TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/12 W207 2205378-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.08.2020
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Entscheidungsdatum

12.08.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W207 2205377-1/13E

W207 2205378-1/13E

W207 2205380-1/13E

W207 2205374-1/13E

W207 2222903-1/12E

Schriftliche Ausfertigung des am 29.06.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. mj. XXXX , geb. XXXX , 4. mj. XXXX , geb. XXXX , und 5. mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, die Minderjährigen vertreten durch den Vater XXXX (betreffend mj. XXXX und mj. XXXX ) bzw. die Mutter XXXX (betreffend mj. XXXX ), alle vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen die Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.08.2018, Zlen. 1101410508-160040465/BMI-BFA_SBG_AST_01 (1.), 1101410704-160040479/BMI-BFA_SBG_AST_01 (2.), 1101411102-160040517/BMI-BFA_SBG_AST_01 (3.), 1101411200-160040525/BMI-BFA_SBG_AST_01 (4.), und vom 17.07.2019, Zahl 1236071604-190657761/BMI-BFA_SBG_AST_01 (5.) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.06.2020 zu Recht erkannt:

A)

I. Den Beschwerden wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und 1. XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX , 4. XXXX und 5. XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

Die Beschwerdeführer reisten illegal nach Österreich ein und stellten – abgesehen vom am XXXX in Österreich nachgeborenen Fünftbeschwerdeführer ( XXXX ), für den am 01.07.2019 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde - am 09.01.2016 in Österreich jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 10.01.2016 fanden vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftlichen Erstbefragungen des Erstbeschwerdeführers ( XXXX ) und der Zweitbeschwerdeführerin ( XXXX ) statt. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer an, er sei am 01.01.1978 in der Provinz Ghazni in Afghanistan geboren worden. Er sei verheiratet und besitze die afghanische Staatsangehörigkeit. Er sei schiitischer Moslem und habe in Afghanistan zwei Jahre lang die Grundschule besucht, zuletzt habe er als Hilfsarbeiter gearbeitet. Er sei bereits einmal verheiratet gewesen und habe mit seiner ersten Frau zwei Kinder, nämlich den Dritt- und den Viertbeschwerdeführer ( XXXX und XXXX ). Er habe mit seiner Familie im Iran gelebt, seine damalige Frau habe jedoch vor drei Jahren im Iran Selbstmord begangen. Er sei daraufhin mit seinen beiden Söhnen nach Afghanistan zurückgekehrt, wo er seine neue Frau (die Zweitbeschwerdeführerin) geheiratet habe. Die Familie seiner Ex-Frau habe ihn aber in Afghanistan aufgespürt und habe ihm seine Söhne wegnehmen und ihn und seine nunmehrige Frau umbringen wollen, er sei ein paar Mal mit Glück entkommen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, dass die Familie seiner Ex-Frau ihnen etwas antun könnte. Seine Fluchtgründe würden auch für den Dritt- und den Viertbeschwerdeführer gelten. Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, sie sei am 01.01.1990 in der Provinz Ghazni in Afghanistan geboren worden. Sie sei verheiratet und besitze die afghanische Staatsangehörigkeit. Sie sei schiitischer Moslem und habe in Afghanistan eineinhalb Jahre lang die Grundschule besucht, zuletzt sei sie als Hausfrau tätig gewesen. In Afghanistan herrsche Krieg, die Taliban würden jeden Tag Menschen umbringen. Sie seien in Gefahr gewesen, daher habe der Erstbeschwerdeführer beschlossen, dass sie Afghanistan in Richtung Europa verlassen sollten. Sie habe Angst vor dem Krieg und den Taliban.

Am 16.03.2018 wurden die Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg (im Folgenden: BFA), im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen.

Im Rahmen der Einvernahme des Erstbeschwerdeführers wurde von ihm ein Konvolut an fremdsprachigen – und in der Folge einer Übersetzung in die deutsche Sprache zugeführten - Dokumenten vorgelegt. Dazu wurde vom Erstbeschwerdeführer ausgeführt, dass dies die gesamten Unterlagen betreffend das Verfahren aus dem Iran seien. Die erste Frau des Erstbeschwerdeführers habe sich im Jahr 2011 umgebracht und dies sei der Gerichtsakt aus dem Iran, dass er nicht schuldig sei. Er sei im Iran angeklagt (und auch in Untersuchungshaft genommen) worden, das Verfahren sei jedoch vom Gericht schließlich eingestellt worden. Die Verwandten seiner ersten Frau würden das aber nicht akzeptieren und würden nach wie vor davon ausgehen, dass der Erstbeschwerdeführer seine erste Frau umgebracht habe. Zu seiner Person führte der der Erstbeschwerdeführer an, er sei am XXXX (= XXXX ) in Ghazni in Afghanistan geboren worden. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei schiitischer Moslem. Er habe in Afghanistan eine Koranschule besucht, ab seinem 9.Lebensjahr habe er zu arbeiten begonnen. Am Anfang habe er als Hilfsarbeiter gearbeitet. Im Iran habe er etwa zehn Jahre lang als Asphaltierer beim Straßenbau gearbeitet, er sei auch als Schweißer tätig gewesen. Er sei bereits 1372 (= 1993) in den Iran gegangen. Er sei seit 1391 (=2012) das zweite Mal verheiratet, dies mit der Zweitbeschwerdeführerin. Es habe keine förmliche Hochzeit gegeben, da die Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan und er im Iran gewesen sei, sie seien telefonisch getraut worden. Die diesbezüglich vorgelegte Heiratsurkunde stamme aus Afghanistan. Die Zweibeschwerdeführerin sei XXXX (= XXXX ) geboren worden. Er habe sie durch seinen Bruder kennengelernt. Nach dem Tod seiner ersten Frau habe ihn sein Bruder aus Afghanistan im Iran angerufen und gesagt, dass er eine Witwe in Afghanistan kenne. Diese sei sehr nett; der Bruder habe wissen wollen, ob der Erstbeschwerdeführer sich für sie interessiere. Vor der Vermählung habe der Erstbeschwerdeführer mit der Zweitbeschwerdeführerin lediglich per Videochat kommuniziert. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst an, dass er Afghanistan aus Angst vor den Familienangehörigen seiner ersten Frau verlassen habe, welche auf der Suche nach ihm seien. Seine erste Frau habe sich 2011 im Iran umgebracht, dies sei auch gerichtsmedizinisch bestätigt worden. Ihre Familie würde ihn jedoch nach wie vor beschuldigen, dass er sie umgebracht habe bzw. schuld an ihrem Tod sei. Im Detail brachte der Erstbeschwerdeführer Folgendes vor (hier in anonymisierter Form wiedergegeben):

„Am XXXX .1390 (= XXXX .2011) hat sich meine erste Frau aufgehängt und so umgebracht. Das war im Iran in der Provinz X in der Stadt Y. Das war in der Nacht. Kurz bevor sie sich umgebracht hat, hat sie mich beschuldigt, dass ich mit anderen Frauen eine Beziehung hätte. Wir waren beim Abendessen nach der Arbeit und ich war müde. Wir diskutierten kurz und ich sagte zu ihr: „Denk was du willst“. Meine Kinder haben geschlafen. Nach einer kurzen Diskussion ging sie hinaus, nahm einen Sessel mit und schrie mich an. Ich wollte schlafen weil ich müde war. Kurz danach habe ich gemerkt, dass das Zimmer recht kalt ist und ich wollte die Klimaanlage anpassen. Ich ging in den Gang. Meine Frau war weder im Zimmer noch im Gang. Ich wollte daher kurz schauen ob sie im Hof ist. Als ich die Haustüre öffnen wollte merkte ich, dass diese zugesperrt ist. Dann bin ich zum Fenster gegangen und wollte schauen was los ist. Als ich aus dem Fenster schaute sah ich, dass sie sich aufgehängt hat. Unser Fenster hatte auch ein Insektenschutzgitter. Ich habe dieses kaputt gemacht, damit aus dem Fenster kam. Ich stieg in den Hof. Ihre Füße waren fast am Boden und Ihre Zehenspitzen erreichten fast den Boden. Ich dachte zuerst, dass sie einen Scherz macht. Ich ging zu Ihr und stützte sie. Dabei, urinierte sie auf meine Kleidung. Ich versuchte das Seil von ihrem Hals wegzutun, aber das war fest. Dann lief ich in das Haus und holte ein Messer um das Seil durchschneiden zu können. Als ich rein wollte sah ich, dass sie von außen die Tür versperrt hat. Ich ging rein, holte das Messer und weckte auch meinen Sohn Omid auf. Ich schnitt mit dem Messer das Seil. Als ich sie runterbrachte, versuchte ich sie wieder aufzuwecken, indem ich ihr mit der flachen Hand vorsichtig ins Gesicht schlug. Ich sah, dass das Seil bis ins Fleisch des Halses sich hineingeschnürt haben. Dann rief ich sofort die Rettung. Als die Rettungskräfte dort waren wurde festgestellt, dass sie schon tot sei. Dann habe ich die Polizei verständigt. Mehrere Einheiten sind gekommen. Die Eltern meiner ersten Frau lebten in Z und ich habe ihnen auch telefonisch bescheid gegeben. Ich habe ihre Schwester, Bruder, Eltern, alle verständigt, dass sie kommen sollen, weil der Vorfall passiert ist. Meine Kinder und ich sind alle zur Polizeiinspektion gegangen in der Nacht. Am nächsten Tag als die Familienangehörigen meiner Frau bei der Polizei waren haben mich alle als Mörder bezeichnet. Sie haben alle geschrien ich sei ein Mörder und hätte sie umgebracht. Dann sind wir zum Gericht gefahren. Ich habe auch meine Schwester verständigt, die jetzt in Australien lebt. Die war damals in I. Ich habe meine Kinder meiner Schwester übergeben. Das Gericht brachte mich zur Kriminalabteilung. Dort war ich ca. eine Woche. Sie haben mich geschlagen. Eine Woche ca. wurde ich dort gefoltert. Dann bin ich wieder zum Gericht gebracht worden. Sie haben beim Gericht dann gesagt, dass ich noch bei der Kriminalpolizei bleiben muss, weil die Leiche meiner Frau wegen der Gerichtsmedizin nach Teheran geschickt werden muss. Die ersten Untersuchungen waren schon da. Mir wurde mitgeteilt, dass meine Frau sich aufgehängt hat. Aber es müssten noch andere Untersuchungen gemacht werden. Der Richter sagte, dass ich nur freigelassen würde, wenn ich 100.000.000 Toman als Kaution hinterlegen würde, sonst würde ich in Haft bleiben. Ich konnte das nicht zahlen und wurde ins Gefängnis gebracht. Am 09.09.1390 (= 30.11.2011) war das Ergebnis der Gerichtsmedizin da. Ich wurde auch an diesem Tag vom Gefängnis freigelassen.

Als ich freigelassen wurde haben die Probleme angefangen.

Ca. einen Monat danach, hat mich der Richter wieder kontaktiert und gesagt, dass ich von der Familie wieder angezeigt wurde, weil ich noch für sie verdächtig wäre. Der Richter sagte auch, dass ich im Iran bleiben muss, weil die Anzeige durch einen Rechtsanwalt gemacht wurde. Dann wurde das Verfahren vom Gericht wieder eingestellt, weil meine Unschuld festgestellt wurde. Am 10. Monat des Jahres 1392 (= Dezember 2013) um ca. 10 Uhr in der Nacht wurde ich von vier Personen auf dem Heimweg von der Arbeit angehalten und geschlagen. Sie waren mit Messer und lange Messer bewaffnet. Ich wurde von denen geschlagen und schwer verletzt. Sie sagten zu mir, dass wenn ich auch vom Gericht 100 Mal freigesprochen wurde, würden sie mich nicht am Leben lassen. Sie haben mich aufgefordert, dass mein Vater meine Kinder nach Z zu der Familie meiner verstorbenen Frau bringen soll und dann würde ich umgebracht werden. Ich wurde auch aufgefordert nichts von dem Gespräch meinem Vater zu sagen. Ich habe meinen Vater angerufen, aber er war nicht erreichbar. Sie haben dann gesagt ich muss meinem Vater ein SMS schicken. Ich habe zu denen gesagt, dass mein Vater und meine Mutter Analphabeten sind und das nicht lesen können. Ich habe ihnen vorgeschlagen, dass sie mit mir nach Hause kommen können. Ich übergebe die Kinder selber und sie können die Kinder mitnehmen. Dann haben sie damit angefangen mich zu schlagen. Ich war überall blutig. Ich war bewusstlos und sie waren weg. Als ich wieder wach war lag ich auf dem Boden. Ich rief einen Arbeitskollegen an. Dieser Freund hat mir geholfen und der brachte mich zu einem afghanischen Arzt in Teheran.

Dieser afghanische Arzt war auch mein Bekannter. Ich war ca. 15-16 Tage bei ihm aufhältig. Als ich wieder geheilt war, ging ich zu meinen Eltern nach I. O. und A. waren bei meinen Eltern. Ich habe zu meinen Eltern gesagt, dass beide nicht in die Schule geschickt werden dürfen. Ich habe mich auch immer versteckt gehalten. Ich war an der Grenze zum Irak, ich war überall.

1394 (=2015) musste ich nach Afghanistan zurückkehren weil ich keine andere Wahl hatte. Ich war bei meiner zweiten Frau ca. drei Wochen in Afghanistan. Mein Bruder hat mir mitgeteilt, dass die Familie meiner ersten Frau bei ihm war und nach mir und meine Kinder fragte. Sie fragten nach meiner Adresse. Sie sagten, dass sie auch wüssten, dass ich nach Afghanistan zurückgekehrt wäre. Mein Bruder sagte zu mir, dass er selber eine Familie hat uns selber Angst hat, weil die Familienangehörigen meiner ersten Frau ca. 3 Mal an einem Tag bei ihm waren und nach mir fragten. Dann habe ich sofort Afghanistan verlassen und bin nach Europa ausgereist.

[…..]

LA: Haben Sie sich im Iran an die Polizei gewandt, nachdem Sie geschlagen und mit dem Umbringen bedroht wurden?

VP: Nein.

LA: Warum nicht?

VP: Ich hatte Angst vor denen.

LA: Aber das Gericht hat Ihre Unschuld festgestellt.

VP: Die Angreifer haben mich bedroht und haben gesagt, dass ich nirgend darüber sprechen darf. Ich wollte denen nicht im Gericht begegnen.

LA: Sie hatten im Iran ein Problem, obwohl das dortige Gericht Ihre Unschuld festgestellt hat. Sie gehen nicht zur Polizei um Ihr Problem zu lösen und flüchten lieber nach Europa das ist nicht nachvollziehbar!

VP: Ich bin deswegen nicht zur Polizei gegangen, dass sie denken ich würde nicht mehr leben.

LA: Wer von der Familie Ihrer ersten Frau bedrohte Sie konkret im Iran?

VP: Ihr Bruder, Ihr Onkel mütterlicherseits und zwei Andere. Die mich geschlagen und angegriffen haben.

LA: Wann wurden Sie in Afghanistan persönlich bedroht?

VP: Mein Bruder hat es mir mitgeteilt, dass er sehr unter Druck ist wegen mir. Und dass sie nach mir fragen.

LA: Welcher Bruder?

VP: G.

[…..]

LA: Erklären Sie mir wie die Familie Ihrer ersten Frau die in D. beheimatet ist innerhalb von so kurzer Zeit davon erfuhr, dass Sie in G. (Anmerkung: an einem näher genannten Ort in Afghanistan) sind?

VP: Sie waren miteinander im Kontakt.

LA: Ja und?

VP: Mein Vater wurde unter Druck gesetzt und hat gesagt, dass ich Afghanistan bin.

LA: Und was ist wenn Ihr Vater jetzt sagt, dass Sie jetzt in Österreich sind?

VP: In Österreich herrschen Gesetze und es gibt die Polizei.

LA: Aber sie wenden sich ja sowieso nicht an die Polizei. So haben Sie sich ja auch im Iran und in Afghanistan nicht an die Polizei gewandt!

VP: Im Iran dachte ich wenn ich nicht zur Polizei gehe, dann glauben die anderen ich sei tot. Und im Afghanistan hört die Polizei einer normalen Person nicht zu, außer wenn man Schmiergeld zahlt. Dann kann man etwas unternehmen.

LA: Ich glaube Ihnen bis jetzt nur alles was Sie vom Iran vorgebracht haben. Das was Afghanistan jedoch bis jetzt nicht. Was sagen Sie dazu?

VP: Ich bin nicht wegen meiner Frau in den Iran gegangen. Ich hätte meine Frau auch legal in den Iran bringen können. Dann hätte ich meine Kinder nicht in Afghanistan in Gefahr gebracht.

LA: Warum sind Sie nach Afghanistan gegangen?

VP: Ich hatte Angst um meine Kinder. Sie konnten dort nicht die Schule besuchen. Ich hatte Angst, dass Sie von der Familie von meiner ersten Frau mitgenommen werden.

LA: Wie war das Verhältnis mit ihren Schwiegereltern bis zum Tod Ihrer Eltern?

VP: Sehr gut. Wir haben uns gegenseitig besucht. Wir hatten ein gutes Verhältnis mit den Schwiegereltern, den Schwestern und Brüder meiner Frau.

LA: Woher wussten die Familienangehörigen Ihrer ersten Frau wo Ihr Bruder G. wohnt?

VP: Wir hatten ein gutes Verhältnis und mein Bruder hat die Familienteile meiner ersten Frau besucht.

LA: Warum haben Sie keine traditionelle Form der Streitschlichtung wie z.B. eine Jirga versucht oder sind zum Dorfältesten (Malek) gegangen?

VP: Sie haben mich als Mörder bezeichnet. Auch meine eigene Familie hat den Zeigefinger auf mich gerichtet und gesagt ich sei ein Mörder.

LA:      Warum sind Sie dann nach G. gegangen, wenn dort Ihre eigenen

Familienangehörigen auch ihnen nicht wohlgesonnen waren?

VP: Ich musste nach G., weil im Iran ich nicht bleiben konnte.“

Im Rahmen der Einvernahme des Erstbeschwerdeführers wurden ein Unterstützungsschreiben, eine Anmeldebestätigung zu einem ÖIF Werte- und Orientierungskurs, mehrere Deutschkursteilnahmebestätigungen, ÖSD Zertifikate A1 vom 18.01.2017 und 29.06.2017 (nicht bestanden) sowie Schulunterlagen betreffend seine beiden Söhne, den Dritt- und den Viertbeschwerdeführer, vorgelegt. Auch wurden das bereits erwähnte Konvolut an Unterlagen aus dem Iran sowie die bereits erwähnte Heiratsurkunde vorgelegt. Diese fremdsprachigen Unterlagen wurden in weiterer Folge vom BFA einer Übersetzung zugeführt und befinden sich in deutscher Sprache im Verwaltungsakt.

Die Zweitbeschwerdeführerin brachte bei ihrer Einvernahme vor dem BFA vor, sie sei am XXXX (= XXXX ) in Ghazni in Afghanistan geboren worden. Sie sei verheiratet, der Dritt- und der Viertbeschwerdeführer seien nicht ihre leiblichen Kinder. Sie habe zwei leibliche Töchter, diese würden in Afghanistan leben. Sie und der Erstbeschwerdeführer seien am 02.11.1391 (=21.01.2013) getraut worden, es habe keine Hochzeit gegeben. Tatsächlich sei sie mit dem Beschwerdeführer seit 1394 (=2015) zusammen. Vor der Ehe habe sie den Erstbeschwerdeführer nur über das Internet gesehen, die Ehe sei vom Bruder des Erstbeschwerdeführers arrangiert worden. Sie sei mit dem Erstbeschwerdeführer als Ehemann zufrieden. Ihre Töchter habe sie nach dem Eingehen der Ehe mit dem Erstbeschwerdeführer verloren, sie habe seit fünf Jahren nichts mehr von ihnen gehört. Sie habe in Afghanistan eineinhalb Jahre lang die Schule besucht, sie habe zuhause und in der Landwirtschaft gearbeitet. Ihr Exmann sei an Krebs gestorben. Nach dessen Tod habe sein drogenabhängiger Bruder sie heiraten wollen. Mit diesem habe es immer wieder schlimme Vorfälle gegeben, sie sei auch von ihm verletzt worden. Als eines Tages ihr Vater zu Besuch gewesen sei, habe der Bruder gesagt, dass ihr Vater sie mitnehmen solle. Sie dürfe ihre Töchter nicht mitnehmen, da diese ihrem toten Exmann gehören würden. Schließlich habe er zu ihr gesagt, dass er sie, wenn sie einen anderen Mann heiraten sollte, umbringen würde. Schließlich habe sie jedoch die Ehe mit dem Erstbeschwerdeführer akzeptiert, da dieser im Iran gewesen sei und sie gedacht habe, dass er sie nachholen könne. Dies habe er jedoch zweieinhalb Jahre lang nicht getan, nach einiger Zeit sei er mit seinen Kindern nach Afghanistan gekommen. Schließlich seien sie zusammen nach Europa gereist, von den Problemen mit der Familie seiner verstorbenen Frau habe er ihr erst hier in Österreich erzählt. Sie gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei schiitischer Moslem. Im Rahmen der Einvernahme der Zweitbeschwerdeführerin wurden eine ÖIF Anmeldebestätigung Werte- und Orientierungskurs, ein ÖSD Zertifikat A1 vom 19.12.2017 (bestanden) und Deutschkursteilnahmebestätigungen vorgelegt.

Am 20.07.2018 langte eine Stellungnahme der damaligen Rechtsvertretung der Beschwerdeführer bei der belangten Behörde ein. Im Rahmen dieser Stellungnahme wurden eine Deutschkursteilnahmebestätigung der Zweitbeschwerdeführerin, Teilnahmebestätigungen an einem Werte- und Orientierungskurs des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin, zwei Empfehlungsschreiben sowie Schulunterlagen des Dritt- und des Viertbeschwerdeführers vorgelegt.

Im Verwaltungsakt befindet sich eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Afghanistan zum Thema „Heirat via Telefon“ vom 08.04.2010.

Das BFA wies die Anträge des Erst-, der Zweit-, des Dritt- und des Viertbeschwerdeführers auf internationalen Schutz mit den Bescheiden vom 07.08.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I.), gab aber den Anträgen bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG statt (Spruchpunkte II.) und erteilte den Beschwerdeführern eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 06.08.2019 (Spruchpunkte III.).

Gegen die Spruchpunkte I. dieser Bescheide wurden von den Beschwerdeführern im Wege ihrer nunmehrigen Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerden erhoben.

Die gegenständlichen Beschwerden und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 05.09.2018 vom BFA vorgelegt.

Am XXXX wurde der gemeinsame Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin (der Fünftbeschwerdeführer) in Österreich geboren; für diesen wurde am 01.07.2019 von seiner Mutter ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Am 09.07.2019 wurden im Wege der Rechtsvertretung der Beschwerdeführer folgende Unterlagen vorgelegt: Ein Entlassungsbrief eines näher genannten Krankenhauses betreffend die Geburt des Fünftbeschwerdeführers, ein Auszug aus dem Geburtenbuch des Fünftbeschwerdeführers, eine Beurkundung der Vaterschaft, eine Aufenthaltsberechtigungskarte des Fünftbeschwerdeführers, ZMR-Auszüge aller Beschwerdeführer, die Geburtsurkunde des Fünftbeschwerdeführers, eine Schulbesuchsbestätigung des Drittbeschwerdeführers, ein Zeugnis zur Integrationsprüfung A1 (bestanden) des Erstbeschwerdeführers sowie ein Zeugnis zur Integrationsprüfung A2 (Nicht bestanden) der Zweitbeschwerdeführerin.

Das BFA wies den Antrag des Fünftbeschwerdeführers (vertreten durch die Zweitbeschwerdeführerin) auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 17.07.2019 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), gab aber dem Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG statt (Spruchpunkt II.) und erteilte dem Fünftbeschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 06.08.2019 (Spruchpunkt III.).

Gegen diesen Bescheid wurde vom Fünftbeschwerdeführer (vertreten durch die Zweitbeschwerdeführerin) im Wege ihrer Rechtsvertretung fristgerecht eine Beschwerde erhoben.

Diese Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 21.08.2019 vom BFA vorgelegt.

Am 12.05.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Abschluss-Bericht der Polizei vom 21.04.2020 betreffend den Drittbeschwerdeführer ein.

Am 29.06.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher die fünf Beschwerdeführer und deren Rechtsvertretung sowie ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an dieser mündlichen Verhandlung hingegen nicht teil.

In dieser mündlichen Verhandlung wurden der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer eingehend zu ihren Fluchtgründen befragt. Darüber hinaus wurden sie zu ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und im Iran befragt. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde ausführlich zu ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise im Hinblick auf das in Europa mehrheitlich gelebte Frauen- und Gesellschaftsbild und zur Frage, inwiefern sie ihre Identität bzw. Lebensweise in Afghanistan nach der dortigen konservativ-afghanischen Tradition, insbesondere nach der dortigen Geschlechterordnung, unterdrücken könnte oder müsste, befragt.

Nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 29.06.2020 wurde die Erkenntnisse (als Sammelerkenntnis) verkündet. Den Beschwerden gegen die Bescheide des BFA vom 07.08.2018 und 17.07.2019 wurde gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und den Beschwerdeführern gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Die Verhandlungsschrift, beinhaltend die verkündeten Erkenntnisse, wurde dem BFA am 30.06.2020 zugestellt.

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 02.07.2020 wurde gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG um eine schriftliche Entscheidungsausfertigung der mündlich verkündeten Erkenntnisse ersucht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Zweitbeschwerdeführerin führt den im Spruch genannten Namen, wurde am XXXX geboren, ist afghanische Staatsbürgerin, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Afghanistan geboren und aufgewachsen. Sie war in Afghanistan bereits verheiratet, ihr Ehemann ist aber in Afghanistan an Krebs verstorben. Aus dieser Ehe resultierten zwei Töchter, die aber der Zweitbeschwerdeführerin von der Familie des verstorbenen Ehemannes weggenommen wurden und bei ihren ehemaligen Schwiegereltern in Afghanistan leben.

Die verwitwete Zweitbeschwerdeführerin heiratete in der Folge am 21.01.2013 den ebenfalls verwitweten Erstbeschwerdeführer per Telefon – sie war in Afghanistan, er im Iran – traditionell nach muslimischen Ritus; zu diesem Zeitpunkt kannten sich der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin noch nicht persönlich, sondern lediglich über das Internet (via Videochat). Diese telefonisch erfolgte Eheschließung wurde von einem Mullah urkundlich bestätigt, aber nicht staatlich registriert.

Der Erstbeschwerdeführer - welcher den im Spruch genannten Namen führt, am XXXX geboren wurde, die afghanische Staatsbürgerschaft besitzt, der Volksgruppe der Hazara angehört und sich zum schiitisch-muslimischen Glauben bekennt - war seinerseits bereits mit einer anderen Frau verheiratet und lebte mit dieser mit den zwei gemeinsamen minderjährigen Söhnen, dem Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer, im Iran; die erste Ehefrau des Erstbeschwerdeführers nahm sich jedoch im Iran im Oktober des Jahres 2011 durch Erhängen das Leben. Das in diesem Zusammenhang gegen den Erstbeschwerdeführer im Iran geführte gerichtliche Strafverfahren wurde eingestellt, da sich keine Hinweise ergaben, dass es sich um Fremdverschulden bzw. um Mord und nicht um Selbstmord gehandelt hätte.

Dies wurde von den Verwandten der ersten Frau des Erstbeschwerdeführers aber nicht akzeptiert; diese gingen davon aus, dass der Erstbeschwerdeführer seine erste Frau umgebracht habe bzw. jedenfalls die Schuld am Tod seiner Frau trage. Der Erstbeschwerdeführer wurde von der Familie seiner verstorbenen Frau als Mörder bezeichnet und in der Folge mit dem Tod bedroht. So wurde er im Dezember 2013 um ca. 22.00 Uhr in der Nacht von vier mit Messern bewaffneten Personen – dem Bruder der verstorbenen Ehefrau, ihrem Onkel mütterlicherseits und zwei weiteren Personen - auf dem Heimweg von der Arbeit angehalten und geschlagen und verletzt. Diese teilten ihm mit, auch wenn er vom Gericht 100 Mal freigesprochen werde, würden sie ihn nicht am Leben lassen. Der Erstbeschwerdeführer wurde aufgefordert, zu veranlassen, dass seine beiden Söhne zur Familie seiner verstorbenen Frau gebracht werden, dann würde er umgebracht werden. Danach wurde er bewusstlos geschlagen. Der Erstbeschwerdeführer hielt sich in der Folge versteckt, seine beiden Söhne (der Dritt- und der Viertbeschwerdeführer) hielten sich bei den Eltern des Erstbeschwerdeführers auf, durften aber wegen der Gefährdung nicht die Schule besuchen. Im Jahr 2015 kehrte der Erstbeschwerdeführer schließlich mit seinen beiden Söhnen nach Afghanistan zurück und war bei der Zweitbeschwerdeführerin ca. drei Wochen in Afghanistan aufhältig. Sein Bruder teilte ihm mit, dass Angehörige der Familie der verstorbenen ersten Frau drei Mal an einem Tag bei ihm waren und nach dem Erstbeschwerdeführer und seinen Kindern fragten. Sein Bruder teilte ihm mit, dass er selber eine Familie habe und selber Angst habe; der Erstbeschwerdeführer verließ in der Folge Afghanistan mit der Zweitbeschwerdeführerin und den minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführern und reiste nach Europa.

Der Erstbeschwerdeführer wird von den Familienangehörigen seiner verstorbenen Frau gesucht, weil diese ihm die Schuld am Tod seiner Ehefrau zuschreiben und daher an ihm nach dem Prinzip „Blut um Blut“ Rache üben wollen. Was die Söhne des Erstbeschwerdeführers – also den Dritt- und den Viertbeschwerdeführer - betrifft, so wollen die Familienangehörigen der verstorbenen Mutter diese Minderjährigen in die Familie der verstorbenen Mutter übernehmen und eingliedern, weil sie das Obsorgerecht für sich in Anspruch nehmen und den Dritt- und den Viertbeschwerdeführer nicht dem Erstbeschwerdeführer, dem die Schuld am Tod der Ehefrau bzw. Mutter zugeschrieben wird, überlassen wollen.

Der Drittbeschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen und das im Spruch angeführte Geburtsdatum, ist afghanischer Staatsbürger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Der Drittbeschwerdeführer ist im Iran geboren und bis zur Ausreise nach Europa dort aufgewachsen. Der Viertbeschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen und das im Spruch angeführte Geburtsdatum, ist afghanischer Staatsbürger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Der Viertbeschwerdeführer ist im Iran geboren und bis zur Ausreise nach Europa dort aufgewachsen.

Am XXXX wurde in Österreich der gemeinsame Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, der Fünftbeschwerdeführer, geboren; für diesen wurde am 01.07.2019 in Österreich ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Beim Fünftbeschwerdeführer handelt es sich daher um ein zum Zeitpunkt der Antragstellung gemeinsames minderjähriges Kind des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Der Dritt- und der Viertbeschwerdeführer sind die Kinder des Erstbeschwerdeführers und Halbgeschwister des Fünftbeschwerdeführers; die Zweitbeschwerdeführerin ist die Stiefmutter des Dritt- und des Viertbeschwerdeführers.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist ebenso wie die die übrigen Beschwerdeführer – dies gilt auch für den Drittbeschwerdeführer - in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Die Beschwerdeführer reisten illegal in Österreich ein und stellten – abgesehen vom in Österreich nachgeborenen Fünftbeschwerdeführer, für den am 01.07.2019 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde - am 09.01.2016 in Österreich jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist eine Frau, welche in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die Zweitbeschwerdeführerin lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht mehr vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition, insbesondere nach der dortigen Geschlechterordnung zu leben. Es handelt sich bei der Zweitbeschwerdeführerin um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.

Die Zweitbeschwerdeführerin hat sich aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich in einem länger währenden Entwicklungsprozess, insbesondere seit Zuerkennung des subsidiären Schutzes durch die belangte Behörde, was der Zweitbeschwerdeführerin Stabilität und Sicherheit gab, an eine Lebensführung ohne religiös-motivierte Einschränkungen angepasst bzw. gewöhnt, was sich nicht nur in der Kleidung, sondern – und das ist insbesondere entscheidungswesentlich – vor allem in ihrer Einstellung widerspiegelt. Sie entscheidet selbst, wie sie sich kleiden will. Die Zweitbeschwerdeführerin hat die einem allgemein als „westlich“ bezeichneten Gesellschaftsbild zugrundeliegenden Werte mittlerweile in identitätsprägender Weise verinnerlicht und lebt auch danach. So ist sie eine Frau, die in Österreich alleine außer Haus geht, sich mit österreichischen Freundinnen trifft, sich ohne Orientierung an die traditionellen Kleidungsvorschriften ihres Herkunftsstaates, sondern nach ihrem eigenen Willen kleidet, und beabsichtigt, in Österreich eine berufliche Selbstständigkeit zu erlangen. Die Deutschkenntnisse, welche die Zweitbeschwerdeführerin bisher erworben hat, ermöglichen ihr, wenngleich noch mit Einschränkungen, weitgehend ungehindert in Österreich zu kommunizieren. Die Zweitbeschwerdeführerin strebt es an, einen Beruf zu ergreifen, wobei sie vor Augen hat, in der Gastronomie arbeiten zu wollen, was gemessen an ihrem derzeitigen Bildungsstand mittel- bis längerfristig realisierbar scheint. Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigt bei der Beurteilung der vorhandenen, aber noch nicht sehr guten Deutschkenntnisse, der Berufswünsche bzw. der diesbezüglich gesetzten Schritte auch den Umstand, dass die Zweitbeschwerdeführerin als (Stief)Mutter von drei Kindern – insbesondere auch unter Berücksichtigung des am 01.07.2019 in Österreich geborenen Fünftbeschwerdeführer, bei dem es sich um ein gemeinsames minderjähriges Kind des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin handelt – Einschränkungen in ihren persönlichen Möglichkeiten des Setzens integrationsbegründender Schritte unterliegt. Die Zweitbeschwerdeführerin trifft alltägliche Entscheidungen selbst, wiewohl sie sich bei wichtigen Entscheidungen mit ihrem Partner abstimmt. Auch bezüglich der Ausbildung der Kinder legt die Zweitbeschwerdeführerin Engagement an den Tag und liegt ihr die Schulbildung der Kinder am Herzen. Auch für die Kinder wünscht sich die Zweitbeschwerdeführerin ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben.

Die von der Zweitbeschwerdeführerin gelebte Lebensweise ist bereits Teil ihrer Identität geworden. Die Zweitbeschwerdeführerin ist als eine Frau anzusehen, die in einer Weise lebt, die nicht mit den traditionellen, konservativen Ansichten betreffend die Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft und damit nicht mit den im Herkunftsstaat geltenden Geschlechternormen übereinstimmt. Es ist daher davon auszugehen, dass eine Ablehnung der konservativ-islamischen Wertvorstellungen der Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres Aufenthaltes im Ausland und ihre Anpassung an das hier bestehende Gesellschaftssystem zumindest unterstellt werden würde und dass sie längerfristig auch nicht in der Lage wäre, ihre nunmehr westlich orientierten Wertvorstellungen auf Dauer zu verbergen.

Im gesamten Verfahren sind keine Gründe zu Tage getreten, welche die Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausschließen würden.

Zur Lage in Afghanistan werden im auf die Frage der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten beschränkten Beschwerdegegenstand nachfolgende Feststellungen getroffen:

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

Frauen

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 2.9.2019). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018; vgl. AF 13.12.2017).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (BFA 4.2018; vgl. AA 2.9.2019), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 2.9.2019).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (BFA 13.6.2019).

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. BFA 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen – beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken – zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen (BFA 4.2018; vgl. UNAMA 24.12.2017).

Seit dem Fall der Taliban wurden mehrere legislative und institutionelle Fortschritte beim Schutz der Frauenrechte erzielt; als Beispiele wurden der bereits erwähnte Artikel 22 in der afghanischen Verfassung (2004) genannt, sowie auch Artikel 83 und 84, die Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 3.4.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das „Gender Equality Project“ der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen (Najimi 2018).

Im Zuge der Friedensverhandlungen (siehe Abschnitt Fehler: Verweis nicht gefunden) bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (TN 31.5.2019; vgl. Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (BFA 13.6.2019).

Ein

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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