TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/3 W169 2180468-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.09.2020
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Entscheidungsdatum

03.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W169 2180481-1/16E
W169 2180475-1/17E
W169 2180473-1/16E
W169 2180432-1/9E
W169 2180468-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Barbara MAGELE als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX , 4. XXXX , geb. XXXX , 5. XXXX , geb. XXXX , alle StA. von AFGHANISTAN, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 13.11.2017, Zlen. 1. 1105473702-160236225, 2. 1105472008-160236179, 3. 1105469209-160236250, 4. 1105470101-160236233, 5. 1166182600-171008988, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und 1. XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 sowie 2. XXXX , 3. XXXX und 4. XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1. XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX und 4. XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

II. Den Beschwerden von 1. XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX und 4. XXXX wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis. IV. stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

III. Die Beschwerde von XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

IV. In Erledigung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

V. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 2.9.2021 erteilt.

VI. Der Beschwerde von XXXX hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Gang des Verfahrens:

1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem Ehegatten, dem Zweitbeschwerdeführer, ihrer Schwiegermutter, der Drittbeschwerdeführerin und ihrem minderjährigen Sohn, dem Viertbeschwerdeführer, illegal und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein. Am 14.02.2016 stellten sie die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 15.02.2016 führte die Erstbeschwerdeführerin aus, dass sie verheiratet sei, der Volksgruppe der Hazara angehöre und im Iran von 2005 bis 2007 die Schule besucht habe. Ihre Mutter sei verstorben, als sie sieben Jahre alt gewesen sei; ihr Vater sei drogensüchtig. Sie habe keine schöne Kindheit gehabt, da ihr Vater sie und ihre Mutter immer wieder geschlagen habe. Nach dem Tod ihrer Mutter sei sie weiterhin bei ihrem drogensüchtigen Vater aufgewachsen; dieser habe immer wieder Freunde nach Hause gebracht. Eines Tages habe einer dieser Freunde, ein Iraner, die Erstbeschwerdeführerin vergewaltigt. Obwohl sie geschrieen habe, habe ihr niemand geholfen. Damals sei sie 15 Jahre alt gewesen. Sie sei dann zu ihrem jetzigen Mann, den sie damals schon gekannt habe, gegangen. Sie habe ihm alles erzählt und sie hätten „aus der Not heraus“ geheiratet. Danach hätten sie immer wieder Probleme mit ihrem Vater gehabt, der gegen die Hochzeit gewesen sei. Als er ihren Mann in der Stadt gesehen habe, sei er mit einem Messer auf ihn losgegangen und habe ihn verletzt. Aufgrund dieser Vorfälle hätten sie sich entschieden, den Iran zu verlassen, da sie befürchtet hätten, dass ihr drogensüchtiger Vater sie töten würde.

3. Die Drittbeschwerdeführerin führte im Rahmen der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 15.02.2016 aus, dass sie aus der Provinz Ghazni stamme, verwitwet sei und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Zu ihrem Fluchtgrund führte sie aus, dass sie mit ihrem Mann, einem Viehhändler, in Ghazni gelebt habe. Sie hätten drei Söhne gehabt. Zwei von ihnen seien im Haus verstorben, welches von Feinden ihres Ehegatten niedergebrannt worden sei. Dabei sei auch ihr dritter Sohn, der Zweitbeschwerdeführer, verletzt worden. Sie hätten damals Afghanistan verlassen, da sie um ihr Leben gefürchtet hätten. Nachdem sie ca. zwei Jahre im Iran gelebt hätten, sei ihr Mann von den iranischen Behörden zurück nach Afghanistan geschickt worden. Es sei ihr erzählt worden, dass es an der Grenze eine Demonstration gegeben habe, bei der die Polizei auf die Demonstranten geschossen habe. Dabei sei auch ihr Ehegatte getötet worden. Nach dem Tod ihres Ehegatten sei sie mit ihrem Sohn alleine im Iran geblieben. Mit großer Mühe habe sie als Hilfsarbeiterin bei einem Gartenbaubetrieb Geld verdienen können. Vor ca. drei Jahren habe ihr Sohn ihre nunmehrige Schwiegertochter geheiratet. Dadurch hätte sie Probleme mit deren Vater bekommen, weshalb ihr Sohn, seine Frau und sein Enkelsohn den Iran verlassen hätten müssen. Da sie nicht alleine zurückbleiben habe können, da sie außer der Familie ihres Sohnes niemanden mehr habe, hätte sie zusammen mit ihnen den Iran verlassen. Nach Afghanistan können sie nicht zurück, weil dort die Feinde ihres Ehegatten leben würden.

4. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.10.2016 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Kroatien gemäß § 13 Abs. 1 iVm Artikel 22 Abs. 7 Dublin-III-VO für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig sei. Zudem wurde gemäß § 61 Abs. 1 FPG gegen die Beschwerdeführer die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Kroatien zulässig sei.

5. Den dagegen fristgerecht erhobenen Beschwerden wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 05.12.2016 gemäß § 21 Abs. 3, 2. Satz BFA-VG stattgegeben und die bekämpften Bescheide behoben.

6. Am XXXX wurde die Fünftbeschwerdeführerin, gemeinsame Tochter der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, in Österreich geboren und stellten die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer für diese im Rahmen eines Familienverfahrens am 30.08.2017 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.

7. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 28.09.2017 führte die Erstbeschwerdeführerin aus, dass sie im Iran geboren sei, afghanische Staatsangehörige sei, der Volksgruppe der Hazara angehöre sowie schiitische Muslima sei. Sie sei mit dem Zweitbeschwerdeführer verheiratet. Sie leide an Angststörungen, Schlaflosigkeit und psychischen Problemen und müsse deshalb auch Medikamente nehmen. Diesbezügliche Bestätigungen habe sie bereits vorgelegt. Sie sei im Iran geboren und habe dort drei Jahre die Schule besucht. Als sie sieben Jahre alt gewesen sei, sei ihre Mutter verstorben. Danach habe sie ihrem Vater bei der Arbeit auf einer Hühnerfarm geholfen. Sie habe mit ihrem Vater, der drogenabhängig gewesen sei und der sie geschlagen habe, zusammengelebt; er habe für sie gesorgt. In Afghanistan lebe noch ein Onkel väterlicherseits von ihr. Wo sich ihr Vater zurzeit aufhalte, wisse sie nicht, sie habe keinen Kontakt zu ihm. Ihre Eltern hätten in Afghanistan, in der Provinz Ghazni, im Distrikt Jaghori, gelebt. Zu ihren Fluchtgründen führte die Erstbeschwerdeführerin aus, dass sie den Iran wegen ihres Vaters verlassen habe. Sie sei ohne Mutter aufgewachsen. Ihr Vater sei ein gewaltsamer Mensch gewesen, welcher immer wieder Freunde nachhause gebracht habe. Eines Abends sei sie von einem dieser Freunde vergewaltigt worden. Ihr Vater habe ihr nicht geholfen. Es sei klar gewesen, dass sie ihr Vater an diesen Freund verkauft habe. Nach der Vergewaltigung habe sie flüchten können und sei zu ihrem jetzigen Ehemann gegangen. Sie sei ohne Schuhe und Kopftuch zu seiner Mutter gelaufen und habe alles erzählt. Zehn Tage später hätten sie geheiratet. Danach seien sie nach XXXX gefahren, wo sie zweieinhalb Jahre gelebt hätten und wo ihr Ehegatte auf einer Hühnerfarm gearbeitet habe. Kurz vor dem Jahreswechsel 1394 sei ihr Ehegatte von der iranischen Polizei festgenommen und nach Afghanistan abgeschoben worden. Nach etwas mehr als einem Monat sei er wieder in den Iran zurückgekommen. Ein halbes Jahr später sei er von ihrem Vater verletzt worden. Drei Monate danach seien sie aus dem Iran ausgereist. Als ihr Ehegatte nach Afghanistan abgeschoben worden sei, sei es dort zu einem Vorfall gekommen. Er sei auf der Suche nach einer Unterkunft gewesen. Eines Tages, als er nachhause gekommen sei, habe er einen Streit schlichten und einem Mädchen helfen wollen. Der Vater des Mädchens habe ihren Ehegatten geschlagen und ihn beschuldigt, dass er das Mädchen verletzt habe. Daher habe ihr Ehegatte erneut flüchten müssen und sei wieder illegal in den Iran gereist. Sie habe ihren Ehegatten bereits zwei Jahre von ihrer Heirat gekannt und seit einem Jahr davor hätten sie bereits eine intime Beziehung gehabt. Sie sei nicht früher zu ihrem jetzigen Ehegatten gezogen, zumal ihr Vater mit diesem nicht einverstanden gewesen sei. Sie habe keine Anzeige gegen ihren Vater im Iran erstattet, weil sie keine Aufenthaltskarten gehabt und sich illegal im Iran aufgehalten hätten. Ihre beiden Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan hätte sie auch Angst vor ihrem Onkel, der jetzt wieder in Afghanistan lebe. Er würde sie töten, weil sie mit ihrem jetzigen Ehegatten weggelaufen sei. Darüber hinaus gebe es keine Frauenrechte in Afghanistan.

Im Rahmen der Einvernahme legte die Erstbeschwerdeführerin Deutschkursbestätigungen, die Geburtsurkunde der Fünftbeschwerdeführerin sowie Arztbefunde hinsichtlich des minderjährigen Viertbeschwerdeführers und einen Befundbericht einer Fachärztin für Psychiatrie vom 19.09.2017 betreffend die Erstbeschwerdeführerin vor.

8. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 29.09.2017 gab die Drittbeschwerdeführerin an, dass sie in der Stadt Ghazni geboren sei. Sie sei am Kopf operiert worden und müsse deswegen ständig Medikamente nehmen. Seit ihrer Geburt habe sie in der Stadt Ghazni gelebt. Sie habe in Afghanistan keine Schule besucht, mit 25 Jahren geheiratet und sei Hausfrau gewesen. Ihr Gatte habe gearbeitet. Er sei gemeinsam mit seinen beiden Brüdern Schafhändler gewesen. Finanziell sei es ihnen gut gegangen. In Afghanistan habe sie keine Verwandten mehr. Mit den dortigen Behörden habe sie keine Probleme gehabt. Zu den Fluchtgründen brachte die Drittbeschwerdeführerin vor, dass ihr Mann einem Paschtunen 60 Schafe verkauft habe. Dieser habe gesagt, dass er das Geld in einer Woche bekommen würde. Nach einer Woche sei ihr Gatte zu ihm gegangen und habe das Geld verlangt. Der Paschtune habe gesagt, dass er kein Geld bekommen werde. Daraufhin habe ihr Ehegatte ihm gedroht und gesagt, dass er ihn anzeigen werde. Dann sei ihr Ehegatte nach Hause gegangen. Kurze Zeit später habe es an der Türe geklopft. Sie habe die Tür geöffnet und es sei ihr auf den Kopf geschlagen worden, weshalb sie das Bewusstsein verloren habe. Später habe sie erfahren, dass das Haus niedergebrannt worden sei. Dabei seien ihr Mann, ihre beiden Schwager und der Zweitbeschwerdeführer verletzt worden und ihre beiden anderen Söhne ums Leben gekommen. Bei dieser Auseinandersetzung seien auch zwei Paschtunen ums Leben gekommen. Danach seien sie für ca. 40 Tage nach Pakistan gegangen, wo sie sich ärztlich behandeln hätten lassen. Von dort seien sie in den Iran gereist. Den Iran habe sie wegen des Vaters ihrer Schwiegertochter verlassen müssen. Darüber hinaus hätten sie sich auch illegal im Iran aufgehalten. Ihr Sohn, der Zweitbeschwerdeführer, sei im Iran drei Monate vor der Ausreise von seinem Schwiegervater mit dem Messer verletzt worden. Weiters führte die Drittbeschwerdeführerin an, dass sie ein schweres Leben hinter sich habe. Sie habe trotz ihrer Krankheit schwer arbeiten müssen. Seit sie in Österreich sei, habe sie sich erholen können. Es sei schwer gewesen, ohne Mann zu leben. Keiner habe ihr geholfen. Nach Afghanistan könne sie nicht mehr zurück, zumal sie alleinstehend sei. Aufgrund einer Kopfverletzung, die ihr „von den Paschtunen“ zugefügt worden sei, sei sie zweimal operiert worden. In Pakistan sei sie deshalb erstversorgt worden. Auch im Iran sei sie für einen Monat im Krankenhaus gewesen, sechs Monate habe sie Medikamente nehmen müssen. Weiters gab die Drittbeschwerdeführerin an, dass sie seit neunzehn Jahren verwitwet sei.

9. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Den Beschwerdeführern wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurden gegen sie Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

10. Dagegen haben die Beschwerdeführer durch ihren rechtsfreundlichen Vertreter fristgerecht Beschwerde erhoben und sind den beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl substantiiert entgegengetreten. Darüber hinaus wurde der Antrag gestellt, eine mündliche Beschwerdeverhandlung beim Bundesverwaltungsgericht durchzuführen.

11. Am 13.07.2018, am 01.04.2019 und am 24.02.2020 legten die Beschwerdeführer durch ihren rechtsfreundlichen Vertreter diverse medizinische Befunde der Erstbeschwerdeführerin, des Zweitbeschwerdeführers und der Drittbeschwerdeführerin sowie ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.

12. Mit Schriftsatz vom 17.07.2020 brachten die Beschwerdeführer zu dem ihnen übermittelten aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation eine Stellungnahme bezüglich der COVID-19 Krise in Afghanistan ein und führten darüber hinaus an, dass alle Beschwerdeführer lange im Iran gelebt hätten bzw. im Iran geboren seien; die Fünftbeschwerdeführerin sei sogar in Österreich geboren. Die Beschwerdeführer hätten in Afghanistan keine Existenzgrundlage und kein Netzwerk mehr. Eine Neuansiedelung ohne den erforderlichen sozialen Hintergrund – und unter den Umständen der gegenwärtigen humanitären Krise, welche durch die COVID-19 Krise enorme Ausmaße angenommen habe, – sei den Beschwerdeführern nicht zumutbar. Sie würden in eine ausweglose Notlage geraten.

In einem wurden diverse Fotos der Erstbeschwerdeführerin, welche sie bei ihren Freizeitaktivitäten zeigen, ein Empfehlungsschreiben einer Pfarrerin der evangelischen Kirche in Hartberg vom 05.06.2020, aktuelle medizinische Befunde hinsichtlich der psychischen Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin und deren Behandlung sowie eine Bestätigung über den Besuch des Kindergartens betreffend den minderjährigen Viertbeschwerdeführer vorgelegt.

13. Am 23.07.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin sowie ihr rechtsfreundlicher Vertreter teilgenommen haben. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist entschuldigt nicht erschienen. Im Rahmen der Verhandlung wurden die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen, ihren Rückkehrbefürchtungen sowie ihren Integrationsbemühungen in Österreich befragt (siehe Verhandlungsprotokoll vom 23.07.2020).

Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung legten die Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Afghanistan und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Ehegattin des Zweitbeschwerdeführers, die Drittbeschwerdeführerin ist die Mutter des Zweitbeschwerdeführers, und der minderjährige Viertbeschwerdeführer und die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin sind die gemeinsamen Kinder der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde im Iran geboren, ist dort aufgewachsen und hat dort drei Jahre die Schule besucht. Im Alter von sieben Jahren ist ihre Mutter verstorben. Danach lebte sie gemeinsam mit ihrem drogensüchtigen und gewalttätigen Vater zusammen. Ab dem Alter von sieben Jahren hat sie mit ihrem Vater zusammen in einem Hühnerstall gearbeitet. Die Erstbeschwerdeführerin wurde im Iran im Alter von 15 Jahren von einem Freund ihres Vaters vergewaltigt. Danach suchte sie bei ihrem jetzigen Ehegatten, den sie ein bis eineinhalb Jahre vor der Vergewaltigung bereits kennengelernt hatte, und seiner Mutter um Schutz. Im Alter von 15 Jahren heiratete die Erstbeschwerdeführerin im Iran den Zweitbeschwerdeführer und lebte nach der Eheschließung ca. eineinhalb bis zwei Jahre in Palangabad. Dort arbeitete sie gemeinsam mit ihrem Ehegatten in einem Hühnerstall. In Palangabad wurde der Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin von ihrem Vater mit einem Messer an der Hand verletzt, da er mit der Heirat nicht einverstanden war. Die Eltern der Erstbeschwerdeführerin stammen aus Ghazni. In Afghanistan leben der Vater der Erstbeschwerdeführerin und dessen Familie. Wo diese sich zurzeit aufhalten, weiß die Erstbeschwerdeführerin nicht. Die Erstbeschwerdeführerin hat noch nie in Afghanistan gelebt. Sie leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, wird diesbezüglich medikamentös behandelt und befindet sich seit zweieinhalb bis drei Jahren auch in psychologischer Behandlung (Gesprächstherapie).

Die Erstbeschwerdeführerin ist eine junge selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die Erstbeschwerdeführerin beabsichtigt, in Österreich einer Arbeit nachzugehen, um berufliche Selbstständigkeit zu erlangen. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.

Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht und die Integrationsprüfung auf dem Niveau A1 bestanden. Sie besucht zur Zeit einen Deutschkurs und kann sich auf Deutsch unterhalten. Zudem besuchte sie in Österreich einen Werte- und Orientierungskurs. Sie geht in Österreich alleine einkaufen und alleine zum Arzt. In ihrer Freizeit geht sie mit ihren Freundinnen schwimmen, shoppen, ins Restaurant bzw. ins Caféhaus. Sie möchte gerne Fotografin werden und hat sich diesbezüglich auch schon informiert. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer kümmern sich gemeinsam um die Erziehung ihrer minderjährigen Kinder. Die Erstbeschwerdeführerin führt in Österreich ein selbstbestimmtes Leben, trägt kein Kopftuch und wird von ihrem Ehegatten diesbezüglich auch unterstützt. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Sie möchte dieses Jahr noch den Pflichtschulabschluss machen. Sie ist sehr engagiert im Kindergarten des minderjährigen Viertbeschwerdeführers. In Österreich lebt sie gemeinsam mit ihrem Ehegatten, ihren minderjährigen Kindern und ihrer Schwiegermutter zusammen.

Der Zweitbeschwerdeführer wurde in der Stadt Ghazni, in der Region Moi Mobarak, geboren. Im Alter von drei Jahren zog er mit seinen Eltern in den Iran, wo er vier Jahre die Schule besuchte. Im Iran arbeitete er auf Baustellen und auf einer Hühnerfarm. Der Zweitbeschwerdeführer hat keine Familienmitglieder mehr in Afghanistan. Im Jahr 2013/2014 wurde er von der iranischen Polizei nach Afghanistan abgeschoben, wo er sich ca. 40 bis 45 Tage in der Stadt Kabul aufhielt. Danach ist er wieder illegal in den Iran zurückgekehrt. Der Zweitbeschwerdeführer ist gesund. Der Zweitbeschwerdeführer besuchte in Österreich Deutschkurse, hat die A2-Prüfung bestanden und spricht gut Deutsch. Er besuchte vor einem Jahr einen Werte- und Orientierungskurs, hat österreichische Freunde und ist Mitglied bei einem Fußballverein in seiner Heimatgemeinde. Er leistet ehrenamtliche Tätigkeiten.

Die Drittbeschwerdeführerin wurde in Stadt Ghazni geboren, ist dort aufgewachsen und hat niemals eine Schule besucht. Sie verließ mit ihrem Ehegatten und dem Zweitbeschwerdeführer, als dieser drei Jahre alt war, Afghanistan und ging in den Iran ( XXXX ). Sie kehrte nie wieder nach Afghanistan zurück. Nach ca. zwei Jahren wurde ihr Ehegatte von der iranischen Polizei nach Afghanistan abgeschoben. Am Grenzübergang kam es zu einer Demonstration, im Zuge derer ihr Ehegatte von den iranischen Soldaten erschossen wurde. Nach dem Tod ihres Ehegatten arbeitete die Drittbeschwerdeführerin in der Landwirtschaft, um den Lebensunterhalt für sich und den Zweitbeschwerdeführer sichern zu können. Die verwitwete Drittbeschwerdeführerin hat keine Familienmitglieder mehr in Afghanistan, auch hat sie keine Grundstücke oder sonstige Besitztümer mehr im Heimatland.

Die Angaben der Drittbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen aus Afghanistan sind nicht glaubwürdig und werden dem Verfahren nicht zugrunde gelegt.
Der Drittbeschwerdeführerin droht in Afghanistan keine Gefahr aufgrund einer „westlichen Orientierung“. Die 69-jährige Drittbeschwerdeführerin besucht in Österreich keine Deutschkurse und spricht nicht Deutsch. Sie verbringt ihre Zeit mit ihren Enkeln zuhause und passt auf diese auf. Sie besuchte in Österreich einen Werte- und Orientierungskurs. Die Drittbeschwerdeführerin ist in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise nicht in dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert. Sie konnte nicht glaubhaft darlegen, dass sie während ihres Aufenthaltes in Österreich eine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreitenden gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würden. Folglich kann die Drittbeschwerdeführerin nicht als „westlich orientiert“ angesehen werden.

Die Drittbeschwerdeführerin hat im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung zu befürchten. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde die 69-jährige alleinstehende und verwitwete Drittbeschwerdeführerin jedoch in eine ausweglose Lage geraten, da sie über keine Familienangehörige und Besitztümer mehr in Afghanistan verfügt. Die Drittbeschwerdeführerin leidet an altersbedingtem Grauen Star und wurde deswegen in Österreich im November 2017 operiert. Zudem nimmt sie Tabletten gegen Kopfschmerzen.

Der minderjährige Viertbeschwerdeführer wurde im Iran, die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Der Viertbeschwerdeführer besucht in Österreich den Kindergarten, die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin wird ab September den Kindergarten besuchen. Für den minderjährigen Viertbeschwerdeführer und die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.

Die Beschwerdeführer sind strafgerichtlich unbescholten und nehmen Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch.

1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:
Sicherheitslage in der Provinz Ghazni

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans und grenzt an die Provinzen Bamyan und Wardak im Norden, Logar, Paktya und Paktika im Osten, Zabul im Süden und Uruzgan und Daykundi im Westen. Ghazni liegt an keiner internationalen Grenze (UNOCHA 4.2014). Die Provinz ist in 19 Distrikte unterteilt: die Provinzhauptstadt Ghazni-Stadt sowie den Distrikte Ab Band, Ajristan, Andar (auch Shelgar genannt (AAN 22.5.2018)), De Hyak, Gelan, Giro, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur, Nawa, Nawur, Qara Bagh, Rashidan, Waghaz, Wali Muhammad Shahid (Khugyani) und Zanakhan (CSO 2019). Nach Schätzungen der CSO für den Zeitraum 2019-20 leben 1.338.597 Menschen in Ghazni (CSO 2019). Die Provinz wird von Paschtunen, Tadschiken und Hazara sowie von mehreren kleineren Gruppen wie Bayats, Sadats und Sikhs bewohnt (PAJ o.D.). Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken (NPS o.D.).

Die Stadt Ghazni liegt an der Ring Road, welche die Hauptstadt Kabul mit dem großen Ballungszentrum Kandahar im Süden verbindet und auch die Straße zu Paktikas Hauptstadt Sharan zweigt in der Stadt Ghazni von der Ring Road ab, die Straße nach Paktyas Hauptstadt Gardez dagegen etwas nördlich der Stadt. Die Kontrolle über Ghazni ist daher von strategischer Bedeutung (CJ 13.8.2018). Einem Bericht vom Dezember 2018 zufolge steht die Ghazni-Paktika-Autobahn unter Taliban-Kontrolle und ist für Zivil- und Regierungsfahrzeuge gesperrt, wobei die Aufständischen weiterhin Druck auf die Kabul-Kandahar-Autobahn ausüben (AAN 30.12.2018), bzw.

Straßenkontrollen durchführen (PAJ 31.1.2019). Im Mai 2019 war die Ghazni-Paktika-Autobahn seit einem Jahr geschlossen (PAJ 13.5.2019a). Auch die Ghazni-Paktia-Autobahn war Anfang März 2019 trotz einer 20-tägigen Militäroperation (PAJ 27.2.2019) gegen die Taliban immer noch gesperrt (BAMF 4.3.2019; vgl. PAJ 27.2.2019). Im Mai 2019 führten die Regierungskräfte an den Rändern von Ghazni-Stadt Räumungsoperationen zur Befreiung der Verkehrswege durch (KP 16.5.2019). Die Kontrolle über die Straße nach Gardez, der Provinzhauptstadt von Paktia ist bedeutsam für die Verteidigung von Ghazni, da sich die Militärbasis des für die Provinz zuständigen Corps dort befindet (AAN 25.7.2018).

Gemäß dem UNODC Opium Survey 2018 gehörte Ghazni 2018 nicht zu den zehn wichtigsten schlafmohnanbauenden Provinzen Afghanistans. Während die Provinz zwischen 2013 und 2016 schlafmohnfrei war, wurden 2017 etwa 1.000 Hektar angebaut. Im Jahr 2018 nahm die Anbaufläche um 64% ab. Der größte Teil von Ghazni's Schlafmohn wurde 2018 im volatilen Distrikt Ajristan angebaut (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Ghazni gehörte im Mai 2019 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. TalibanKämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben (KP 27.5.2019).

Aufgrund der Präsenz von Taliban-Aufständischen in manchen Regionen der Provinz, gilt Ghazni als relativ unruhig (XI 22.9.2019), so standen beispielsweise Ende 2018, einem Bericht zufolge, acht Distrikte der Provinz unter Kontrolle der Taliban gestanden haben, fünf weitere Distrikte waren stark umkämpft (AAN 30.12.2018). Im Jänner 2019 wurde berichtet, dass die administrativen Angelegenheiten der Distrikte Andar, Deh Yak, Zanakhan, Khwaja Omari, Rashidan, Jaghatu, Waghaz und Khugyani aufgrund der Sicherheitslage bzw. Präsenz der Taliban nach Ghazni-Stadt oder in die Nähe der Provinzhauptstadt verlegt wurden. Aufgrund der Sicherheitslage sei es für die Bewohner schwierig, zu den neuen administrativen Zentren zu gelangen (PAJ 27.1.2019). Dem Verteidigungsminister zufolge, sind in der Provinz mehr Taliban und Al-Qaida-Kämpfer aktiv, als in anderen Provinzen. Dem Innenminister zufolge, hat sich die Sicherheitslage in der Provinz verschlechtert und die Taliban erlitten bei jüngsten Zusammenstößen schwere Verluste (PAJ 19.4.2019).

In Ergänzung zur Afghan National Police (ANP), der Afghan Local Police (ALP) und der paramilitärischen Kräfte des National Directorate of Security (NDS) entsteht im Distrikt Jaghuri im Rahmen eines Pilotprojekts eine neu eingerichtete Afghan National Army Territorial Force (ANA TF). Diese lokale Einheit soll die Bevölkerung schützen und Territorium halten, ohne von lokalen Machthabern oder Gruppeninteressen vereinnahmt zu werden (AAN 15.1.2019). Während des Angriffs auf Ghazni-Stadt im August 2018 wurden die afghanischen Regierungskräfte von USamerikanischen Streitkräften unterstützt – laut einer Quelle nicht nur durch Luftangriffe, sondern auch von US-Spezialeinheiten am Boden (TM 23.8.2018). Ghazni liegt im Verantwortungsbereich des 203. ANA Tandar Corps (USDOD 6.2019; vgl. AAN 25.7.2018) das der Task Force Southeast untersteht, die von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) in der Provinz Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordattentate, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Kämpfen am Boden (UNAMA 2.2020).

Einem UN-Bericht zufolge, war Ghazni neben Helmand und Farah zwischen Februar und Juni 2019 eines der aktivsten Konfliktgebiete Afghanistans. Mehr als die Hälfte aller Luftangriffe fanden in diesem Zeitraum in den Provinzen Helmand und Ghazni statt. Anfang April 2019 beschloss die Regierung die „Operation Khalid“, welche unter anderem auf Ghazni fokussiert (UNGASC 14.6.2019). Auch die Winteroperationen 2018/2019 der ANDSF konzentrierten sich unter anderem auf diese Provinz (UNGASC 28.2.2019). In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen (z.B. KP 27.7.2019; KP 25.7.2019; KP 22.7.2019, MENAFN 22.7.2019); ebenso werden Luftangriffe in der Provinz durchgeführt (PAJ 17.3.2019). Bei manchen militärischen Operationen werden beispielsweise Taliban getötet (KP 25.7.2019; vgl. KP 22.7.2019). Außerdem kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (PAJ 30.3.2019; vgl. PAJ 16.2.2019, SP 15.8.2018). Auch verlautbarte die Regierung im September 2019 nach wie vor Offensiven gegen die Aufständischen in der Provinz zu führen, um das Territorium der Taliban zu verkleinern (XI 22.9.2019).

Mitte August 2018 eroberten die Taliban große Teile der Stadt Ghazni, was zu heftigen Kämpfen zwischen den Aufständischen und den Regierungskräften führte (SP 15.8.2018). Nach fünf Tagen erlangte die Regierung wieder die Kontrolle über die Provinzhauptstadt (AAN 16.12.2018). Die dabei durchgeführten Luftangriffe führten zu zivilen Opfern und zerstörten Häuser von Zivilisten (AAN 16.12.2018; vgl. UNAMA 24.2.2019). UNAMA verzeichnete 262 zivile Opfer (79 Tote, 183 Verletzte) im Zusammenhang mit dem Talibanangriff im August 2018 (UNAMA 24.2.2019). Zeitgleich mit dem Angriff auf die Stadt Ghazni eroberten die Taliban den Distrikt Ajristan westlich der Provinzhauptstadt (NYT 12.8.2018; vgl. TN 13.8.2018). Im November 2018 starteten die Taliban eine Großoffensive gegen die von Hazara dominierten Distrikte Jaghuri und Malistan, nachdem die Aufständischen bereits Ende Oktober das benachbarte Khas Uruzgan in der Provinz Uruzgan angegriffen hatten (RFE/RL 13.11.2018; vgl. AAN 29.11.2018). Bis Ende November 2018 wurden die Taliban aus Jaghuri und Malistan vertrieben (AAN 29.11.2018).

Die Parlamentswahlen, die im Oktober 2018 hätten stattfinden sollen, wurden in Ghazni aufgrund der volatilen Sicherheitslage zunächst auf April 2019 verschoben (AAN 16.8.2018). Ende Dezember 2018 kündigte die Unabhängige Wahlkommission (independent election commission, IEC) an, dass die Parlamentswahlen in Ghazni sowie die Präsidentschaftswahlen in ganz Afghanistan im Juli 2019 mit dreimonatiger Verspätung stattfinden würden (F24 30.12.2018). Neben der Sicherheitslage nannte ein Bericht des UN-Generalsekretärs auch Proteste, welche die Provinzzentrale der IEC blockierten, als einen Grund für die Verschiebung der Wahl in Ghazni (UNGASC 28.2.2019).

Quellen:

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Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (AA 2.9.2019; vgl. CIA 30.4.2019, USDOS 21.6.2019); in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019, MPI 2004). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USODS 21.6.2019; vgl. AA 9.11.2016). Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie (USDOS 21.6.2019). Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (USDOS 29.5.2018).

Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 21.6.2019). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 21.6.2019; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 21.6.2019).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind.

Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime (USDOS 21.6.2019).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.2.2019). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 21.6.2019).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 21.6.2019). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 21.6.2019).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 21.6.2019).

Quellen:

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Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 21.6.2019).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 2.9.2019). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2018 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34% (USDOS 21.6.2019). In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019, CRS 1.5.2019).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 4.2.2019). Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien.

Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind (USDOS 21.6.2019).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30% (AB 7.6.2017; vgl. USIP 14.6.2018, AA 2.9.2019). Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 21.6.2019).

Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (USDOS 21.6.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_ asyl-

_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_201 9%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        AB – Afghan Bios (7.6.2017): National Ulema Council Afghanistan AUC, http://www.afghanbios.info/index.php?option=com_afghanbios&id=1218&task=view&total=3340&start=3067&Itemi d=2, Zugriff 3.5.2019

?        CRS – Congressional Research Service (1.5.2019): Afghanistan: Background and U.S. Policy In Brief, https://fas.org/sgp/crs/row/R45122.pdf, Zugriff 3.5.2019

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 – Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2004321.html, Zugriff 3.5.2019

?        USDOS – U.S. Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious

Freedom: Afghanistan, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2019/05/AFGHANISTAN-

2018-INTERNATIONAL-RELIGIOUS-FREEDOM-REPORT.pdf, Zugriff 24.6.2019

?        USIP – US Institute of Peace (14.6.2018): Afghanistan’s Imams Helped Achieve a Surprise Truce, https://www.usip.org/publications/2018/06/afghanistans-imams-helped-achieve-surprisetruce, Zugriff 3.5.2019

Relevante ethnische Minderheiten

Letzte Änderung: 22.4.2020

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 35 Millionen Menschen (CIA 30.4.2019; vgl. CSO 2019). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (BFA 7.2016 ; vgl. CIA 30.4.2019). Schätzungen zufolge, sind: 40 bis 42% Pashtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 2.9.2019).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (BFA 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 11.3.2020).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 2.9.2019). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

?        ? AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_ die_asyl-

_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli _2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        BFA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentatio

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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