Entscheidungsdatum
31.08.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W231 2216629-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Mag. German BERTSCH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer (in Folge: „BF“) stellte in Österreich am 31.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.2. Anlässlich seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 01.06.2016 gab der BF an, Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und Sunnit zu sein und aus Parwan zu stammen. Sein Fluchtgrund sei, dass er in den letzten eineinhalb Jahren eine Freundin gehabt habe und sie auch heiraten wollte, ihre Familie sei jedoch dagegen gewesen. Seine Freundin sei einmal zu ihm gekommen und habe bei ihm über Nacht bleiben wollen. Da ihre Familie dagegen gewesen sei, seien er und seine Freundin zum Cousin des BF geflüchtet, der ihm auch die Flucht organisiert habe, und sie hätten dortbleiben wollen. Die Familie seiner Freundin habe den BF und seine Freundin dort gefunden und habe die Freundin des BF zwangsweise abgeholt und mitgenommen. Den BF hätten sie mit dem Tod bedroht. Inzwischen sei seine Freundin gegen ihren Willen verheiratet worden. Wenn die Familie seiner Freundin den BF wiedersehen würde, seien sowohl sein Leben als auch das seiner Mutter und seines Bruders in Gefahr. Diese Familie habe auch auf den Bruder des BF mit einem Messer eingestochen und ihn am Kopf verletzt. Seitens der afghanischen Regierung werde der BF nicht verfolgt.
I.3. Am 19.11.2018 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg (in Folge: „BFA“), niederschriftlich einvernommen. Der BF gab an, er stamme aus der Provinz Parwan, wo er mit seiner Familie gelebt und auch die Grundschule und die Hauptschule besucht habe. Zudem habe er eine allgemeinbildende höhere Schule und schließlich die Universität in Helmand besucht, und dort das Studium der Landwirtschaft absolviert. Er sei dann etwa ein Jahr Lehrer an einem landwirtschaftlichen Gymnasium in seiner Gegend gewesen. Seine Muttersprache sei Dari, weiters spreche er etwas Paschtu, gut Englisch sowie Deutsch und etwas Türkisch. Er habe mit seiner Familie in einem Eigentumshaus gelebt, seine finanzielle Situation sei sehr gut gewesen. Sein Vater sei bereits vor längerer Zeit verstorben. Er habe noch seine Mutter und seinen Bruder, habe aber keinen Kontakt zu ihnen. Weiters habe er in Parwan noch sechs Onkel und eine Tante väterlicherseits mit deren Kindern und eine Tante mütterlicherseits. Zu diesen habe er auch keinen Kontakt.
Zu seinen Fluchtgründen gab er zusammengefasst an, er habe über ein Jahr lang eine geheime Beziehung mit seiner Cousine väterlicherseits gehabt und sie hätten ausgemacht zu heiraten. Dann habe ein anderer Cousin um die Hand seiner Freundin bzw. Cousine angehalten und ihre Familie sei mit dieser Heirat einverstanden gewesen. Der BF habe seine Mutter ersucht, für ihn bei der Familie der Freundin ebenfalls um deren Hand anzuhalten. Seine Mutter habe dies jedoch verweigert und gesagt, dies würde zu einer Feindschaft innerhalb der Familie führen, da sie von der geplanten Verlobung des Mädchens gewusst habe. Die Freundin des BF habe gesagt, der BF wisse, dass sie keine Jungfrau mehr sei und entweder ihre eigene Familie oder die Familie des anderen Cousins würde sie umbringen und der BF wäre verantwortlich für ihren Tod. Der BF habe um ein paar Tage Auszeit gebeten und in dieser Zeit habe sich seine Freundin mit diesem Cousin verlobt. Seine Freundin habe den BF unter Druck gesetzt, sich zu entscheiden, und gedroht, sich umzubringen. Der BF habe als einziger Person noch seinem anderen Cousin, dem Sohn seiner Tante väterlicherseits, vertraut. Dieser Cousin habe dem BF und seiner Freundin geraten, Afghanistan zu verlassen, und habe einen Schlepper für sie organisiert, der die beiden beim Haus des Cousins abholen hätte sollen. Der Cousin sei weggegangen, um den Schlepper zu holen und der BF sei auf die Toilette gegangen. Da habe er das Ladegeräusch einer Kalaschnikow gehört und die Stimme seines Onkels (des Vaters seiner Freundin). Der BF habe auch die zwei Brüder der Freundin gehört und der eine habe zum anderen gesagt, er sollte den BF auf der Stelle töten. Der BF habe sich in der Senkgrube der Toilette versteckt und sei, nachdem er keine Stimmen mehr gehört habe, geflüchtet. Der BF habe schließlich den Schlepper erreicht und kurz vor der Ausreise noch von seinem Cousin erfahren, dass die Freundin mit dem anderen Cousin verheiratet worden sei. Als dieser erfahren habe, dass sie nicht mehr Jungfrau gewesen sei, habe er sie ins Elternhaus zurückgeschickt und das Brautgeld zurückverlangt. Die Brüder des Mädchens hätten nach dem BF und seiner Familie gesucht und auf den Bruder des BF mit einem Messer eingestochen, sodass dieser im Spital gelegen sei. Der BF wisse nicht, ob seine Freundin oder seine Familie noch am Leben seien.
I.4. Mit Schreiben vom 03.12.2018 erstattete der BF eine Stellungnahme. Darin wurde ausgeführt, der BF sei einer massiven Verfolgung durch seine Verwandten ausgesetzt und aufgrund seiner Tat (vorehelicher Geschlechtsverkehr) wäre er auch einer staatlichen Verfolgung ausgesetzt. Zudem sei der BF für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und davon überzeugt, dass allen Menschen Grundrechte zukommen sollten und der BF wäre auch aufgrund seiner Weltanschauung vom afghanischen Staat verfolgt. Zudem wurde auf die gute Integration des BF in Österreich hingewiesen.
I.5. Das BFA (Regionaldirektion Burgenland) wies mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.02.2019 den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs.1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
Begründend heißt es, dass der BF eine aktuelle asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat nicht glaubhaft habe machen können. Es sprächen auch keine Gründe für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz. Zuletzt kommt das BFA zu dem Schluss, dass die öffentlichen Interessen an der Außerlandesbringung des BF gegenüber seinen privaten Interessen am Verbleib in Österreich überwiegen würden und ein Eingriff in seine durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte als gerechtfertigt anzusehen sei.
I.6. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, fristgerecht eingebrachte und zulässige Beschwerde. Dem BF drohe in Afghanistan asylrelevante Verfolgung durch seine Verwandten und durch den Staat. Alternativ sei subsidiärer Schutz zu gewähren und es gäbe auch keine IFA für den BF. Der BF absolviere in Österreich eine Lehre und sei sehr gut integriert.
I.7. Am 03.06.2019 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF und seiner Rechtsvertretung statt. Die belangte Behörde ist entschuldigt nicht erschienen.
I.8. Am 19.11.2019 erhielt der BF im Rahmen des Parteiengehörs Gelegenheit, zum „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan idF 13.11.2019“ Stellung zu nehmen.
I.9. Mit Schreiben vom 16.06.2020 erstattete der BF eine Stellungnahme, worin u.a. ausgeführt wurde, drei Cousins des BF seien getötet worden und sein Bruder, Kommandant beim Militär, sei bei einem Angriff der Taliban verletzt worden. Beigelegt wurden weitere Integrationsunterlagen.
1.10. Am 25.06.2020 fand am Bundesverwaltungsgericht eine fortgesetzte mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF und seiner Rechtsvertretung statt. Die belangte Behörde ist entschuldigt nicht erschienen. Auf die Verlesung des gesamten Akteninhalts wurde verzichtet. Der BF legte weitere Unterlagen zu seinen Integrationsbemühungen vor. Im Zuge der Verhandlung wurden zwei Zeugen (Verpächter der Geschäftsräumlichkeiten, in denen der BF seine Lehre absolviert) einvernommen. Dazu wurden von der erkennenden Richterin das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan vom 13.11.2019 idF KI 18.05.2020“ sowie die aktuellen UNHCR-Richtlinien und EASO-Guidelines in das Verfahren eingeführt und weiters ein aktuelles Dokument zur Situation in Afghanistan in Bezug auf die COVID-19-Pandemie, Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung), vom 05.06.2020. Zudem wurden die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen [Apostaten], 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa [a-10159], vom 01.06.2017 sowie der Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017 in das Verfahren eingebracht.
1.11. Mit Schreiben vom 09.07.2020 erstattete der BF eine weitere Stellungnahme, worin u.a. ausgeführt wurde, der BF habe westliche Wertvorstellungen angenommen und würde im Fall einer Rückkehr als Ungläubiger betrachtet. Bezüglich seines Glaubens befinde er sich in einer Selbstfindungsphase und eine Konversion zum Christentum oder ein Austritt aus seiner Konfession seien für ihn derzeit kein Thema.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Zur Person des BF:
Der BF ist volljährig, führt den im Spruch angeführten Namen und das dort genannte Geburtsdatum, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und wurde als sunnitischer Moslem sozialisiert, derzeit übt er seine Religion nicht aus, ein Austritt aus seiner Konfession ist für ihn derzeit kein Thema. Seine Muttersprache ist Dari, weiters spricht er etwas Paschtu, gut Englisch sowie Deutsch und etwas Türkisch. Die Feststellungen zur Identität des BF gelten ausschließlich für die Identifizierung seiner Person im Asylverfahren.
Der BF stammt aus der afghanischen Provinz Parwan, Distrikt XXXX , Dorf XXXX , und lebte dort mit seiner Familie. Sein Vater verstarb bereits vor längerer Zeit. Der BF hat eine langjährige und umfassende Schulbildung: Er besuchte in Parwan zunächst die Grundschule und die Hauptschule sowie eine allgemeinbildende höhere Schule und weist insgesamt eine Schulbildung von zwölf Klassen auf. Danach studierte er von 2010 bis 2014 an der Universität in Helmand Agrarwissenschaften und absolvierte das Studium. Danach unterrichtete er als Lehrer an einem landwirtschaftlichen Gymnasium. Die finanzielle Situation der Familie war sehr gut. Die Familie besitzt 20 Jirib landwirtschaftlichen Grund (1 Jirib=2000 m2) Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
Die Mutter des BF befindet sich derzeit im Iran, der BF gibt an, dass der Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen ist. Der Bruder des BF ist in Afghanistan. Der BF hat gelegentlich zu seinem Bruder Kontakt. Dass der Bruder des BF Angehöriger der afghanischen Nationalarmee ist, wird nicht festgestellt. Im Heimatdorf bzw. in der Heimatprovinz des BF leben noch Verwandte von ihm (sechs Onkel und eine Tante väterlicherseits sowie Cousins des BF, eine Tante mütterlicherseits); der BF gibt an, auch zu diesem Angehörigen keinen Kontakt zu haben.
Der BF ist gesund, überdurchschnittlich gut gebildet, anpassungs- und arbeitsfähig; er gehört keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an.
II.1.2. Zum Leben des BF in Österreich:
Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 31.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Der BF war seit seiner Asylantragstellung in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig. Der BF hält sich seit seiner Einreise nach Österreich im Mai 2016 etwas mehr als vier Jahre im Bundesgebiet auf.
Er hat in Österreich keine familiären Anknüpfungspunkte.
Der BF hat in Österreich Deutschkurse besucht und die Prüfung für das Niveau A2 erfolgreich bestanden. Die Prüfung für das Niveau B1 hat er zwar nicht bestanden, er spricht aber Deutsch auf dem Niveau B1.
In Österreich hat der BF zwei Semester lang den Vorbereitungslehrgang für den Pflichtschulabschluss besucht, konnte diesen jedoch nicht abschließen, da er eine Lehre begonnen hat. Seit dem 13.07.2018 befindet sich der BF in einem Lehrverhältnis als Einzelhandelskaufmann, Schwerpunkt Lebensmittelhandel, mittlerweile im dritten Lehrjahr. Sein Lehrverhältnis endet voraussichtlich am 12.07.2021. Er absolviert seine Lehre in einem Lebensmittelgeschäft, wo er unter anderem an der Fleischtheke und in der Fleischverarbeitung tätig ist. Der BF besucht auch die Berufsschule. Er möchte seine Lehre abschließen und eine Meisterprüfung als Metzger ablegen, er kann sich auch eine Tätigkeit als Gärtner vorstellen. Der BF wird von seiner Arbeitgeberin und Lehrberechtigten sowie von seinen Kollegen und auch den Kunden des Geschäftes sehr geschätzt und allgemein als höflich, freundlich, fleißig, ordentlich, pünktlich, flink und verlässlich beschrieben. Er erledigt seine Arbeit vorbildlich. Der BF hat freundschaftlichen Kontakt zu den Verpächtern (Ehepaar) des Lebensmittelgeschäftes, in dem er arbeitet, und macht auch Unternehmungen mit ihnen. Der BF hat einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, sich in der Nachbarschaftshilfe seiner Wohngemeinde betätigt und verschiedene andere gemeinnützige Tätigkeiten verrichtet (etwa am Bauhof). Zudem war er im Rahmen von Dienstleistungsschecks tätig. Der BF hat viele Freunde, darunter auch Österreicher. Der BF betreibt Sport (Rad fahren, Joggen, Volleyball).
Der BF konnte ein Interesse für die österreichische Geschichte, Kultur und Politik darlegen.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
II.1.3. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF war in Afghanistan nie in Haft. Er hatte nie Probleme mit der Polizei oder mit Behörden bzw. Gerichten. Er war nie politisch tätig oder Mitglied einer politischen Partei. Er hatte nie Probleme aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seines Religionsbekenntnisses.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch seine Verwandten (die Familie seiner Cousine) wegen einer außerehelichen Beziehung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe in diesem Zusammenhang zu befürchten hätte. Die vom BF vorgebrachten Gründe für seine Ausreise werden mangels Glaubwürdigkeit des Vorbringens nicht festgestellt. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht dem BF aus den vorgebrachten Gründen weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch seine Verwandten oder durch andere Personen.
Der BF wäre im Falle der Rückkehr nach Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt aufgrund einer atheistischen bzw. areligiösen Überzeugung bzw. eines behaupteten Abfalls vom islamischen Glauben oder einer liberalen Weltanschauung ausgesetzt.
Der BF konnte insgesamt nicht glaubhaft machen, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.
II.1.4. Zur Rückkehrsituation des BF:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan in seinem Recht auf das Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre.
Dem BF kann bei einer Rückkehr nach Afghanistan in seine Herkunftsprovinz Parwan aufgrund der dortigen volatilen Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Dem BF steht jedoch eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in Mazar-e Sharif zur Verfügung. Die grundlegende Versorgung der afghanischen Bevölkerung ist in Mazar-e Sharif gewährleistet. Die Gesundheitsversorgung ist in Mazar-e Sharif durch Krankenhäuser bzw. Gesundheitszentren sowie durch zwei Einrichtungen zur Betreuung von psychischen Krankheiten sichergestellt. Die Wohnraum- und Versorgungslage in Mazar-e Sharif ist zwar angespannt, der BF kann jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Neuansiedlung in Mazar-e Sharif grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF verfügt über eine umfassende Schulbildung, ein abgeschlossenes Universitätsstudium und Berufserfahrung als Lehrer. Er könnte wieder an diese frühere Tätigkeit anknüpfen. Seine Existenz könnte er – zumindest anfänglich – ebenso mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Zudem hat er in Österreich Berufserfahrung gesammelt. Wenn der BF nach Abschluss seiner Lehre als Einzelhandelskaufmann in sein Herkunftsland zurückkehrt, verfügt er auch über eine abgeschlossene Berufsausbildung und langjährige Berufserfahrung in einem kaufmännischen Beruf. Er spricht eine Landessprache des Herkunftsstaates (Dari), er spricht auch etwas Paschtu, und hat bis zu seiner Ausreise in Afghanistan gelebt, ist somit mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut. Der BF hat sich seinen Angaben nach auch bereits in Kabul und in Mazar-e Sharif aufgehalten, ist also auch mit städtischen Strukturen in Afghanistan vertraut. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form von Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF verfügt über ein überdurchschnittliches Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Mazar-e Sharif ausschließen, liegen nicht vor. Der BF ist gesund und es bestehen keine Zweifel an seiner Arbeits- und Erwerbsfähigkeit.
Auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht – auch im Hinblick auf eine Rückkehr des BF erst nach Beendigung seines Lehrverhältnisses (voraussichtlich 12.07.2021) im Entscheidungszeitpunkt keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
II.1.5. Zur aktuellen Situation in Afghanistan werden folgende Feststellungen getroffen:
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (Länderinformationsblatt für Afghanistan (in der Folge auch „LIB“) vom 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 1. Politische Lage).
COVID-19:
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Afghanistan sind aktuell 37 999 Erkrankungsfälle registriert und 1 387 Todesfälle offiziell bestätigt (https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200824-weekly-epi-pdate.pdf?sfvrsn=806986d1_4, Weekly Epidemiological Update, 24.08.2020).
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert. Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig. COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird. Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt. In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden. Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden. Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen. Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans; dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert. Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen. Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden. Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert. In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung
Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt, wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar. Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt. Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze: Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden(LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise: 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Taliban und COVID-19
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommission gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen. Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:
? Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)
? Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen – COVID-19).
Sicherheitslage:
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (LIB 13.11.2019 idF 29.06.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage). Diese ist jedoch regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich (EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89ff; LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417. Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada– Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes. Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000. Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück. Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban. Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern. Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck. Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen. So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen. Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen. Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen. Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban. Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont. Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2. Sicherheitslage).
Lage in Parwan:
Parwan liegt im zentralen Teil Afghanistans. Die Provinz grenzt an Baghlan im Norden, Panjshir und Kapisa im Osten, Kabul und Wardak im Süden und Südosten und Bamyan im Westen. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Bagram, der Provinzhauptstadt Charikar, Syahgird (oder Ghurband), Jabulussaraj, Koh-e-Safi, Salang, Sayyid Khel, Shaykh Ali, Shinwari und Surkhi Parsa. Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Parwan für den Zeitraum 2019-20 auf 724.561 Personen; diese besteht hauptsächlich aus Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Qizilbash, Kuchi und Hazara (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
Der 2,7 km lange Salang-Tunnel zwischen den Provinzen Parwan und Baghlan verbindet Kabul mit Nordafghanistan. Die Zulaufstrecken sind in schlechtem Zustand und die Straßenerhaltungsarbeiten mangelhaft. Es gibt ein Projekt, den Salang-Pass mittels neuem, 12 km langem Tunnel zu durchqueren (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
Die Autobahn durch den Salang-Tunnel führt von Kabul durch die Distrikte Charikar, Jabulussaraj und Salang zur Provinz Kunduz; außerdem verbindet eine weitere Straße die Provinzen Parwan und Bamyan durch die Distrikte Charikar, Shinwari, Syahgird, Shaykh Ali und den Shibar-Pass (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
In der Provinz Parwan befindet sich die Bagram Air Base, die größte NATO-Militärbasis in Afghanistan (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 ist Parwan seit 2013 Schlafmohn frei (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Im Mai 2019 zählte eine Quelle die Provinz Parwan zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, in deren abgelegenen Distrikten Aufständische oftmals den Versuch unternehmen, terroristische Aktivitäten auszuführen. Im Juni 2019 berichtete dieselbe Quelle jedoch, dass sich die Sicherheitslage in manchen Distrikten der Provinz in den vergangenen Jahren verschlechtert hätte. So waren im August 2018 Taliban-Aufständische in den Distrikten Koh-e-Safi, Sayyid Khel, Shinwari, Siyahgird und Surkhi Parsa aktiv, von wo aus sie Angriffe auf die Provinzhauptstadt Charikar und die Luftwaffenbasis Bagram planten (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
In Bezug auf die Anwesenheit von regulären staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Parwan in der Verantwortung des 201. ANA Corps, das der Task Force East angehört, die von US-amerikanischen und polnischen Truppen geleitet wird (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 246 zivile Opfer (65 Tote und 181 Verletzte) in der Provinz Parwan. Dies entspricht einer Steigerung von 500% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von Kämpfen am Boden und Suchoperationen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
In der Provinz werden Sicherheitsoperationen durch die afghanischen Sicherheitskräfte ausgeführt. Bei manchen dieser Operationen wurden auch Zivilisten getötet. Auch kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Streitkräften. Außerdem greifen Aufständische der Taliban, manchmal auch gemeinsam mit al-Qaida, in regelmäßigen Abständen das Bagram Airfield an (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
Immer wieder kommt es auf den Straßen der Provinz Parwan zu sicherheitsrelevanten Vorfällen wie z.B. Entführungen oder Verhaftungen durch die Taliban, aber auch durch nicht identifizierte Militante (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
Während der zweitägigen Wahlen im Oktober 2018 wurden von Aufständischen Straßenblockaden errichtet, um die Bevölkerung von der Wahl abzuhalten und den Transport von Wahlmaterial zu verzögern (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.28. Parwan).
Lage in der Provinz Balkh bzw. in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif:
Grundinformationen:
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh).
Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh).
Erreichbarkeit:
Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen. Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh).
Sicherheitslage:
Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen. In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete. Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert. Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh).
Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi. Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird. Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh).
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh).
Im Winter 2018/2019 und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt. Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäßig Operationen in der Provinz unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch. Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak, Chemtal, und Nahri Shahi an (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh).
Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert. Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Provinz Balkh sowie in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO – Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, Seite 89 und 92 f).
Wirtschaftslage:
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen. Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan, wie auch ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten (LIB 13.11.2019 idF 18.05.2020, Kapitel 2.5. Balkh und 20. Grundversorgung)
Medizinische Versorgung:
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäusern; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr pri