderten bis zum 30. Oktober weitere 74 Menschenleben und 3.500 Verletzte (BBC News 30.10.2019). Insbesondere betroffen waren bzw. sind die Städte Bagdad, Nasiriyah, Hillah, Basra und Kerbala (BBC News 30.10.2019; vgl. Guardian 27.10.2019; Guardian 29.10.2019). Am 28. Oktober wurde eine neue Ausgangssperre über Bagdad verhängt, der sich jedoch tausende Demonstranten widersetzen (BBC 30.10.2019; vgl. Guardian 29.10.2019). Über 250 Personen wurden seit Ausbruch der Proteste am 1. Oktober bis zum 29. Oktober getötet (Guardian 29.10.2019) und mehr als 8.000 Personen verletzt (France24 28.10.2019).
BAGDAD
Der IS versucht weiterhin seine Aktivitäten in Bagdad zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Fast alle Aktivitäten des IS im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019). Im Juli gelang es dem IS zwei Selbstmordattentate im Gouvernement auszuführen, weswegen Bagdad die Opferstatistik des Irak in diesem Monat anführte (Joel Wing 5.8.2019). Sowohl am 7. als auch am 16. September wurden jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Während der Proteste im Südirak im Oktober 2019, von denen auch Bagdad betroffen war, stoppte der IS seine Angriffe im Gouvernement (Joel Wing 16.10.2019).
Im Juli 2019 wurden vom Irak-Experten Joel Wing im Gouvernement Bagdad 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 15 Toten und 27 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden 14 Vorfälle erfasst, mit neun Toten und elf Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verwundeten (Joel Wing 16.10.2019).
AUTONOME REGION KURDISTAN / KURDISCHE REGION IM IRAK
Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaimaniya attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Autonomen Region Kurdistan] bemannt war. Der Angriff erfolgte in drei Phasen: Auf einen Schussangriff folgte ein IED-Angriff gegen eintreffende Verstärkung, gefolgt von Mörserbeschuss. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert (Joel Wing 5.8.2019). Im August wurde in Sulaimaniya ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab (Joel Wing 9.9.2019).
Die am 27. Mai initiierte türkische „Operation Claw“ gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak hält an. Die erste Phase richtete sich gegen Stellungen in der Hakurk/Khakurk-Region im Gouvernement Erbil (Anadolu Agency 13.7.2019; vgl. Rudaw 13.7.2019). Die zweite Phase begann am 12. Juli und zielt auf die Zerstörung von Höhlen und Zufluchtsorten der PKK (Anadolu Agency 13.7.2019). Die türkischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Region Amadiya im Gouvernement Dohuk, von wo aus die PKK häufig operiert (ACLED 17.7.2019). Aktuell befindet sich die Operation in der dritten Phase (ACLED 4.9.2019).
Im Kreuzfeuer wurden in den vergangenen Wochen mehrere kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden (ACLED 4.9.2019; vgl. ACLED 7.8.2019).
Am 10. und 11. Juli bombardierte iranische Artillerie mutmaßliche PKK-Ziele im Subdistrikt Sidakan/Bradost im Gouvernement Sulaimaniya, wobei ein Kind getötet wurde (Al Monitor 12.7.2019). In dem Gebiet gibt es häufige Zusammenstöße zwischen iranischen Sicherheitskräften und iranisch-kurdischen Aufständischen, die ihren Sitz im Irak haben, wie die “Partei für ein Freies Leben in Kurdistan‘‘ (PJAK), die von Teheran beschuldigt wird, mit der PKK in Verbindungen zu stehen (Reuters 12.7.2019).
NORD- UND ZENTRALIRAK
In den sogenannten “umstrittenen Gebieten“, die sowohl von Bagdad als auch von der kurdischen Autonomieregion beansprucht werden, und wo es zu erhebliche Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen, durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Trotz der Zunahme der Sicherheitsvorfälle im gesamten Irak waren die Zahlen im Laufe des Monats August 2019 für den Zentral-Irak jedoch rückläufig (Joel Wing 9.9.2019).
Im Gouvernement Ninewa wurden im Juli 2019 sechs Vorfälle mit 24 Toten verzeichnet, wobei hier der Fund von 18 Leichen älteren Datums eingerechnet ist (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden neun Vorfälle mit 24 Toten und drei Verwundeten registriert (Joel Wing 9.9.2019). Im September wurden 22 Vorfälle mit 35 Toten und 27 Verletzten registriert, wobei bei fast allen diesen Vorfällen IEDs involviert waren. Außerdem wurde ein Mukhtar ermordet und Mossul mit Mörsergranaten beschossen (Joel Wing 16.10.2019).
Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019). Der IS ist stark in der Region vertreten und konnte seine operativen Fähigkeiten erhalten (Joel Wing 5.8.2019). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den rauen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.8.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019). Einerseits vertreibt der IS Zivilisten aus ländlichen Gebieten, um dort Basen zu errichten, anderseits greift er wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte an (Joel Wing 9.9.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala, konzentriert sich aber besonders auf die Bezirke Khanaqin und Jalawla im Nordosten, welche die Zentralregierung nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum von 2017 übernommen hat (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betreffen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gibt es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).
Für Juli 2019 verzeichnete Joel Wing im Gouvernement Diyala 28 sicherheitsrelevante Vorfälle mit elf Toten und 30 Verletzten (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden 41 Vorfälle – die höchste Anzahl seit August 2018, mit 21 Toten und 46 Verwundeten registriert (Joel Wing 9.9.2019) und im September 37 Vorfälle mit 21 Toten und 30 Verletzten (Joel Wing 16.10.2019). Im September schlug der IS in fast allen Distrikten des Gouvernements zu (Joel Wing 16.10.2019).
Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, kontinuierlich zurück. Im Juli gab es eine Reihe von Raketen- und Mörserangriffen auf Städte und Sicherheitskräfte, ansonsten handelte es ich bei den Vorfällen meist um Schießereien und den Einsatz von IEDs (Joel Wing 5.8.2019). Wie im benachbarten Diyala handelte es sich bei Vorfällen in Kirkuk meist um Schießereien, Angriffe auf Kontrollpunkte, Überfälle auf Städte und Vertreibungen aus ländlichen Gebieten, wobei sich der IS auf den Süden des Gouvernements konzentrierte. Unter anderem wurden eine Polizeistation und ein Armeestützpunkt angegriffen, sowie ein Polizeihauptquartier mit Mörsern beschossen (Joel Wing 16.10.2019).
Im Gouvernement Kirkuk wurden im Juli 2019 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit sechs Toten und 13 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019), im August 2019 19 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 34 Toten und 19 Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September 22 Vorfälle mit elf Toten und 19 Verletzten (Joel Wing 16.10.2019).
Im Gouvernement Salah ad-Din wurden im Juli 2019 acht Vorfälle mit zehn Toten und acht Verletzten registriert. Zu den Vorfällen zählten zwei Feuergefechte und ein Angriff auf einen Checkpoint (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurden sieben Vorfälle mit vier Toten und fünf Verwundeten verzeichnet (Joel Wing 9.9.2019) und im September zehn Vorfälle mit 13 Toten und zehn Verletzten (Joel Wing 16.10.2019).
Das Gouvernement Anbar, früher ein IS-Zentrum, wird nun hauptsächlich für den Transit von IS-Kämpfern zwischen dem Irak und Syrien genutzt (Joel Wing 16.10.2019). Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Anbar hat in den vergangenen Monaten stark fluktuiert (Joel Wing 5.8.2019).
Im Gouvernement Anbar wurden im Juli 2019 fünf sicherheitsrelevante Vorfälle mit neun Toten und 14 Verletzten registriert (Joel Wing 5.8.2019), im August 2019 waren es vier Vorfälle mit sechs Toten und neun Verwundeten (Joel Wing 9.9.2019) und im September vier Vorfälle mit 19 Toten (Joel Wing 16.10.2019).
SÜDIRAK
Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019).
Im Gouvernement Babil wurden im Juli 2019 drei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten und fünf Verletzten verzeichnet (Joel Wing 5.8.2019). Im August waren es acht Vorfälle mit fünf Toten und 48 Verletzten. Es handelt sich dabei um die höchste Zahl an Vorfällen seit Juni 2018. Darunter befand sich ein schwerer Angriff mit einer Motorradbombe (VBIED) auf einen Markt im Norden des Gouvernements (Joel Wing 9.9.2019). Im September waren es wieder drei Vorfälle mit einem Toten und fünf Verletzten (Joel Wing 16.10.2019).
Im Gouvernement Kerbala wurde im Juli ein Vorfall mit einem Toten und drei Verletzten verzeichnet. Es handelte sich dabei um den Einsatz einer Haftbombe an einem Auto (Joel Wing 5.8.2019). Im September wurde ein sicherheitsrelevanter Vorfall mit zwölf Toten und fünf Verletzten registriert (Joel Wing 16.10.2019). Hierbei wurde an einem Checkpoint im Norden von Kerbala Stadt eine Autobombe gezündet (Joel Wing 16.10.2019; vgl. VOA 21.9.2019). Von Sicherheitskräften entdeckte Waffenlager des IS weisen darauf hin, dass dieser über eine große Menge an Sprengmitteln verfügt (Joel Wing 16.10.2019).
In Basra wurde im August ein Vorfall ohne Opfer registriert. Es handelte sich dabei um eine gegen British Petroleum (BP) im Rumaila Ölfeld gerichtete IED (Joel Wing 9.9.2019). Demonstrationen gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und mangelnde Grundversorgung halten an, wobei iranisch unterstützte PMFs beschuldigt werden, sich an der Unterdrückung der Proteste zu beteiligen und Demonstranten und Menschenrechtsaktivisten anzugreifen (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).
Quellen:
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middleeast-2-october-2019/, Zugriff 7.10.2019
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (4.9.2019): Regional Overview – Middle East 4 September 2019, https://www.acleddata.com/2019/09/04/regional-overviewmiddle-east-4-september-2019/, Zugriff 2.10.2019
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (17.7.2019): Regional Overview – Middle East 17 July 2019, https://www.acleddata.com/2019/07/17/regional-overview-middleeast-17-july-2019/, Zugriff 2.10.2019
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- FAZ – Frankfurter Allgemei