TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/4 W152 2135936-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.09.2020
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Entscheidungsdatum

04.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §55
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch

W152 2135936-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Walter KOPP über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Mongolei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.09.2016, Zl. 580052303-150489029, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.08.2020

A)

beschlossen:

I. Das Verfahren wird wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß § 13 Abs. 7 AVG idgF iVm §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG idgF hinsichtlich der Spruchpunkte I und II des angefochtenen Bescheides eingestellt.

zu Recht erkannt:

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß
§ 52 FPG idgF iVm § 9 BFA-VG idgF auf Dauer unzulässig ist. XXXX wird gemäß §§ 58 Abs. 2, 54 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 idgF iVm § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG idgF iVm § 10 Abs. 2 Z 5 IntG idgF der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.

III. Spruchpunkt IV des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG idgF ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG idgF nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

Die Beschwerdeführerin reiste am 16.09.2012 mit einem Visum D legal in das Bundesgebiet ein und stellte am 11.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland, wies mit Bescheid vom 13.09.2016, Zahl: 580052303-150489029, den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Mongolei abgewiesen (Spruchpunkt II), wobei weiters ausgesprochen wurde, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Antragstellerin gemäß § 46 FPG in die Mongolei zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V).

Gegen den zuletzt genannten Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.09.2016, GZ: W152 2135936-1/3Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Im Rahmen der vor dem Bundesverwaltungsgericht am 20.08.2020 vorgenommenen Verhandlung (hg. OZ 29Z) zog die Vertretung der Beschwerdeführerin die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I und II des angefochtenen Bescheides zurück, wobei explizit ausgeführt wurde, dass die Zurückziehung hinsichtlich Spruchpunkt I aus dem Grunde erfolge, weil die Beschwerdeführerin davon ausgehe, dass die Aktualität der Gefährdung nicht mehr in dem Maße vorliege, wie sie im Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen habe.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Feststellungen (Sachverhalt):

Die strafgerichtlich unbescholtene Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Mongolei, lebt nunmehr seit 16.09.2012 – somit seit nahezu 8 Jahren – ohne Unterbrechung im Bundesgebiet, wobei sie am 16.09.2012 mit einem Visum D legal einreiste. Am 11.05.2015 stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführerin schloss mit dem österreichischen Staatsangehörigen XXXX geb. XXXX , am 20.02.2020 die Ehe. Das Verhältnis der Ehegatten kann als sehr innig bezeichnet werden, wobei keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Scheinehe erkennbar sind. Die Beschwerdeführerin lernte ihren nunmehrigen Ehegatten bereits vor etwa zwei Jahren kennen und lebt mit diesem seit Februar 2020 im gemeinsamen Haushalt in XXXX , wo sie auch gemeldet ist. Ihr Ehegatte verfügt an dieser Adresse über eine Eigentumswohnung und arbeitet als Kellner in XXXX , wodurch der Unterhalt der Beschwerdeführerin gesichert ist. Am XXXX wurde nunmehr die gemeinsame Tochter – XXXX – geboren, für die am 13.05.2020 der Staatsbürgerschaftsnachweis über die österreichische Staatsbürgerschaft ausgestellt wurde.

Die Beschwerdeführerin legte am 19.06.2017 die Pflichtschulabschluss-Prüfung ab, wobei sie im Prüfungsgebiet „Deutsch-Kommunikation und Gesellschaft“ mit „Gut“ beurteilt wurde. Am 11.05.2018 erwarb sie das „ÖSD Zertifikat Deutsch Österreich B1“, wobei sie die diesbezügliche Prüfung ebenfalls mit dem Kalkül „Gut“ absolvierte. Im Rahmen der vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Verhandlung stellte die Beschwerdeführerin auch ihre Sprachkenntnisse unter Beweis, wobei festgestellt werden konnte, dass ihre deutschen Sprachkenntnisse als weit überdurchschnittlich zu bewerten sind und eine Bewältigung des Alltags mühelos zulassen. Die Beschwerdeführerin leistete auch vom 11.12.2018 bis zu ihrer Eheschließung freiwillige Mitarbeit in den Einrichtungen des Diakonie Flüchtlingsdienstes. Sie interessierte sich bereits nachweislich für die Aufnahme an der Schule für Sozialbetreuungsberufe in XXXX , wobei sie ihre berufliche Zukunft in der Kranken- und Altenpflege sieht.

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 20.08.2020.

Die Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin ergeben sich insbesondere aus ihrem im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung erstatteten glaubwürdigen Vorbringen, der (auch im Original vorgelegten) Heiratsurkunde und dem Auszug aus dem Heiratseintrag vom jeweils 20.02.2020, der (ebenfalls auch im Original vorgelegten) Geburtsurkunde der gemeinsamen Tochter – XXXX , geb. XXXX – und deren österreichischem Staatsbürgerschaftsnachweis, der im Rahmen der Verhandlung am 20.08.2020 vorgenommenen zeugenschaftlichen Einvernahme ihres Ehegatten XXXX , geb. XXXX , dessen Aussage auch keinerlei Anhaltspunkte für eine Scheinehe ergaben, wobei darauf hingewiesen wird, dass die Ehegatten nahezu gleich alt sind, dem (auch im Original vorgelegten) Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung vom 19.06.2017, dem (ebenfalls auch im Original vorgelegten) „ÖSD Zertifikat Deutsch Österreich B1“ vom 11.05.2018, einer Bestätigung des Diakonie Flüchtlingsdienstes vom 11.12.2018 über die freiwillige Mitarbeit der Beschwerdeführerin und der Einsichtnahme in das Strafregister (SA) bezüglich der Beschwerdeführerin und den Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister (ZMR) bezüglich der Beschwerdeführerin und ihres Ehegatten. Weiters wird auch darauf hingewiesen, dass der zur Verhandlung erschienene Vertreter des Bundesamtes hiebei zu Protokoll gab, dass das Bundesamt von einer Feststellung des Familienlebens ausgehe und eine Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Mongolei eine Verletzung des Art. 8 EMRK bedeute.

Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I Nr. 10/2013 (BVwGG), entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I 33/2013 idgF (VwGVG), geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, unberührt.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. 51/1991 (AVG), mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 (BAO), des Agrarverfahrensgesetzes, BGBl. Nr. 173/1950 (AgrVG), und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984, BGBl. Nr. 29/1984 (DVG), und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Zu Spruchpunkt A):

I.)

Gemäß § 13 Abs. 7 AVG können Anbringen in jeder Lage des Verfahrens zurückgezogen werden.

In welchen Fällen das Verfahren einzustellen ist, regelt das VwGVG nicht. Die Einstellung steht am Ende jenes Verfahrens, in denen ein Erledigungsanspruch nach Beschwerdeeinbringung verloren geht, worunter auch der Fall der Zurückziehung der Beschwerde zu subsumieren ist (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Aufl. [2018] § 28 VwGVG, Anm. 5).

Ein beim Verwaltungsgericht anhängiges Beschwerdeverfahren ist mit Beschluss einzustellen, wenn die Beschwerde rechtswirksam zurückgezogen wird (z.B. VwGH 29.04.2015,
Fr 2014/20/0047).

Da die Vertretung der Beschwerdeführerin die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I und II des angefochtenen Bescheides zurückgezogen hat, sind diese rechtskräftig geworden und das diesbezügliche Verfahren gemäß § 13 Abs. 7 AVG iVm §§ 28 Abs. 1 und 31 Abs. 1 VwGVG mit Beschluss einzustellen.

II.)

§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG idgF lautet:

„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.“

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.

Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 31110/67, Yb 11, 494(518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde auch von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Art. 8 EMRK macht zwischen ehelicher und nichtehelicher Familie keinen Unterschied (EGMR 13.06.1979, 6833/74, Marckx gg Belgien, Z 31; EGMR 27.10.1994, 18535/91, Kroon und andere gg die Niederlande). Familienleben ist jedoch nicht auf Beziehungen beschränkt, die auf einer Ehe beruhen (EGMR 26.05.1994, 16.969/90, Keegan vs Irland, EGMR 13.07.2000, 25.735/94, Elsholz gg Deutschland) und umfasst daher auch eheähnliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau.

Bei der Prüfung der Zulässigkeit von Ausweisungen und dem damit verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben hat eine Einzelfallprüfung zu erfolgen, die sich nicht in der formelhaften Abwägung iSd Art. 8 EMRK erschöpfen darf, sondern auf die individuelle Lebenssituation des von der Ausweisung Betroffenen eingehen muss. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 29.09.2007, B328/07, dargelegt hat, lassen sich aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes eine Vielzahl von Kriterien ableiten, die bei der gebotenen Interessensabwägung zu beachten sind. Dazu zählen vor allem die Aufenthaltsdauer, die an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft ist (EGMR vom 31.01.2006, 50.435/99), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR vom 28.05.1985, 9214/80, 9473/81, 9474/81 ua.) und dessen Intensität (EGMR vom 02.08.2001, 54.273/00), der Grad der Integration, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- oder Berufsausbildung, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (EGMR vom 04.10.2001, 43.359/98 ua.), die Bindung zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.) und die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.).

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in den die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der VwGH eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (VwGH 16.12.2014, 2012/22/0169; VwGH 09.09.2014,, 2013/22/0247; VwGH 30.07.2014, 2013/22/0226). Im Fall, dass ein isgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der VwGH seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandaufenthalt des Fremden zugrunde (VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).

Da die strafgerichtlich unbescholtene Beschwerdeführerin nunmehr bereits seit 16.09.2012 – somit seit nahezu 8 Jahren – ohne Unterbrechung in Österreich lebt, mit einem österreichischen Staatsangehörigen verheiratet ist und mit diesem nunmehr auch eine gemeinsame Tochter hat, bereits über außergewöhnliche Deutschkenntnisse verfügt – so legte die Beschwerdeführerin bereits die Pflichtschulabschluss-Prüfung ab, wobei sie im Prüfungsgebiet „Deutsch-Kommunikation und Gesellschaft“ mit „Gut“ beurteilt wurde, und erwarb das Sprachzertifikat B1 ebenfalls mit dem Kalkül „Gut“, wobei sie ihre deutschen Sprachkenntnisse auch im Rahmen der Verhandlung unter Beweis stellte –, freiwillige Mitarbeit beim Diakonie Flüchtlingsdienst leistete, wobei die Interessen der Beschwerdeführerin insbesondere angesichts der bereits langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und der im gegenständlichen Fall besonders hohe Intensität des Familienlebens somit die öffentlichen Interessen überwiegen, würde eine Rückkehrentscheidung eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen. Daraus ergibt sich, dass die vorliegenden Umstände nicht bloß vorübergehende sind, weshalb die Rückkehrentscheidung auf Dauer als unzulässig festzustellen ist.

Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

Aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum FrÄG 2015 ergibt sich hiezu, dass damit zusätzlich klargestellt werden soll, dass auch das Bundesverwaltungsgericht – in jeder Verfahrenskonstellation – über einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 absprechen darf. Es handelt sich hiebei jedoch nicht um eine Einräumung einer amtswegigen Entscheidungszuständigkeit für das Bundesverwaltungsgericht, welche entsprechend dem Prüfungsbeschluss des VfGH vom 26. Juni 2014 (E 4/2014) als unzulässig zu betrachten wäre, da die Frage der Erteilung des Aufenthaltstitels diesfalls vom Prüfungsgegenstand einer angefochtenen Rückkehrentscheidung mitumfasst ist und daher in einem zu entscheiden ist.

Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Die Beschwerdeführerin erfüllt somit jedenfalls die Voraussetzung des § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005.

Gemäß § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG beinhaltet die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10) das Modul 1.

Gemäß § 10 Abs. 2 Z 5 IntG ist das Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige u.a. eine positive Beurteilung im Prüfungsgebiet „Deutsch-Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBI. I Nr. 72/2012, nachweist.

Gemäß § 54 Abs. 1 AsylG 2005 werden Drittstaatsangehörigen folgende Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt:

1. „Aufenthaltsberechtigung plus", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt;

2. „Aufenthaltsberechtigung", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt;

3. „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.

Gemäß Abs. 2 leg. cit. sind diese Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Da die Beschwerdeführerin eine positive Beurteilung im Prüfungsgebiet „Deutsch-Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBI. Nr. 72/2012, nachgewiesen hat, erfüllt sie gemäß § 10 Abs. 2 Z 5 Integrationsgesetz (IntG) das Modul 2 der Integrationsvereinbarung und somit iVm § 9 Abs. 4 letzter Satz IntG (auch) die Voraussetzung gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“, weshalb ihr somit gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat der Beschwerdeführerin den Aufenthaltstitel gemäß § 58 AsylG 2005 auszufolgen. Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

III.)

Im Hinblick auf Spruchpunkt A) II. der gegenständlichen Entscheidung war Spruchpunkt IV des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos zu beheben.

Zu Spruchpunkt B):

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 1985/10 idgF (VwGG), hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Schließlich liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Hiebei wird einerseits auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf die Eindeutigkeit der Rechtslage und andererseits darauf verwiesen, dass der gegenständliche Fall ohnedies maßgeblich auf der Tatsachenebene zu beurteilen war.

Aufgrund der Deutschkenntnisse der Beschwerdeführerin war die Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung iSd § 12 Abs. 1 BFA-VG idgF entbehrlich.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Deutschkenntnisse Ehe Familienleben gemeinsamer Haushalt Integration Integrationsvereinbarung Interessenabwägung Privat- und Familienleben Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W152.2135936.1.00

Im RIS seit

24.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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