TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/27 W251 2171607-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.08.2020
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Entscheidungsdatum

27.08.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W251 2171609-1/38E

W251 2171607-1/41E

W251 2171610-1/32E
W251 2171611-1/28E
W251 2171608-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) mj. XXXX , geb. XXXX , 4.) mj. XXXX , geb. XXXX , und 5.) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.09.2017 zu 1.) Zl. 1097552409 - 151910156, 2.) Zl. 1097553308 - 151910185, 3.) Zl. 1097554708 - 151910202, 4.) Zl. 1097554501 - 151910245 und 5.) Zl. 1138980909 - 161729629, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX , sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG sowie XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird den Beschwerdeführern jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 27.08.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkt III. und IV. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, alle Staatsangehörige Afghanistans, reisten – abgesehen von der Fünftbeschwerdeführerin – gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 01.12.2015 bzw. am 22.12.2016 (Fünftbeschwerdeführerin) die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Diese haben zwei leibliche Töchter, die Dritt- und die Fünftbeschwerdeführerin, sowie einen leiblichen Sohn, den Viertbeschwerdeführer.

2. Die niederschriftliche Erstbefragung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin fand am 01.12.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gaben zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass die Zweitbeschwerdeführerin von ihrem Vater aus dem Iran geholt und nach Afghanistan gebracht worden sei, wo er sie mit einem 70-jährigen Mann zwangsverheiratet habe. Der Erstbeschwerdeführer habe die Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan gefunden und sie neuerlich geheiratet. Sie hätten beide eine neuerliche Entführung und Zwangsverheiratung der Zweitbeschwerdeführerin durch ihren Vater befürchtet, weshalb sie Afghanistan verlassen hätten. Der Erstbeschwerdeführer befürchte zudem im Falle der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara von den Taliban ermordet zu werden.

3. Am XXXX wurde die Fünftbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Sie ist die Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin. Für sie wurde am 22.12.2016 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

4. Am 13.03.2017 wurden der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass seine Mutter von den Taliban entführt worden sei, woraufhin sein Vater neuerlich geheiratet habe. Der Erstbeschwerdeführer sei von seiner Stiefmutter schlecht behandelt worden, weshalb er im Alter von 13 oder 14 Jahren mit einem Nachbarskind in den Iran gereist sei. Er sei dort im Kickbox-Sport sehr gut gewesen, weshalb er 2005 nach Afghanistan zurückgekehrt sei um in die afghanische Nationalmannschaft aufgenommen zu werden. Als Hazara habe man ihn allerdings nicht ernst genommen. Er habe in dieser Zeit auch die Zweitbeschwerdeführerin kennengelernt und sei mit ihr gemeinsam in den Iran gereist. Er habe die Zweitbeschwerde-führerin nicht geheiratet und habe mit ihr zwei Kinder bekommen. Im Juli oder August 2013 seien ihre Eltern in den Iran gekommen und hätten die Zweitbeschwerdeführerin sowie seine Kinder mit nach Afghanistan genommen. 15 oder 16 Monate später habe der Erstbeschwerdeführer die Zweitbeschwerdeführerin mit Hilfe deren Freundin ausfindig machen können und sei mit ihr und den Kindern in den Iran zurückgekehrt.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab beim Bundesamt betreffend ihre Fluchtgründe im Wesentlichen an, dass der Erstbeschwerdeführer bei ihrer Familie um ihre Hand angehalten habe. Da der Erstbeschwerdeführer jedoch nicht vermögend gewesen sei, sei ihr Vater damit nicht einverstanden gewesen. Die Zweit- und der Erstbeschwerdeführer seien deshalb gemeinsam in den Iran gezogen, wo sie vor ca. 10 Jahren geheiratet hätten. Sechs Jahre später seien die Eltern und zwei Brüder der Zweitbeschwerdeführerin bei ihr im Iran aufgetaucht, als der Erstbeschwerdeführer gerade auf Geschäftsreise gewesen sei. Ihre Brüder hätten sie und ihre Kinder geschlagen und die Zweitbeschwerdeführerin sei gegen ihren und den Willen des Erstbeschwerdeführers von diesem geschieden worden. Die Zweitbeschwerdeführerin und ihre Kinder seien dann nach Afghanistan gebracht worden, wo sie nach ca. 2-3 Monaten an einen älteren Mann zwangsverheiratet worden sei. Sie habe dann bei diesem im Haus gelebt, während ihre Kinder bei ihren Eltern gewohnt hätten, die sie nur zweimal im Monat besuchen habe dürfen. Der Erstbeschwerdeführer habe von seinen Nachbarn im Iran erfahren, dass die Zweitbeschwerdeführerin von ihren Eltern mitgenommen worden sei. Er sei ein Jahr und 5-6 Monate später nach Afghanistan gereist, weil er Angst vor den Brüdern der Zweitbeschwerdeführerin gehabt habe. Mit Hilfe einer Freundin habe der Erstbeschwerdeführer sie gefunden. Die Zweitbeschwerdeführerin habe bei einem Besuch ihrer Kinder vorgetäuscht Kleidung für diese kaufen zu gehen und sei nicht wieder zurückgekehrt, sondern mit dem Erstbeschwerdeführer und ihren Kindern ausgereist.

Hinsichtlich der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

5. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Den Beschwerdeführern wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung eingeräumt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertige. Die Beschwerdeführer würden über familiäre Anknüpfungspunkte in Kabul verfügen, der Erstbeschwerdeführer habe zwei Häuser von seinem Vater geerbt und sei es den Beschwerdeführer somit möglich und zumutbar ihren Lebensmittelpunkt erneut in Afghanistan zu setzen. Die Beschwerdeführer würden in Österreich – abgesehen voneinander – zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.

6. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde und brachten im Wesentlichen vor, dass die Zweit-, die Dritt- und die Fünftbeschwerde-führerinnen als Frauen bzw. Mädchen generell sowie die Zweitbeschwerdeführerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt seien. Die vom Bundesamt entsprechend zugrunde gelegten Länderberichte seien einseitig und beschönigend. Im Bescheid seien zudem keine Feststellungen zur westlichen Orientierung der Zweitbeschwerdeführerin getroffen worden, weshalb dieser grob mangelhaft sei. Die Zweitbeschwerdeführerin trage kein Kopftuch, habe ein energisches Auftreten, gehe alleine einkaufen und nehme am Gemeinschaftsleben aktiv teil. Sie gehe mit ihren Kindern ins Schwimmbad und würde gerne als Schneiderin arbeiten. Den Haushalt teile sie sich mit dem Erstbeschwerdeführer partnerschaftlich. Für die Dritt- und die Fünftbeschwerdeführerin wünschen sie sich eine gute Berufsausbildung und eine freie Lebensführung. Zudem seien der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan einer Verfolgung aufgrund von Blutrache durch die Familie der Zweitbeschwerdeführerin ausgesetzt. Die Beschwerdeführer würden im Falle der Rückkehr nach Afghanistan in eine aussichtslose Lage geraten und die reale Gefahr der Verletzung von Art. 2, 3 EMRK bestehen.

Unter einem wurde eine Stellungnahme zu den behaupteten Widersprüchen in den Bescheiden vorgelegt. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte vor, dass sie zwar Turkmenin sei, diese aber ein Stamm der Hazara seien. Zudem habe sei keine öffentliche Schule besucht, aber Hausunterricht erhalten. Darüber hinaus würden sich der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin als traditionell verheiratet sehen, obwohl sei offiziell nicht verheiratet seien. Die Unterschiede in den Zeitangaben betreffend ihr Fluchtvorbringen seien nur gering und somit vernachlässigbar. Der Zweitbeschwerdeführerin sei das Original der Scheidungsurkunde bereits nach ihrer Einreise von der Polizei abgenommen und ihr eine Kopie ausgehändigt worden. Sie habe das Original später bei der Einvernahme beim Bundesamt im Akt gesehen. Zudem sei es zu Fehlschlüssen aufgrund von Verständigungs-schwierigkeiten und unterschiedlicher Assoziationen gekommen.

7. Mit Vollmachtsbekanntgabe vom 18.02.2018 gaben die Beschwerdeführer bekannt ihren ausgewiesenen Rechtsvertreter mit der weiteren Vertretung im Verfahren bevollmächtigt zu haben.

Mit Schreiben vom 21.12.2017, 26.01.2018, 09.02.2018, 19.02.2018, 20.02.2018, 07.03.2018, 12.03.2018, 14.09.2018, 07.11.2018, 16.11.2018, 19.11.2018 und 28.11.2018 legten die Beschwerdeführer Unterlagen betreffend ihre Integration vor.

Mit Stellungnahme vom 19.11.2018 brachte eine Deutschlehrerin der Zweitbeschwerde-führerin vor, dass diese immer wieder von ihrer Vergangenheit in Afghanistan erzähle. So hätte der Vater der Zweitbeschwerdeführerin nie einer Heirat mit dem Erstbeschwerde-führer zugestimmt, weshalb sie in den Iran geflohen seien. 2009 habe der Vater der Zweitbeschwerdeführerin den Aufenthaltsort im Iran ausfindig machen können, weshalb der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin ihren Aufenthaltsort änderten. 2012 sei der Vater der Zweitbeschwerdeführerin abermals in den Iran gereist und habe die Tochter und deren Kinder mit nach Afghanistan genommen. Im Zuge einer Auseinandersetzung sei die Zweitbeschwerdeführerin von ihrem Vater mit einem Messer attackiert worden, wovon diese Verletzungen am XXXX und der XXXX erlitten habe. Diesbezüglich wurde unter einem eine ärztliche Bestätigung vorgelegt, in der zwei Narben bestätigt werden, die mit Messerstichen vereinbar seien. Die Zweitbeschwerdeführerin sei mit einem älteren Mann verheiratet worden. Die Drittbeschwerdeführerin die während dieser Zeit bei ihren Großeltern in Afghanistan gelebt habe, sei eines Tages von ihrem Onkel mit einem Löffel, der erhitzt worden sei, verletzt worden, was eine Narbe zurückgelassen habe. Durch die abermalige Flucht habe die Zweitbeschwerdeführerin zum zweiten Mal die Autorität ihres Vaters missachtet.

8. Mit Stellungnahme vom 02.03.2019 brachten die Beschwerdeführer vor, dass die aktuellen Berichte eine tiefgreifende Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan belegen würden. Eine Rückkehr der Beschwerdeführer in ihre Heimatregion sei nicht möglich. Zudem sei aufgrund der drohenden unmenschlichen Behandlung wegen des afghanischen Konflikts eine Verweisung der Beschwerdeführer in eine der alternativ genannten Städte ebenso nicht möglich. Darüber hinaus widerspreche es Art. 3 und 2 EMRK die Zweitbeschwerdeführerin, die in Österreich einen westlichen Lebensstil gelernt habe, wieder nach Afghanistan zurückzuschicken, wo sie sich einer Unterdrückung hingeben müsse. Die deutliche Verschlechterung der Situation für Hazara in Afghanistan stelle eine asylrelevante Verfolgung dieser dar. Weiters wurde ausgeführt, dass die Zweitbeschwerdeführerin ihrem Cousin versprochen gewesen sei, dadurch, dass sie das Versprechen gebrochen habe, sei die Ehre ihres Cousin und seiner Familie verletzt worden, weshalb der Zweitbeschwerdeführerin Blutrache drohe. Zur Frage der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführer große Anstrengungen zu ihrer Integration unternommen, Deutsch erlernt und soziale Kontakte entwickelt hätten.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.03.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Den Beschwerdeführern wurde aufgetragen binnen 7 Tagen in einer gesonderten Stellungnahme bekannt zu geben welche Fehler in den bisherigen Protokollen enthalten seien und die Verhandlung vertagt.

10. Mit Stellungnahme vom 21.03.2019 kamen die Beschwerdeführer der Aufforderung nach und gaben Fehler in den Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahmen beim Bundesamt bekannt.

Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte diese Stellungnahme dem Bundesamt mit der Aufforderung vom 27.03.2019 eine schriftliche Stellungnahme zu den Angaben der Beschwerdeführer abzugeben.

Mit Stellungnahme vom 25.04.2019 gab das Bundesamt an, dass nach den jeweiligen Einvernahmen vollständige Rückübersetzungen der Einvernahmen stattgefunden hätten. Der Vorwurf, dass eine „bewusst irritierende und feindselige“ Atmosphäre vorgelegen sei, werde zurückgewiesen. Dieser Vorwurf sei auch unglaubhaft, zumal diese Anschuldigung erst zwei Jahre nach den Einvernahmen und nach Erlassung der negativen Entscheidungen durch das Bundesamt und nicht bereits im Anschluss an die Einvernahmen erfolgt seien.

11. Am 12.06.2019 setzte das Bundesverwaltungsgericht die Verhandlung in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer fort.

12. Mit Stellungnahme der Beschwerdeführer vom 18.06.2019 wurde auf Art. 24 der Grundrechtecharta verwiesen, wonach bei allen Entscheidungen das Wohl des Kindes zu bedenken sei. Es sei zu Verhandlungen zwischen der US-Regierung und den Taliban gekommen, die auf den Abzug der US-Truppen in Afghanistan abgezielt hätten. Eine Rückkehr sei insbesondere für die Kinder der Beschwerdeführer nicht zumutbar, da sie einem realen Risiko ausgesetzt wären in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten.

Mit Schreiben vom 12.07.2019, 15.07.2019, 14.08.2019, 03.10.2019, 11.12.2019, 06.02.2020, 18.02.2020 wurden weitere Unterlagen betreffend die Integration der Beschwerdeführer vorgelegt.

13. Mit Parteiengehör vom 21.11.2019 und vom 12.08.2020 wurde den Parteien die Möglichkeit gegeben zu den aktuellen Länderinformationsblättern der Staatendokumentation Stellung zu nehmen sowie aufgetragen bekannt zu geben, ob sich seit der letzten Verhandlung etwas an ihren Angaben, an ihrer Situation in Österreich bzw. im Herkunftsland oder an der Situation in Afghanistan geändert hat.

14. Mit Stellungnahme vom 24.08.2020 brachten die Beschwerdeführer vor, dass sie über kein soziales Netzwerk in Afghanistan verfügen würden und diese bei einer Rückkehr auf sich alleine gestellt wären. Sie seien als Angehörige der Hazara stärker von wirtschaftlichen Verschlechterungen betroffen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sei angespannt. Es sei für eine Neuansiedlung in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif ein starkes familiäres Netzwerk erforderlich. Zudem sei es aufgrund der COVID-19-Situation zu Einschränkungen gekommen und große Städte seien unter einen Lock-Down gestellt worden. Bewegungseinschränkungen wirken sich insbesondere auf die Unterstützungsmöglichkeiten durch Hilfsorganisation aus. Davon sei besonders Kabul betroffen. Zudem seien die Preise von Grundnahrungsmittels seit Beginn des Lockdowns erheblich gestiegen. Die wirtschaftliche Lage habe sich durch Betriebsschließungen, Steigerung der Arbeitslosigkeit verschlechtert. Insbesondere Tagelöhner seien in Afghanistan stark hungergefährdet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer ist mit der Zweitbeschwerdeführerin traditionell verheiratet. Diese haben zwei leibliche Töchter, die Drittbeschwerdeführerin, die den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt, und die Fünftbeschwerdeführerin, die den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt sowie einen leiblichen Sohn, den Viertbeschwerdeführer, der den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX führt. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Beschwerdeführer sprechen Dari als Muttersprache. Der Erstbeschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Hazara an. Es kann nicht festgestellt werden, welcher Volksgruppe die Zweitbeschwerdeführerin angehört (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers – BF 1 AS 1, 73; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin – BF 2 AS 1, 59; Stellungnahme vom 21.03.2019; Verhandlungsprotokoll vom 11.03.2019 = VP 1, S. 12).

Die Dritt-, der Viert- und die Fünftbeschwerdeführerin wurden nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Stadt Kabul geboren und ist dort im Bezirk XXXX gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester in einem Eigentumshaus aufgewachsen (BF 1 AS 1, 75). Weder die Mutter noch der Vater des Erstbeschwerdeführers wurden von Mitgliedern der Taliban entführt und/oder getötet. Der Erstbeschwerdeführer hatte keine Schwierigkeiten mit seiner Stiefmutter. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Erstbeschwerdeführer im Alter von ca. 13 Jahren in den Iran nach Teheran gezogen ist. Er hat mindestens XXXX Jahre lang eine Schule besucht (BF 1 AS 1, 75). Er hat den Beruf des Scheiders gelernt. Er hat zunächst drei Jahre und danach weitere 7,5 Jahre in einer anderen Textilfabrik als Schneider gearbeitet. Nebenbei war der Erstbeschwerdeführer als Kickboxtrainer tätig (VP 1, S. 14 f, 17; BF 1 AS 1, 75, 85).

1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in der Stadt Kabul geboren und ist im Stadtteil XXXX gemeinsam mit ihren Eltern und ihren sieben Geschwistern (drei Brüder und vier Schwestern) in einem Eigentumshaus aufgewachsen (BF 2 AS 57; Verhandlungsprotokoll vom 12.06.2019 = VP 2, S. 8). Die Zweitbeschwerdeführerin ist keine Analphabetin; sie kann lesen und schreiben (VP 1, S. 31 f). Es kann nicht festgestellt werden, ob sie die Schule besucht oder Privatunterricht erhalten hat. Ihr Vater ist für den Lebensunterhalt der Familie aufgekommen (BF 2 AS 1, 145 f; VP, S. 34, 36).

1.1.4. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan traditionell geheiratet (BF 2 AS 59, 63; VP 1, S. 12, 30). Es hat sich dabei nicht um eine heimliche, gegen den Willen der Familien erfolgte Eheschließung gehandelt. Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin war mit der Heirat einverstanden. Die Zweitbeschwerdeführerin ist nach der Heirat zum Erstbeschwerdeführer ins Haus seiner Familie gezogen. Die Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin – die Drittbeschwerdeführerin - wurde im Jahr XXXX in Afghanistan geboren. Im Jahr XXXX kam der Viertbeschwerdeführer in Afghanistan zur Welt. Der Erstbeschwerdeführer hat jahrelang als Schneider in einer Textilfabrik gearbeitet, die Zweitbeschwerdeführerin hat nach deren Heirat ebenfalls als Schneiderin gearbeitet. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben den Unterhalt für ihre Kinder bestritten (VP 2, S. 6).

Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellten am 01.12.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am XXXX wurde die Fünftbeschwerdeführerin in Österreich geboren.

1.1.5. Der Vater des Erstbeschwerdeführers wohnt zusammen mit seiner Frau – der Stiefmutter des Erstbeschwerdeführers – in Kabul im Bezirk XXXX (VP 1, S. 18). Der Erstbeschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinem Vater in Kabul.

1.1.6. Die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin, ihre vier Schwestern und drei Brüder leben nach wie vor in der Stadt Kabul im Stadtteil XXXX im Ort XXXX . Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin arbeitet auf Baustellen und stellt Türen und Fenster her. Ihre Mutter ist aufgrund von Herzproblemen nicht berufstätig. Eine Schwester der Zweitbeschwerdeführerin ist verheiratet und wohnt nicht im Eigentumshaus der Familie (VP 2, S. 8 ff). Die Zweitbeschwerdeführerin hat regelmäßig Kontakt zu ihrer Familie in Kabul.

Darüber hinaus leben noch fünf Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits sowie zwei Onkel väterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin in der Stadt Kabul (VP 2, S. 8).

1.1.7. Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Sie sind gesund. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind arbeitsfähig (VP 1, S. 23; VP 2, S. 18).

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in Afghanistan von ihren Eltern und ihren Brüdern nicht entführt. Sie wurde auch nicht an einen (älteren) Mann zwangsverheiratet. Die Zweitbeschwerdeführerin war in Afghanistan keinen Misshandlungen ausgesetzt.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin werden aufgrund ihrer Heirat nicht von der Familie der Zweitbeschwerdeführerin verfolgt.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Afghanistan traditionell geheiratet. Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind eheliche Kinder. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin werden in Afghanistan nicht verdächtigt oder beschuldigt gegen die Scharia verstoßen zu haben oder sich unmoralisch verhalten zu haben.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan weder aus Furcht vor konkreten Eingriffen in ihre körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Familie der Zweitbeschwerdeführerin, ihren angeblich zwangsverheirateten Mann, staatliche Organe oder durch andere Personen.

1.2.2. Der Erstbeschwerdeführer hatte in Afghanistan keine konkret und individuell gegen ihn gerichteten Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den schiitischen Hazara. Er wurde aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit auch nicht an der Sportausübung in Kabul gehindert oder deshalb von Angehörigen der Taliban bedroht.

1.2.3. Die Zweit-, die Dritt- und die Fünftbeschwerdeführerinnen sind in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie spricht zwar ausreichend Deutsch, darüber hinaus kümmert sie sich jedoch in Österreich primär um den Haushalt und ihre Kinder. Die Zweitbeschwerdeführerin bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich. Sie hat freundschaftliche Kontakte zu ihrer Deutschlehrerin und ihren Nachbarn schließen können, sie ist jedoch auch in Österreich nicht selbständig.

1.2.4. Den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern ist es möglich, sich (wieder) in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihnen droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch sind sie deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Die Dritt- und der Viertbeschwerdeführer waren in Afghanistan auch keinen Misshandlungen durch ihre Verwandten mütterlicherseits ausgesetzt.

In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist insbesondere in Kabul faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer in Kabul in die Schule schicken und diesen eine Schulbildung ermöglichen. Den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern droht in Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung (allenfalls als Bacha-Bazi) oder Misshandlungen.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat:

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin können in der Stadt Kabul ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführer können in Kabul im Eigentumshaus des Vaters des Erstbeschwerdeführers mit diesem und seiner Stiefmutter, wie bereits vor ihrer Ausreise, oder im Eigentumshaus der Eltern der Zweitbeschwerdeführerin wohnen.

Den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern ist es möglich in der Stadt Kabul eine Schule zu besuchen und sich an die sozialen und kulturellen Gegebenheiten in Afghanistan anzupassen, nämlich neue Kontakte knüpfen, die Schule besuchen, einen Beruf lernen und die Sprachkenntnisse über die Muttersprache vertiefen.

Den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern droht in der Stadt Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat. Es droht diesen dort auch weder Missbrauch noch sexuelle Übergriffe Entführungen oder Ausbeutungen oder Gefahren durch explosive Kriegsrückstände.

Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind noch unmündige Minderjährige. Diese können ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht selber befriedigen. Durch die COVID-19-Situation hat sich die wirtschaftliche Lage in Kabul angespannt, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen und besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter sind von den wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Situation betroffen. Es sind auch die Preise für Lebensmittel erheblich gestiegen. Es ist dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin aufgrund der COVID-19-Situation und der damit zusammenhängenden wirtschaftlich angespannten Versorgunglage (trotz familiärer Unterstützung in Kabul) derzeit nicht möglich den notwendigen Lebensunterhalt für die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer in der Stadt Kabul ausreichend sicher zu stellen.

Es ist den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern somit nicht möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und halten sich seit zumindest 01.12.2015 durchgehend in Österreich auf.

Die Beschwerdeführer verfügen über keine Verwandte in Österreich.

Die Beschwerdeführer haben in Österreich freundschaftliche Kontakte knüpfen können (BF 1 AS 111 [ident mit AS 311]) und werden von den Betreuern der Unterkunft, den Einwohnern ihrer Wohngemeinde und von der Pfarrgemeinde sehr geschätzt (BF 1 AS 101 ff, 315, 317, 321 [bis auf das Ausstellungsdatum ident mit Beilage ./C], 323; Beilage ./E und ./K bis ./M; BF 2 OZ 6). Es bestehen jedoch keine Abhängigkeiten zu diesen.

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet war zu keiner Zeit geduldet. Sie waren weder Zeuge noch Opfer von Gewalt oder anderen strafbaren Handlungen in Österreich, ihre Anwesenheit ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen erforderlich. Es wurde nie eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen; es lag nie ein Sachverhalt vor, auf Grund dessen eine einstweilige Verfügung hätte erlassen werden können.

1.4.1. Der Erstbeschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer hat Deutschkurse besucht (BF 1 AS 99, 101) und die ÖSD Deutschprüfung am 09.04.2018 für die Stufe A1 gut sowie am 09.11.2018 für die Stufe A2 bestanden (BF 1 OZ 8; Beilage ./B). Er verfügt jedoch lediglich über geringe Deutschkenntnisse (VP 1, S. 9 f).

Der Erstbeschwerdeführer hat an einem Werte- und Orientierungskurs und einem Erste-Hilfe-Führerscheinkurs teilgenommen (BF 1 OZ 24 und 26).

Der Erstbeschwerdeführer geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./I; VP 1, S. 20). Der Erstbeschwerdeführer hat eine Einstellungszusage als Staplerfahrer (Beilage ./J).

Er erbringt seit 22.11.2016 ehrenamtlich gemeinnützige Hilfstätigkeiten im Ausmaß von 8 Wochenstunden im Bauhof der Gemeinde (BF 1 AS 105, 319; Beilage ./H).

Der Erstbeschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.4.2. Die Zweitbeschwerdeführerin:

Die Zweitbeschwerdeführerin hat Deutschkurse besucht (BF 2 AS 81) und die ÖSD Deutschprüfung am 30.01.2018 für die Stufe A1 sehr gut sowie am 09.11.2018 für die Stufe A2 bestanden (BF 2 OZ 7; Beilage ./A). Sie hat vom 07.10.2019 bis 06.02.2020 erneut an einem Deutschkurs auf dem Niveau A2 teilgenommen. Sie verfügt über ausreichende Deutschkenntnisse um auf elementarer Ebene in einfachen, routinemäßigen Situationen des Alltags- und Berufslebens auf Deutsch zu kommunizieren (VP 2, S. 11 f). Die Zweitbeschwerdeführerin besucht derzeit gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer einen Deutschkurs auf dem Niveau B1 (OZ 40).

Die Zweitbeschwerdeführerin hat an einem Werte- und Orientierungskurs und einem Erste-Hilfe-Führerscheinkurs teilgenommen (BF 2 OZ 29 und 31).

Die Zweitbeschwerdeführerin geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./I; VP 2, S. 13, 16). Sie hat drei- oder viermal Remunerationstätigkeiten für eine Bekannte erbracht (VP 2, S. 14). Sie verfügt über ein Anstellungsangebot als Haushaltshilfe im Ausmaß von 10-15 Wochenstunden (Beilage ./D).

Die Zweitbeschwerdeführerin hat ehrenamtlich bei den Vorbereitungen, beim Sortieren, im Verkauf sowie bei den Aufräumarbeiten für den jährlichen Flohmarkt des Roten Kreuz mitgeholfen (BF 2 OZ 32).

Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.4.3. Die Dritt-, der Viert- und die Fünftbeschwerdeführerin:

Die XXXX jährige Drittbeschwerdeführerin besuchte in Österreich im Schuljahr 2017/18 die XXXX Klasse der Volksschule als außerordentliche Schülerin (BF 2 OZ 10 und 11). Im Schuljahr 2018/19 besuchte die Drittbeschwerdeführerin die XXXX Schulstufe, im Schuljahr 2019/20 die XXXX Schulstufe der Volksschule als ordentliche Schülerin (Beilage ./O und ./P; BF 3 OZ 27). Die Drittbeschwerdeführerin ist sehr gut in die Klassengemeinschaft integriert (BF 3 OZ 7; Beilage ./T).

Die Drittbeschwerdeführerin nimmt seit dem Winter-Semester 2016 aktiv am Übungsbetrieb „Turnen Kinder“ und „Judo“ und „Mädchenturnen“ teil. Sie hat am 23.6.2017 erfolgreich die erste Gürtelprüfung abgelegt (BF 3 OZ 6, 13; Beilage ./S). Sie hat beim Mannschaftsgerätewettkampf am 25.11.2018 sowie am 24.11.2019 jeweils den 10. Rang erreicht (BF 3 OZ 26, 27). Sie hat am 23.02.2019 am Bewegungstag teilgenommen (Beilage ./R).

Der XXXX jährige Viertbeschwerdeführer besuchte in Österreich im Schuljahr 2017/18 die XXXX Klasse der Volksschule als außerordentlicher Schüler (BF 3 OZ 10 und BF 2 OZ 11). Im Schuljahr 2018/19 besuchte der Viertbeschwerdeführer die XXXX Schulstufe, im Schuljahr 2019/20 die XXXX Schulstufe der Volksschule als ordentlicher Schüler (Beilage ./O und ./Q; BF 4 OZ 21).

Die XXXX jährige Fünftbeschwerdeführerin wird von der Zweitbeschwerdeführerin zuhause betreut (VP 1, S. 9; VP 2, S. 15 f).

Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind in Österreich aufgrund ihres Alters noch strafunmündig.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019 mit Kurzinformation vom 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan von Juni 2019 (EASO),

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (Beilage ./III),

-        Dossier der Staatendokumentation Grundlage der Stammes- und Clanstruktur

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 (Frauen in urbanen Zentren)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Anzahl an Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Anzahl der Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Bildungsmöglichkeiten für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Bildungsmöglichkeiten für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Erpresserischer Entführung von Kindern vom 06.05.2019 (Erpresserische Entführungen von Kindern)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderarbeit und Ausbeutung Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Kinderarbeit und Ausbeutung)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Kinderehen und Zwangsehen vom 03.05.2019 (Kinderehen und Zwangsehen)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderschutzprogramme vom 03.05.2019 (Kinderschutzprogramme)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Rückkehrleistungen für Familien bzw. Kinder vom 14.05.2019 (Rückkehrleistungen für Familien bzw. Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sexuellen Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Sexueller Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sicherheitslage von Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 09.05.2019 (Sicherheitslage für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 10.05.2019 (Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Zugang zu Lebensmitteln vom 03.05.2019 (Zugang zu Lebensmitteln)

-        Bericht ACCORD und Sozioökonomische Lage von Herat und Mazar-e Sharif vom 26.11.2019 (Beilage ./XVIII)

1.5.1. Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 - LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen (LIB, Kapitel 2).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlingsund Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

1.5.4.1. Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen ist. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (LIB, Kapitel 16.3).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre turko-mongolide Physiognomie, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden (Dossier der Staatendokumentation Grundlage der Stammes- und Clanstruktur).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (LIB, Kapitel 16.3).

Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel 16.3).

1.5.4.2. Turkmenen

Die Turkmenen sind Sunniten und siedeln vor allem in den nordwestlichen Gebieten Afghanistans zwischen Herat und Balkh, kleinere Gruppen sind in der Provinz Kunduz sowie in den Städten Kabul und Laschkargah zu finden. Sie verfügen über eine die ganze Gruppe vereinende genealogische Tradition. Die bedeutendsten Stammlinienverbände auf afghanischem Gebiet sind die Ersari und die Tekke, außerdem gibt es Sariq, Yomut u.a. Viele Turkmenen sind Anfang des 20. Jahrhunderts aus den Gebieten der nach ihnen benannten Republik Turkmenistan nach Afghanistan übergesiedelt Turkmenen waren traditionell Reiternomaden. In Afghanistan führen die meisten heute eine auf Landwirtschaft und Viehzucht basierende Lebensweise als Halbnomaden. Karakulschafe sowie Teppiche und Schmuck sind wichtige Erzeugnisse ihrer Wirtschaft. Außer in Afghanistan und Turkmenistan sind Turkmenen in Iran, in der Türkei, in Pakistan und China zu finden (Dossier der Staatendokumentation Grundlage der Stammes- und Clanstruktur).

1.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten und c.a 10 – 19% Shiiten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15, 15.1).

Die Schiiten Afghanistans sind mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren lokale Diskriminierungsfälle (LIB Kapitel 15.1).

In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt. Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (LIB Kapitel 15.1).

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 18).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschaftsbzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.8. Korruption, Dokumente

Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2018 von Transparency International belegt Afghanistan, von 180 untersuchten Ländern den 172. Platz, was eine Verbesserung um fünf Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (LIB, Kapitel 6).

Korruption findet in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens statt. Beamte gehen oft ungestraft korrupten Praktiken nach. Es kam jedoch in den vergangenen Jahren zu leichten Verbesserungen bei der Wahrnehmung der Rechenschaftspflicht in der öffentlichen Verwaltung (LIB, Kapitel 6).

Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist gravierende Mängel auf und stellt aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kommen sehr häufig vor. Sämtliche Urkunden in Afghanistan können problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhalten werden (LIB, Kapitel 23).

1.5.9. Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 2.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

1.5.10. Situation für Rückkehrer

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück. Vom 01.01.2020 bis 18.05.2020 kehrten 279.738 Afghanen aus dem Iran nach Afghanistan zurück (LIB, Kapitel 22).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 22).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 22).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterst

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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