TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/21 W152 2152323-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.08.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

21.08.2020

Norm

AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §58
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §16
VwGVG §28
VwGVG §35

Spruch

W152 2152320-1/11E
W152 2152323-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Walter KOPP über die Beschwerden von 1. XXXX vormals XXXX , geb. XXXX , StA. Mongolei nunmehr (auch) Nigeria, und 2. XXXX vormals XXXX , geb. XXXX , StA. Mongolei, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 13.03.2017, Zlen. 1002040110-14123085 (ad 1.) und 1002040001-14123072 (ad 2.), und nach Übergang der Entscheidungspflicht infolge der Beschwerde der Zweitbeschwerdeführerin wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Säumnisbeschwerde) vom 17.09.2015 über ihren am 29.01.2014 gestellten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.07.2020 zu Recht erkannt:

A)

1.) Der Beschwerde des Erstbeschwerdeführers gegen Spruchpunkt I seines angefochtenen Bescheides und dem Antrag der Zweitbeschwerdeführerin auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK wird stattgegeben und XXXX vormals XXXX gemäß §§ 54, 55 und 58 AsylG 2005 iVm § 81 Abs. 36 NAG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ und XXXX vormals XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ erteilt.

2.) Die Spruchpunkte II und III des angefochtenen Bescheides des Erstbeschwerdeführers werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.

3.) Der angefochtene Bescheid der Zweitbeschwerdeführerin wird gemäß §§ 16 und 28 VwGVG behoben.

4.) Die Säumnisbeschwerde der Zweitbeschwerdeführerin vom 09.01.2017 wird gemäß § 16 VwGVG als unzulässig zurückgewiesen.

5.) Den gemäß § 35 VwGVG gestellten Anträgen auf Kostenersatz war nicht stattzugeben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stellten jeweils am 29.01.2014 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK („Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens“).

Mit Schriftsatz vom 17.09.2015 wurde eine Säumnisbeschwerde (Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl) der Zweitbeschwerdeführerin, die ausschließlich ihr Verfahren und nicht jenes des Erstbeschwerdeführers betraf, beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 17.09.2015 eingebracht.

Am 13.10.2015 erfolgte eine Einvernahme der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, zu den oben genannten Anträgen.

Mit Schriftsatz vom 09.01.2017 wurde eine weitere Säumnisbeschwerde der Zweitbeschwerdeführerin, die abermals ausschließlich ihr Verfahren und nicht jenes des Erstbeschwerdeführers betraf, beim Bundesamt eingebracht.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, wies mit den im Spruch genannten Bescheiden jeweils im Spruchpunkt I die Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 ab, wobei im Rahmen des genannten Spruchpunktes jeweils gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Antragsteller eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen wurde. Weiters wurde jeweils im Spruchpunkt II gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Mongolei zulässig sei. Schließlich wurde jeweils im Spruchpunkt III ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Gegen diese Bescheide, die jeweils am 20.07.2017 rechtswirksam zugestellt wurden, wurde jeweils fristgerecht Beschwerde erhoben.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Feststellungen (Sachverhalt):

Der Erstbeschwerdeführer wurde am XXXX in Ungarn geboren, wo für ihn auch ein mongolischer Reisepass ausgestellt wurde, und befindet sich mit der Zweitbeschwerdeführerin, die seine leibliche Mutter ist, jedenfalls seit Jänner 2014 durchgehend im Bundesgebiet. Sein Vater ist XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, der über den Aufenthaltstitel „ROT-WEISS-ROT-KARTE PLUS“, gültig bis 15.12.2020, verfügt. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers und weitere Sohn der Zweitbeschwerdeführerin, XXXX , geb. XXXX , für den am 13.04.2018 ein nigerianischer Reisepass ausgestellt wurde, verfügt ebenfalls über den Aufenthaltstitel „ROT-WEISS-ROT-KARTE PLUS“, gültig bis 28.06.2020. Alle vier genannten Personen wohnen im gemeinsamen Haushalt an der Adresse XXXX Wien, XXXX . Der Erstbeschwerdeführer besuchte im Schuljahr 2019/20 als außerordentlicher Schüler die Vorschulstufe im Rahmen der öffentlichen Volksschule in XXXX Wien, XXXX . Für den Erstbeschwerdeführer wurde nunmehr (auch) ein nigerianischer Reisepass am 15.05.2019 ausgestellt. Die strafgerichtlich unbescholtene Zweitbeschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Mongolei, befindet sich jedenfalls auch seit Jänner 2014 durchgehend im Bundesgebiet. Die Zweitbeschwerdeführerin ist mit XXXX , geb. XXXX , dem Vater ihrer beiden Söhne, nunmehr auch seit 27.06.2019 verheiratet. Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin sind bereits seit mehr als zwanzig Jahren verstorben. Die Zweitbeschwerdeführerin hat zwar vier ältere Schwestern und vier ältere Brüder, die in der Mongolei leben, wobei jedoch kein Kontakt mehr besteht, weil die Geschwister der Zweitbeschwerdeführerin diese nunmehr ablehnen, weil die Zweitbeschwerdeführerin einen Afrikaner geheiratet hat. Weitere Verwandte leben nicht in der Mongolei. Der Zweitbeschwerdeführerin fehlt es nunmehr an jeglichem Bezug zur Mongolei. Das gilt ebenso für den Erstbeschwerdeführer, wobei für diesen hinzutritt, dass dieser aufgrund seines biologischen Vaters ein unverkennbar afrikanisches Aussehen aufweist. Die Beschwerdeführer – einschließlich des Vaters bzw. Ehegatten – verfügen über Deutschkenntnisse.

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 10.07.2020.

Die Feststellungen zu den Beschwerdeführern ergeben sich insbesondere aus dem im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung erstatteten glaubwürdigen Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin und ihres Ehegatten und Vaters des Erstbeschwerdeführers, aus den im Verfahren vorgelegten Reisepässen, aus der Geburtsurkunde des Erstbeschwerdeführers, wobei in der beglaubigten Übersetzung der geänderten Geburtsurkunde XXXX als sein Vater angeführt wird, aus dem auf den Seiten 61 bis 63 im Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin einliegenden Gutachten auf DNA-Basis über den Vaterschaftsnachweis vom 30.11.2015, das von der XXXX in XXXX Wien, XXXX , erstellt wurde, wonach XXXX , geb. XXXX , zu 99,9999 % der Vater des Erstbeschwerdeführers ist, aus der im Original vorgelegten ROT-WEISS-ROT-KARTE PLUS des Vaters und des Bruders des Erstbeschwerdeführers, einer Schulbesuchsbestätigung des Erstbeschwerdeführers und der am 17.08.2020 erfolgten Einsichtnahme in das Strafregister (SA) bezüglich der Zweitbeschwerdeführerin und den Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister (ZMR) bezüglich der Beschwerdeführer und des Vaters bzw. Ehegatten.

Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I Nr. 10/2013 (BVwGG), entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I 33/2013 idgF (VwGVG), geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, unberührt.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. 51/1991 (AVG), mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 (BAO), des Agrarverfahrensgesetzes, BGBl. Nr. 173/1950 (AgrVG), und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984, BGBl. Nr. 29/1984 (DVG), und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zur Beschwerde über die Verletzung der Entscheidungspflicht:

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG erkennen Verwaltungsgerichte über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch eine Verwaltungsbehörde.

Gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG kann Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) erst erhoben werden, wenn die Behörde die Sache nicht innerhalb von sechs Monaten, wenn gesetzlich eine kürzere oder längere Entscheidungsfrist vorgesehen ist, innerhalb dieser entschieden hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Sachentscheidung bei der der Stelle eingelangt ist, bei der er einzubringen war. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.

§ 8 Abs. 1 VwGVG knüpft bei der Regelung der Frist zur Erhebung der Säumnisbeschwerde an die im AVG vorgesehene sechsmonatige Entscheidungsfrist an. Die Entscheidungsfrist beginnt grundsätzlich erst mit Einlangen des Antrages auf Sachentscheidung bei der zuständigen Behörde zu laufen. Für die Zulässigkeit einer Säumnisbeschwerde ist der Zeitpunkt ihrer Erhebung maßgeblich (vgl. Eder/Martschin/Schmid: Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, NWV 2013, K 2 und K 4 zu § 8 VwGVG).

Gemäß § 16 Abs. 1 VwGVG kann im Verfahren über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG die Behörde innerhalb einer Frist von bis zu drei Monaten den Bescheid erlassen. Wird der Bescheid erlassen oder wurde er vor Einleitung des Verfahrens erlassen, ist das Verfahren einzustellen. Holt die Behörde den Bescheid nicht nach, hat sie dem Verwaltungsgericht die Beschwerde unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens vorzulegen (Abs. 2 leg.cit.).

Ist die Säumnisbeschwerde zulässig und nicht abzuweisen, geht die Zuständigkeit zur Entscheidung auf das Verwaltungsgericht über (vgl. Eder/Martschin/Schmid: Das Verfahren der Verwaltungsgerichte, NWV, 2013, K 28 zu § 28 VwGVG).

Im konkreten Fall hat die Zweitbeschwerdeführerin am 29.01.2014 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gestellt. Am 17.09.2015 wurde von der Zweitbeschwerdeführerin Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) erhoben, die ausschließlich ihr Verfahren und nicht jenes des Erstbeschwerdeführers betraf. Zum Zeitpunkt der Einbringung der gegenständlichen Beschwerde war daher die (im gegenständlichen Fall maßgebliche) sechsmonatige Entscheidungsfrist gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG verstrichen, weshalb sich die Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht als zulässig erweist. Da das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 16 Abs. 1 VwGVG den Bescheid innerhalb von drei Monaten nicht nachgeholt hat, ist somit die Zuständigkeit auf das Bundesverwaltungsgericht übergegangen.

Anzumerken ist auch, dass aus der Aktenlage keine Umstände hervorgehen, wonach die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen wäre. In diesem Zusammenhang ist weiters anzumerken, dass sich aus dem Akteninhalt auch nicht ergibt, dass die Ermittlungsverzögerung durch ein schuldhaftes Verhalten der Zweitbeschwerdeführerin oder durch unüberwindliche Hindernisse verursacht war.

Zu Spruchpunkt A):

ad 1.)

Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

§ 9 Abs. 2 BFA-VG idgF lautet:
„(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.“

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.

Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 31110/67, Yb 11, 494(518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde auch von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Art. 8 EMRK macht zwischen ehelicher und nichtehelicher Familie keinen Unterschied (EGMR 13.06.1979, 6833/74, Marckx gg Belgien, Z 31; EGMR 27.10.1994, 18535/91, Kroon und andere gg die Niederlande). Familienleben ist jedoch nicht auf Beziehungen beschränkt, die auf einer Ehe beruhen (EGMR 26.05.1994, 16.969/90, Keegan vs Irland, EGMR 13.07.2000, 25.735/94, Elsholz gg Deutschland) und umfasst daher auch eheähnliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau.

Bei der Prüfung der Zulässigkeit von Ausweisungen und dem damit verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben hat eine Einzelfallprüfung zu erfolgen, die sich nicht in der formelhaften Abwägung iSd Art. 8 EMRK erschöpfen darf, sondern auf die individuelle Lebenssituation des von der Ausweisung Betroffenen eingehen muss. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 29.09.2007, B328/07, dargelegt hat, lassen sich aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes eine Vielzahl von Kriterien ableiten, die bei der gebotenen Interessensabwägung zu beachten sind. Dazu zählen vor allem die Aufenthaltsdauer, die an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft ist (EGMR vom 31.01.2006, 50.435/99), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR vom 28.05.1985, 9214/80, 9473/81, 9474/81 ua.) und dessen Intensität (EGMR vom 02.08.2001, 54.273/00), der Grad der Integration, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- oder Berufsausbildung, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (EGMR vom 04.10.2001, 43.359/98 ua.), die Bindung zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.) und die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.).

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in den die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der VwGH eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (VwGH 16.12.2014, 2012/22/0169; VwGH 09.09.2014,, 2013/22/0247; VwGH 30.07.2014, 2013/22/0226). Im Fall, dass ein isgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der VwGH seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandaufenthalt des Fremden zugrunde (VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).

Da der Erstbeschwerdeführer mit seiner Mutter, der strafgerichtlich unbescholtenen Zweitbeschwerdeführerin nunmehr bereits jedenfalls seit Jänner 2014 – somit seit mehr als 6 Jahren – durchgehend in Österreich lebt, wobei der Vater des Erstbeschwerdeführers und Ehegatte der Zweitbeschwerdeführerin und der Bruder des Erstbeschwerdeführers und weitere Sohn der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich über den Aufenthaltstitel „ROT-WEISS-ROT-KARTE-PLUS“ verfügen, keinen Bezug zum Herkunftsstaat (mehr) aufweisen, wobei die Interessen der Beschwerdeführer insbesondere angesichts der bereits langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und der im gegenständlichen Fall besonders hohen Intensität des Familienlebens von vier Personen im Bundesgebiet somit die öffentlichen Interessen überwiegen, wird jeweils ein Aufenthaltstitel aus den Gründen des Art. 8 EMRK erteilt.

Die Beschwerdeführer erfüllen somit jedenfalls die Voraussetzung des
§ 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005.

Gemäß § 81 Abs. 36 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) gilt das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017 vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren. Die §§ 7 bis 16 Integrationsgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017, mit Ausnahme vom § 13 Abs. 2 traten mit 01.10.2017 in Kraft.

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung war gemäß § 14a Abs. 4 NAG idF vor dem Bundesgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Deutsch-Integrationskurs besucht und einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über den erfolgreichen Abschluss des Deutsch-Integrationskurses vorlegt (Z 1), einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 NAG vorlegt (Z 2), über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 des Universitätsgesetzes 2002, BGBl. I 120, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3) oder einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte” gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4).

Gemäß § 14a Abs. 5 Z 1 NAG idF vor dem Bundesgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017, waren die zum Ende des Zeitraumes der Erfüllungspflicht (Abs. 2) unmündigen Drittstaatsangehörigen von der Erfüllungspflicht ausgenommen.

Gemäß § 54 Abs. 1 AsylG 2005 werden Drittstaatsangehörigen folgende Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt:

1. „Aufenthaltsberechtigung plus", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt;

2. „Aufenthaltsberechtigung", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt;

3. „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.

Gemäß Abs. 2 leg. cit. sind diese Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Da der Erstbeschwerdeführer als unmündiger Drittstaatsangehöriger (auch) die Voraussetzung gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm § 81 Abs. 36 NAG zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ erfüllt, weshalb ihm somit gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist. Da die Zweitbeschwerdeführerin die Voraussetzungen zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ nicht erfüllt, war ihr daher gemäß § 55 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat den Beschwerdeführern die Aufenthaltstitel gemäß § 58 AsylG 2005 auszufolgen. Die Aufenthaltstitel gelten gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

ad 2.)

Angesichts der Erteilung eines Aufenthaltstitels waren daher die Spruchpunkte II und III des angefochtenen Bescheides des Erstbeschwerdeführers gemäß § 28 VwGVG ersatzlos zu beheben.

ad 3.)

Da zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides der Zweitbeschwerdeführerin die dreimonatige Frist zur Nachholung des versäumten Bescheides bereits verstrichen war und es zum Übergang der Entscheidungspflicht auf das Bundesverwaltungsgericht kam und deshalb das Bundesamt unzuständig war, war der trotzdem erlassene Bescheid gemäß §§ 16 und 28 VwGVG zu beheben.

ad 4.)

Da das Bundesamt im Verfahren der Zweitbeschwerdeführerin – wie unter 3.) ausgeführt – bereits nach Ablauf der dreimonatigen Frist zur Nachholung des versäumten Bescheides unzuständig war, erweist sich daher die Säumnisbeschwerde der Zweitbeschwerdeführerin vom 09.01.2017, die ebenfalls ausschließlich ihr Verfahren und nicht jenes des Erstbeschwerdeführers betraf, gemäß § 16 VwGVG als unzulässig.

ad 5.)

Den gemäß § 35 VwGVG gestellten Anträgen auf Kostenersatz war schon allein deshalb nicht stattzugeben, weil es sich in den gegenständlichen Fällen um keine – im Rahmen des § 35 VwGVG angeführte – Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt handelt.

Zu Spruchpunkt B):

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 1985/10 idgF (VwGG), hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Schließlich liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Hiebei wird einerseits auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf die Eindeutigkeit der Rechtslage und andererseits darauf verwiesen, dass der gegenständliche Fall ohnedies maßgeblich auf der Tatsachenebene zu beurteilen war.

Aufgrund der Deutschkenntnisse war die Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung iSd § 12 Abs. 1 BFA-VG idgF entbehrlich.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung Aufenthaltsdauer Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK Familienleben Privat- und Familienleben Säumnisbeschwerde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W152.2152323.1.00

Im RIS seit

26.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

26.11.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten