Entscheidungsdatum
11.09.2020Norm
BBG §40Spruch
W207 2229911-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Vorsitzender und die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 13.01.2020, OB: XXXX , betreffend Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird gemäß § 1 Abs. 2, § 40 Abs. 1, § 41 Abs. 1, § 42 Abs. 1 und 2 und § 45 Abs. 1 und 2 Bundesbehindertengesetz (BBG) stattgegeben.
Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.
Die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses liegen auf Grund des festgestellten Grades der Behinderung in Höhe von 70 (siebzig) von Hundert (v.H.) vor.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
Die Beschwerdeführerin stellte am 25.06.2019 beim Sozialministeriumservice (in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet) einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses. Diesem Antrag legte sie ein Konvolut an medizinischen Unterlagen bei.
Die belangte Behörde gab in der Folge sowohl ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Augenheilkunde als auch ein Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin unter Anwendung der Bestimmungen der Einschätzungsverordnung in Auftrag.
Im Sachverständigengutachten eines Facharztes für Augenheilkunde vom 06.09.2019 wurde auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 27.08.2019 sowie auf Grundlage der von der Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Unterlagen Folgendes - hier in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form wiedergegeben - ausgeführt:
„…
Anamnese:
Sehschwäche am rechten Auge, keine Beschwerden am linken Auge angegeben, kein Unfall erinnerlich
Derzeitige Beschwerden:
siehe oben
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Kataraktoperation an beiden Augen geplant
Sozialanamnese:
nicht erhoben
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Befund Dr. P.-G. vom 8.3.2019
Visus: Rechtes Auge +2,5s= LE +; Linkes Auge +2,5s = 1,0p
Vordere Abschnitte: Rechts mature Katarakt, links CCN
Fundus: Einblick rechts nicht möglich; links grob unauffällig
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand:
nicht erhoben
Ernährungszustand:
nicht erhoben
Größe: cm Gewicht: kg Blutdruck:
Klinischer Status - Fachstatus:
Visus: Rechtes Auge: HBW +; linkes Auge +2,0 + 0,5/83° = 0,8
Vordere Augenbschnitte: bds: Bindehäute reizfrei, Hornhäute klar, VK mitteltief, VKZ-, Ty-, Pupillen: rund, frei, zentrisch; Linsen: Rechts mature Katarakt, links CCN;
Hintere Augenabschnitte: Rechts kein Einblick links: Makulagefäße altersentsprechend; Netzhaut zirkulär anliegend
Gesamtmobilität - Gangbild:
nicht geprüft
Status Psychicus:
nicht geprüft
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos. Nr.
GdB %
1
Altersbedingte Katarakt mit annähernd korrigierter Normalsichtigkeit
Tabelle 1 Zeile 1 der Tabelle
11.02.01
0
Gesamtgrad der Behinderung 0 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
-
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Linsentrübung (grauer Star) am rechten Auge, da bei wirksamer Therapiemöglichkeit voraussichtlich nicht länger als 6 Monate andauernd
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
kein Vorgutachten
Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:
-
[X] Dauerzustand
…“
Im Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 16.10.2019 wurde auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 16.09.2019 sowie auf Grundlage der von der Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Unterlagen Folgendes - hier in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form wiedergegeben - ausgeführt:
„…
Anamnese:
Zustand nach akutem Nierenversagen bei Exsikkose 4/2019, chronische Niereninsuffizienz, Atherosklerose, COPD, Struma nodosa, arterielle Hypertonie, Presbyakusis, NSAR-Abusus
Derzeitige Beschwerden:
Schmerzen am ganzen Körper, fallweise im Bauchbereich, fallweise gluteal links, sie müsse fw. Husten, produziere Schleim. Nach dem Husten würde sie viel trinken. Sie könne nicht viel gehen aufgrund der COPD, sie rauche nicht. Berodual nehme sie 5 bis 6-mal pro Tag. Den Rollstuhl habe sie aufgrund der Schmerzsymptomatik, es bestehe ein innerliches Brennen, äußerlich spüre sie eiskalt. Laut der Tochter sei sie nach längeren Gehstrecken kurzatmig. Den Rollstuhl habe sie vor über einem Jahr von der Nichte bekommen. Bisher keine Operationen. Es bestehe ein Hörleiden, sie höre nur links, sie habe die Hörgeräte zu Hause vergessen.
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Zanidip, Spiriva, Allopurinol, Berodual, Blopress, Molaxole bei Bedarf, Trittico fallweise abends. Furohexal wurde pausiert.
Sozialanamnese:
Verwitwet, 4 Kinder, die AW wohne bei einer der Töchter in einer Wohnung im Erdgeschoss, etwa 10 Stufen müssen überwunden werden. Kein Pflegegeld.
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Ambulanzkarte XXX vom 29. April 2019: Patientin trinkt jetzt ca. 2 l täglich, Kreatinin 1,2, GF R 42, Kalium 4,9. Keine Ödeme, Blutdruck bei Selbstmessung im Normbereich. Kontrolle im Oktober.
1. Medizinische Abteilung XXX vom 5. April 2019, Entlassungsbericht: akutes Nierenversagen bei Exsikkose, Übelkeit und Erbrechen, Hyponatriämie, Hypokaliämie, chronische Niereninsuffizienz, CKD 3, Atherosklerose, COPD, Struma nodosa, arterielle Hypertonie, Presbyakusis, NSAR-Abusus. Unter Therapie kam es zum raschen Besserung der Nierenwerte, die Patientin klagte auch nicht mehr über Übelkeit oder Erbrechen.
Lungenärztlicher Befund Dr. K. vom 25. 4. 2019: leichtgradig reduzierter Atemwegswiderstand mit Überblähungszeichen, keine manifeste Obstruktion. Diagnose: COPD. Inhalative Therapie weiter. Lunge auskultatorisch unauffällig. Befund vom 2. Juni 2017: leichtgradige obstruktive Ventilationsstörung.
Echokardiographie vom 6. März 2019: normale globale systolische Linksventrikelfunktion.
Diagnosezentrum Brigittenau vom 25. Februar 2019: Sonografie des Bauches: geringe Verfettung der Leber, Sonografie der Nieren: normal große, stauungsfreie, gering parenchymsaumverschmälerte Nieren.
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand:
gut
Ernährungszustand:
gut
Größe: 153,00 cm Gewicht: 60,00 kg Blutdruck: 135/70
Klinischer Status - Fachstatus:
Caput/Hals: unauffällig, keine Lippenzyanose, Sprache unauffällig, keine Halsvenenstauung, Schilddrüse schluckverschieblich,
Cor: reine Herztöne, rhythmische Herzaktion,
Pulmo: V.A., sonorer KS, Basen atemversch., keine Sprechdyspnoe, keine maßgebliche Kurzatmigkeit bei Bewegungsprüfung im Untersuchungszimmer, Abdomen: unauffällig, weich, keine Druckpunkte, keine path. Resistenzen palp., Leber am Ribo palp., Milz n.p., Darmgeräusche normal und unauffällig, Nierenlager bds. frei,
HWS: Kopfdrehung und -seitneigung: nach rechts und links frei, Inkl. und Rekl. frei,
BWS: gerade, LWS: endlagig eingeschränkt,
Extremitäten: obere Extremitäten:
Schultergelenk rechts: Armvorheben und Armseitheben aktiv 120 demonstriert, passiv endlagig eingeschränkt, Nackengriff frei, Schürzengriff frei durchführbar, Schultergelenk links: Armvorheben und Armseitheben aktiv 130 demonstriert, passiv endlagig eingeschränkt, Nackengriff durchführbar, Schürzengriff durchführbar, Ellenbogengelenk rechts: Beugung und Streckung frei, Ellenbogengelenk links: Beugung und Streckung frei, Handgelenke frei beweglich, Fingergelenke bds. frei, Daumengelenke bds. frei, Faustschluß bds. komplett durchführbar, Zangengriff bds. durchführbar, Greif- und Haltefunktion beidseits gut durchführbar, UE: Hüftgelenk rechts: Flexion frei, Abd. und Add. altersentsprechend frei,
Hüftgelenk links: Flexion frei, Abd. und Add. altersentsprechend frei,
Kniegelenk rechts: Beugung und Streckung frei, bandstabil, Kniegelenk links: Beugung und Streckung frei, bandstabil, Sprunggelenk links frei, Fußheben und -senken links frei durchführbar, Sprunggelenk rechts: frei, Fußheben und -senken rechts frei durchführbar, Zehenbeweglichkeit unauffällig, Hocke durchführbar,
beide UE können gut von der Unterlage abgehoben werden, rechts 40°, links 50°. Beinpulse beidseits tastbar, Fußpulse beidseits tastbar, Muskulatur beider unterer Extremitäten seitengleich unauffällig.
Venen: unauffällig, Ödeme: keine.
Stuhl: obstipiert, Harn: teilweise weniger, insgesamt normal.
Gesamtmobilität - Gangbild:
AW kommt in einem Rollstuhl, der von der Tochter geschoben wird. Der Rollstuhl hat keine Fußstützen, die AW hält die Beine aktiv in der Höhe und vom Boden abgehoben. Die Beine werden während der Anamneseerhebung beim Sitzen im Rollstuhl übereinander geschlagen. Aufstehen aus sitzender Körperhaltung selbstständig und ohne Anhalten gut möglich. Freies Stehen sicher und gut möglich. Gehen einiger Schritte im Untersuchungszimmer sicher möglich. Konfektionssandalen.
Status Psychicus:
Anamneseerhebung und Kommunikation unauffällig und gut möglich. Kommunikation auch ohne Hörgeräteversorgung gut möglich. Klar, wach, in allen Qualitäten orientiert. Stimmung ausgeglichen, leidend, aggravierend. Denkziel wird erreicht.
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos. Nr.
GdB %
1
Chronische Niereninsuffizienz
1 Stufe über dem unteren Rahmensatz, da kombiniert mit einem Bluthochdruck bei Behandlung mittels Kombinationstherapie mit belegter befriedigender Blutdruckregulation, bei Zustand nach akutem Nierenversagen gering über dem Normbereich liegender Kreatininwert.
05.04.01
20
2
Chronisch obstruktive Lungenerkrankung
Oberer Rahmensatz dieser Position, da leichtgradig eingeschränkte Lungenfunktion unter Medikation.
06.06.01
20
3
Degenerative Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates Unterer Rahmensatz dieser Position, da geringgradige funktionelle Einschränkungen objektivierbar.
02.02.01
10
Gesamtgrad der Behinderung 20 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Die Leiden 2 und 3 wirken mit dem führenden Leiden 1 nicht auf maßgebliche Weise wechselseitig negativ zusammen und erhöhen nicht weiter.
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Ein Hörleiden kann erst nach Vorlage eines HNO-ärztlichen Befundes berücksichtigt werden. Ein Augenleiden wird im augenärztlichen Sachverständigengutachten eingeschätzt. Eine Gefäßverkalkung, eine Verminderung des Serumkaliums sowie des Serumnatriums, ebenso wie eine Vergrößerung der Schilddrüse ohne Erfordernis einer medikamentösen Therapie, erreichen keinen Behinderungsgrad.
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
Erstuntersuchung.
Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:
Erstuntersuchung.
[X] Dauerzustand
…“
Am 23.10.2019 wurde vom Arzt für Allgemeinmedizin eine Gesamtbeurteilung durchgeführt, aus der Folgendes, hier in den wesentlichen Teilen wiedergegeben, hervorgeht:
„…
Zusammenfassung der Sachverständigengutachten
Name der/des SV
Fachgebiet
Gutachten vom
Dr. V.
Augenheilkunde
03.09.2019
Dr. K.
Allgemeinmedizin
15.10.2019
Die genannten Gutachten sind ein wesentlicher Bestandteil dieser Gesamtbeurteilung.
Auflistung der Diagnosen aus oa. Einzelgutachten zur Gesamtbeurteilung:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos. Nr.
GdB %
1
Chronische Niereninsuffizienz
1 Stufe über dem unteren Rahmensatz, da kombiniert mit einem Bluthochdruck bei Behandlung mittels Kombinationstherapie mit belegter befriedigender Blutdruckregulation, bei Zustand nach akutem Nierenversagen gering über dem Normbereich liegender Kreatininwert.
05.04.01
20
2
Chronisch obstruktive Lungenerkrankung
Oberer Rahmensatz dieser Position, da leichtgradig eingeschränkte Lungenfunktion unter Medikation.
06.06.01
20
3
Degenerative Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates Unterer Rahmensatz dieser Position, da geringgradige funktionelle Einschränkungen objektivierbar.
02.02.01
10
4
Altersbedingte Katarakt mit annähernd korrigierter Normalsichtigkeit
Tabelle 1 Zeile 1 der Tabelle
11.02.01
0
Gesamtgrad der Behinderung 20 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Die Leiden 2 und 3 wirken mit dem führenden Leiden 1 nicht auf maßgebliche Weise wechselseitig negativ zusammen und erhöhen nicht weiter. Leiden 4 erhöht nicht.
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Ein Hörleiden kann erst nach Vorlage eines HNO-ärztlichen Befundes berücksichtigt werden. Eine Gefäßverkalkung, eine Verminderung des Serumkaliums sowie des Serumnatriums, ebenso wie eine Vergrößerung der Schilddrüse ohne Erfordernis einer medikamentösen Therapie, erreichen keinen Behinderungsgrad.
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
Erstuntersuchung.
Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:
Erstuntersuchung.
[X] Dauerzustand
1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?
Keine. Im Bereich der unteren Extremitäten lassen sich keine erheblichen funktionellen Einschränkungen der Gelenksfunktion objektivieren. Auch sind keine maßgeblichen neurologischen Defizite durch entsprechende Fachbefunde belegt. Erhebliche motorische Defizite lassen sich im Rahmen der klinischen Untersuchung nicht objektivieren. Das behinderungsbedingte Erfordernis eines Rollstuhles ist durch diesbezügliche Befunde nicht belegt. Auch ohne Verwendung eines Hilfsmittels lässt sich ein sicheres Gangbild objektivieren. Greif-und Haltefunktion ist beidseits ungehindert gegeben. Eine erhebliche kardiopulmonale Funktionsstörung liegt nicht vor. Insgesamt liegen keine Leiden vor, welche die sichere Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittels auf erhebliche Weise erschweren. Die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel“ liegen nicht vor.
2. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Liegt eine schwere Erkrankung des Immunsystems vor?
Eine schwere und anhaltende Erkrankung des Immunsystems liegt nicht vor.
…“
Mit Schreiben der belangten Behörde vom 23.10.2019 wurde die Beschwerdeführerin über das Ergebnis der Beweisaufnahme in Kenntnis gesetzt und ihr die eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten übermittelt. Der Beschwerdeführerin wurde in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eine Stellungnahme abzugeben.
Die Beschwerdeführerin brachte am 08.11.2019 eine Stellungnahme folgenden Inhalts – hier in den wesentlichen Teilen wiedergegeben – ein:
„…
Ich bin mit dem Ergebnis nicht einverstanden, weil ich auf einem Auge total blind bin und auf einem Ohr ganz taub.
Auf der Straße kann ich nicht gehen. Ich bin auf ein Auto angewiesen.
Vor kurzem bin ich wegen meiner einseitigen Blindheit gestürzt und hab mir die Nase gebrochen (Krankenhausbefunde liegen vor).
Ich kann das Haus nicht alleine verlassen und auf Pflege angewiesen.
Des Weiteren bin ich durch meine COPD im fortgeschrittenen Stadium nicht fähig alleine ohne Rollstuhl längere Strecken zu gehen (außer bis zur Toilette).
Ich bekomme keine Luft und inhaliere 3-4 Flaschen Berudal im Monat.
Ich habe Athrose und Gicht und habe dadurch dauernd Schmerzen.
Ich habe Pflegegeld beantragt, weil ich alleine ohne Hilfe nicht mehr leben kann und das Haus ohne Hilfe nicht verlassen geschweige denn ohne Auto fortbewegen kann.
Befunde werde ich so schnell wie möglich per E-Mail nachreichen.
…“
Aufgrund der eingebrachten Stellungnahme holte die belangte Behörde eine Stellungnahme des allgemeinmedizinischen Sachverständigen, welcher die Gesamtbeurteilung vom 23.10.2019 erstellt hatte, vom 10.01.2020 ein. In dieser Stellungnahme führte der Gutachter – hier in anonymisierter Form wiedergegeben - Folgendes aus:
„…
Die AW erklärt sich mit dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens nicht einverstanden. Vorliegend ist ein Schreiben vom 20. November 2019. Angeführt wird, dass die AW auf einem Auge total blind und auf einem Ohr ertaubt sei. Sie könne auf der Straße nicht gehen, sei auf ein Auto angewiesen. Vor kurzem sei sie aufgrund der einseitigen Blindheit gestürzt und habe sich die Nase gebrochen. Zudem leide sie an einer chronisch obstruktiven Atemwegserkrankung und sei nicht in der Lage alleine ohne Rollstuhl längere Strecken zu gehen (außer bis zur Toilette). Sie bekomme keine Luft und inhaliere 3-4 Flaschen Berodual im Monat. Es bestehe eine Arthrose und Gicht und dadurch dauernd Schmerzen.
Das augenärztliche Leiden wurde im aktuellen augenärztlichen Sachverständigengutachten von Herrn Dr. V. berücksichtigt. Die chronisch obstruktive Atemwegserkrankung wurde auf Basis des vorliegenden lungenärztlichen Befundes vom 25. April 2019 nach geltender Einschätzungsverordnung eingeschätzt. Eine leichtgradige Atemwegserkrankung ist dokumentiert. HNO-ärztliche Befunde, welche ein Hörleiden dokumentieren, liegen nicht vor. Die degenerativen Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates wurden auf Basis der objektivierbaren funktionellen Einschränkungen unter Positionsnummer 3 nachvollziehbar berücksichtigt. Es wurden keine neuen Befunde vorgelegt. Zusammenfassend ergeben sich keine Änderungen der Einschätzung vom 23. Oktober 2019.“
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 13.01.2020 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin vom 25.06.2019 auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab und führte begründend aus, dass das durchgeführte medizinische Beweisverfahren einen Grad der Behinderung von 20 v.H. ergeben habe und somit die Voraussetzungen zur Ausstellung eines Behindertenpasses nicht gegeben seien. Die wesentlichen Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien der Beilage, die einen Bestandteil der Begründung bilde, zu entnehmen. Die bisher eingeholten medizinischen Gutachten sowie die ergänzend eingeholte Stellungnahme vom 10.01.2020 wurden der Beschwerdeführerin als Beilage gemeinsam mit dem Bescheid übermittelt.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin mit handschriftlichem Schreiben am 04.02.2020 fristgerecht eine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin führt sie aus, dass sie mit dem Ergebnis nicht einverstanden sei. Sie sei über 90 % schwerhörig und sehe auf der rechten Seiten des Auges nichts. Sie sei wegen ihrer Blindheit gestürzt und sei mit der Rettung ins Krankenhaus gebracht worden. Sie könne wegen dem COPD nicht lange gehen, nur bis zum WC. Sie bekomme keine Luft, ihre Lunge habe sich sehr verschlechtert. Sie habe diesbezüglich drei zusätzliche Medikamente bekommen. Sie lebe jetzt bei ihrer Tochter, weil sie nicht mehr alleine leben und das Haus nicht mehr so oft verlassen könne. Sie sei auf das Auto angewiesen, weil sie wegen ihrer COPD nicht gehen und sich bewegen könne. Sie sei auf Pflege angewiesen, sie werde geduscht und könne ihre Medikamente nicht alleine einnehmen. Der Beschwerde wurden aktuelle medizinische Unterlagen, unter anderem ein Befund eines HNO-Arztes vom 14.01.2020, beigelegt.
Die belangte Behörde legte den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 26.03.2020 mit der Bemerkung, dass die Beschwerdeführerin der Einladung zur Untersuchung im Rahmen der Beschwerdevorentscheidung nicht Folge geleistet habe und eine neuerliche Untersuchung aufgrund des Corona-Virus derzeit innerhalb der Frist nicht möglich sei, zur Entscheidung vor.
Aufgrund des Inhaltes der eingebrachten Beschwerde und der neu vorgelegten medizinischen Unterlagen holte das Bundesverwaltungsgericht ein medizinisches Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Ärztin für Allgemeinmedizin vom 20.07.2020 auf Grundlage der Bestimmungen der Anlage der Einschätzungsverordnung ein. Insbesondere wurde die medizinischen Sachverständige auch darum ersucht, eine Einschätzung des Augenleidens (insbesondere des rechten Auges) vorzunehmen, ohne eine allfällige wirksame Therapiemöglichkeit zu berücksichtigen (also eine Beurteilung des „Ist“-Zustandes vorzunehmen).
Nach persönlicher Untersuchung der Beschwerdeführerin am 12.06.2020 wurde in diesem Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Ärztin für Allgemeinmedizin vom 20.07.2020 – hier auszugsweise und in anonymisierter Form dargestellt - Folgendes ausgeführt:
„…
SACHVERHALT:
Gegen den Bescheid des Bundesamts für Soziales und Behindertenwesen vom 13. 1. 2020, mit welchem der Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen wird, wird Beschwerde vorgebracht.
Im Beschwerdevorbringen der BF vom 4. 2. 2020, Abl. 47, wird eingewendet, dass sie mit dem Ergebnis nicht einverstanden sei und über 90 % schwerhörig sei, rechts nicht sehe. Wegen der Blindheit sei sie bestürzt und könne wegen der COPD nicht lange gehen, nur bis zum WC, bekomme keine Luft und der Lunge habe sich sehr verschlechtert, sie habe 3 zusätzliche Medikamente bekommen.
Sie lebe jetzt bei ihrer Tochter, weil sie alleine nicht mehr leben könne, sei auf das Auto angewiesen, weil sie wegen der COPD nicht gehen und sich nicht mehr bewegen könne. Sie sei auf Pflege angewiesen, werde geduscht und könne Medikamente nicht allein einnehmen.
In Abl. 38 wird am 20.11. 2019 vorgebracht, dass sie auf einem Auge blind und auf einem Ohr taub sei. Sie könne nicht auf der Straße gehen und sei auf ein Auto angewiesen. Sie habe sich vor kurzem durch einen Sturz im Bereich der Nase verletzt, könne das Haus nicht allein verlassen und sei auf Pflege angewiesen. Wegen der COPD könne sie ohne Rollstuhl keine längeren Strecken gehen außer bis zur Toilette. Sie bekomme keine Luft und müsse 3 bis 4x im Monat Berodual inhalieren. Sie habe Arthrose und Gicht und dadurch dauernd Schmerzen.
Vorgeschichte:
Hypertonie, linksventrikuläre Hypertrophie, Niereninsuffizienz, Kreatinin: 1,3
3/2019 akutes Nierenversagen bei Exsikkose, chronische Niereninsuffizienz 3
COPD, Emphysem, inhalative Therapie
Presbyacusis, hochgradige Innenohrschwerhörigkeit rechts und links, Hörverlust über 90 % rechts und links
Katarakt beidseits, hypermatur rechts, rechts kein Einblick, links normalsichtig
Zwischenanamnese seit 10.1.2020:
Keine Operation, kein stationärer Aufenthalt.
Vorübergehende Verschlechterung der Lungenfunktionen, fachärztliche Behandlung mit Erweiterung der inhalativen Therapie, keine Kontolluntersuchung vorliegend
hochgradige Innenohrschwerhörigkeit beidseits dokumentiert
Befunde:
Abl. 7 Befund Dr. K. Facharzt für Lungenkrankheiten 2. 6. 2017 (COPD Gruppe B, Struma, Obesitas, Hypertonie, linksventrikuläre Hypertrophie, Niereninsuffizienz, Kreatinin: 1,3 .Berodual bei Bedarf, Spiriva)
Abl. 8 Labor 22. 2. 2019 (Hämoglobin 11,2)
Abl. 9 Sonografie Oberbauch und Nieren 25. 2. 2019 (geringe Steatosis hepatis, Nieren unauffällig)
Abl. 10 transthorakale Echokardiographie 6. 3. 2019 (mittelgradige Wandverdickung bei Linksventrikelhypertrophie, normale globale systolische Linksventrikelfunktion, normale Rechtsventrikelfunktion)
Abl. 11 bis 12 Befund Dr.P. Facharzt für Augenheilkunde 8. 3. 2019 (rechts kein Einblick, links normalsichtig)
Abl. 13 Verordnung für Kataraktoperation
Abl. 14 Bericht nephrologische Abteilung XXX Krankenhaus 21.3. 2019 (akutes Nierenversagen bei Exsikkose, chronische Niereninsuffizienz 3, COPD, Stroma nodosa, Hypertonie, Presbyacusis, NSAR-Abusus)
Abl. 15 Befund Dr. K. Facharzt für Lungenkrankheiten 25. 4. 2019 (Lungenfunktion: leichtgradig reduzierter Atemwegswiderstand mit Überblähungszeichen, keine manifeste Obstruktion, inhalative Therapie weiter)
Abl. 16-20 Bericht 1. Medizinabteilung XXX Krankenhaus 5. 4. 2019 (akutes Nierenversagen bei Exsikkose, chronische Niereninsuffizienz 3, COPD, Hypertonie. Übelkeit, Erbrechen, Hyponatriämie, Hypokalämie. Akutes Nierenversagen bei chronischer Niereninsuffizienz.)
Sozialanamnese: verwitwet, 5 Kinder, lebt bei Tochter in Wohnung im 1. Stockwerk mit Lift Berufsanamnese: Pensionistin
Medikamente: Furohexal derzeit pausiert, Zanidip, Spiriva, Allopurinol, Blopress, Molaxole bei Bedarf, Trittico, Kalioral, Spiriva, Berodual, Relvar, Desloratadin
Allergien: 0
Nikotin: 0
Laufende Therapie bei Hausarzt Dr. G.
Derzeitige Beschwerden: überwiegend Sprachbarriere
„Es hat keine Operation der Augen stattgefunden, eine Operation der Augen möchte ich nicht vornehmen lassen, habe Angst vor einer Operation. Rechts sehe ich nichts, links sehe ich besser.
Ich höre schlecht, Hörgeräte bringen nichts, da ich ein Loch im Trommelfell habe.
Die Füße sind immer angeschwollen. Letzte Kontrolle der Nierenwerte war im Mai 2019.“
STATUS:
Allgemeinzustand gut, Ernährungszustand gut. Größe 151 cm, Gewicht 66 kg, Alter: 76 Jahre Caput/Collum: klinisch mäßig eingeschränktes Hörvermögen
rechts kein klinisch feststellbares Sehvermögen, links grobklinisch normales Sehvermögen Thorax: symmetrisch, elastisch
Atemexkursion seitengleich, sonorer Klopfschall, VA, basal beidseits obstruktives Giemen. HAT rein, rhythmisch. Keine Zyanose, geringgradige Dyspnoe beim Ausziehen und Anziehen.
Abdomen: klinisch unauffällig, keine pathologischen Resistenzen tastbar, kein Druckschmerz.
Schultergürtel und beide oberen Extremitäten:
Rechtshänder. Der Schultergürtel steht horizontal, symmetrische Muskelverhältnisse.
Die Durchblutung ist ungestört, die Sensibilität wird als ungestört angegeben.
Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden.
Schultergelenke äußerlich unauffällig, endlagige Bewegungsschmerzen, Hände: unauffällig Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit: Schultern endlagig eingeschränkt, Ellbogengelenke, Unterarmdrehung, Handgelenke, Daumen und Langfinger seitengleich frei beweglich. Grob- und Spitzgriff sind uneingeschränkt durchführbar. Der Faustschluss ist komplett, Fingerspreizen beidseits unauffällig, die grobe Kraft in etwa seitengleich, Tonus und Trophik unauffällig.
Nacken- und Schürzengriff sind endlagig eingeschränkt durchführbar.
Becken und beide unteren Extremitäten:
Freies Stehen möglich, Zehenballengang und Fersengang beidseits nicht durchgeführt.
Der Einbeinstand wird nicht durchgeführt. Die tiefe Hocke wird nicht durchgeführt.
Die Beinachse ist im Lot. Symmetrische Muskelverhäitnisse. Beinlänge ident.
Die Durchblutung ist ungestört, geringgradig Ödeme, keine Varizen, die Sensibilität wird als ungestört angegeben. Die Beschwielung ist in etwa seitengleich.
Hüftgelenk beidseits: endlagige Bewegungsschmerzen
Kniegelenk beidseits: geringgradige Umfangsvermehrung, keine Überwärmung, kein Erguss, stabil, endlagige Beugeschmerzen.
Sämtliche weiteren Gelenke sind bandfest und klinisch unauffällig.
Aktive Beweglichkeit: Hüften in S0/90, IR / AR 10/0/30, Knie beidseits 0/0/100, Sprunggelenke und Zehen sind seitengleich frei beweglich.
Das Abheben der gestreckten unteren Extremität ist beidseits bis 60° bei KG 5 möglich.
Wirbelsäule:
Schultergürtel und Becken stehen horizontal, in etwa im Lot, regelrechte Krümmungsverhältnisse. Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, mäßig Hartspann, kein Klopfschmerz über der Wirbelsäule.
Aktive Beweglichkeit:
HWS: in allen Ebenen frei beweglich
BWS/LWS: FBA: 30 cm, Rotation und Seitneigen jeweils 20°
Lasegue bds. negativ, Muskeleigenreflexe seitengleich mittellebhaft auslösbar.
Gesamtmobilität - Gangbild:
Kommt im Rollstuhl mit Halbschuhen, das Gangbild im Untersuchungszimmer ist ohne Anhalten vorgeneigt, kleinschrittig und verlangsamt, freies Gehen sicher möglich.
Das Aus- und Ankleiden wird mit Hilfe im Sitzen durchgeführt.
Status psychicus: Allseits orientiert, Merkfähigkeit, Konzentration und Antrieb soweit bei Sprachbarriere beurteilbar unauffällig; Stimmungslage klagsam.
STELLUNGNAHME:
ad 1) Einschätzung des Grades der Behinderung
1) Chronische Niereninsuffizienz 05.04.01 20%
1 Stufe über dem unteren Rahmensatz, da Nierenwerte gering über dem Normbereich und Bluthochdruck medikamentös eingestellt, berücksichtigt Zustand nach akutem Nierenversagen wegen Exsikkose.
2) Chronische obstruktive Lungenerkrankung 06.06.01 20%
Oberer Rahmensatz, da leichtgradig eingeschränkte Lungenfunktion.
3) Degenerative Veränderungen des Stütz-und Bewegungsapparates 02.02.01 20%
Unterer Rahmensatz, da rezidivierende Beschwerden mit geringen funktionellen Einschränkungen vor allem im Bereich der Kniegelenke.
4) Altersbedingter Katarakt mit annähernd korrigierter Normalsichtigkeit 11.02.01 0%
Tab. Zeile 1 Kolonne 1
5) Hörverlust über 90 % beidseits 12.02.01 60%
Tabelle Zeile 5, Kolonne 5
Unterer Rahmensatz, da ohne Hörgeräte Kommunikation gut möglich.
ad 2) Gesamtgrad der Behinderung: 60%
Leiden 5 wird durch die weiteren Leiden nicht erhöht, da kein ungünstiges Zusammenwirken vorliegt.
ad 3) Stellungnahme zu den Einwendungen Abl. 47
Vorgebracht wird, dass sie über 90 % schwerhörig sei, rechts nichts sehe, wegen der COPD
nicht lange gehen könne und die Lungenerkrankung sich verschlechtert habe
Sie können nicht mehr allein leben, werde gepflegt und sei auf das Auto angewiesen.
Der HNO fachärztliche Befund Abl. 48 wurde im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt und führt zu einer Einstufung der Hörminderung als Leiden 5.
Eine vorübergehende Verschlechterung der Atembeschwerden ohne Nachweis einer höhergradigen chronisch obstruktiven Lungenerkrankung führt zu keiner höheren Einstufung.
ad 4) Stellungnahme zu den im Rahmen der Beschwerde vorgelegten Befunden Abl. 48 und 49
Abl. 48 Befund Dr. J. Facharzt für HNO 14. 1. 2020 (hochgradige Innenohrschwerhörigkeit rechts und links, Hörverlust über 90 % rechts und links) - führt zu Einstufung von Leiden 5
Abl. 49 Befund Dr. K. Facharzt für Lungenkrankheiten 8. 1. 2020 (beidseits Giemen, verlängertes Exspirium, Lungenfunktion nicht beurteilbar, Sauerstoffsättigung 95 %, Diagnose: COPD, Emphysem. Therapie: inhalative Therapie wird erweitert, Kontrolle in 4 Wochen, kardiale Begutachtung. Spiriva, Berodual, Relvar, Desloratadin) - dauerhafte maßgebliche Verschlimmerung ist nicht belegt, vorübergehende Verschlechterung der Atemfunktion führt zu keiner Neueinstufung.
ad 5) Begründung einer allfälligen zu den angefochtenen Sachverständigengutachten Abl. 22-35, 39, 40 abweichenden Beurteilung
Leiden 3 wird um eine Stufe höher bewertet, da vor allem im Bereich der Kniegelenke geringgradige funktionelle Einschränkungen festgestellt werden konnten.
Hinzukommen von Leiden 5, da dokumentiert.
Durch das Hinzukommen von Leiden 5 kommt es zu einer Änderung des Gesamtgrades der Behinderung.
ad 6) Eine Nachuntersuchung ist nicht erforderlich.
ad 7) Im Rahmen der aktuellen Begutachtung nachgereichte Befunde:
Bericht unfallchirurgische Ambulanz XXX 17. 9. 2019 (Fract. nasi, offene Wunde der Nase, konservative Therapie) - keine Dauerfolgen objektivierbar, erreicht nicht das Ausmaß eines behinderungsrelevanten Leidens.
Bericht Augenklinik XXX Krankenhaus 12. 2. 2020 (Katarakt links, hypermaturer Katarakt rechts, Katarakt-Operation in Sedierung) - keine neuen Informationen.
Aus den neu vorgelegten Befunden wäre keine andere medizinische Beurteilung abzuleiten.
Eine Kataraktoperation hat nicht stattgefunden.
ad a) Ist es Ihnen als allgemeinmedizinische Sachverständige möglich, unter Zugrundelegung
• des Augenbefundes vom 8. 3. 2019 Abl. 11 und
• des am 28. 8. 2019 erhobenen klinischen Status Abl. 23
eine Einschätzung des Augenleidens (insbesondere des rechten Auges) vorzunehmen, ohne eine allfällige wirksame Therapiemöglichkeit zu berücksichtigen (also eine Beurteilung des „Ist“ -Zustandes)? Auf die mehrmaligen Angaben der BF „auf einem Auge total blind zu sein“ (Abl. 38) bzw. „auf der rechten Seite des Auges nichts zu sehen“ (Abl. 47) wird hingewiesen.
Stellungnahme:
Ja, eine Einschätzung des Sehvermögens aus allgemeinmedizinischer Sicht ohne Berücksichtigung der Möglichkeit einer als zumutbar geltenden Katarakt-Operation ist durchführbar.
Kein Sehvermögen rechts, Sehvermögen links: Visus 0,8 11.02.01 30%
Tabelle, Zeile 1, Kolonne 9
ad b) Ersucht wird um Einschätzung der Gesundheitsschädigungen nach der EVO und Berücksichtigung bei der Beurteilung des Gesamt-GdB.
Gesamtgrad der Behinderung unter Berücksichtigung des Augenleidens: 70 %
Führendes Leiden 5 wird durch das Augenleiden um eine Stufe angehoben, da ein relevantes Sinnesleiden vorliegt.“
Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.08.2020 wurden die Beschwerdeführerin und die belangte Behörde, sohin die Parteien des Verfahrens, der Beschwerdeführerin entsprechend dem im Akt aufliegenden Zustellnachweis zugestellt am 06.08.2020, der belangten Behörde per Fax zugestellt am 04.08.2020, unter Übermittlung des Sachverständigengutachtens vom 20.07.2020, das unter Berücksichtigung des Augenleidens von einem Gesamtgrad der Behinderung von 70 v.H. ausgeht, über das Ergebnis der Beweisaufnahme informiert und ihnen in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, zum Ergebnis der Beweisaufnahme binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eine Stellungnahme beim Bundesverwaltungsgericht abzugeben, dies unter Hinweis darauf, dass, sollten die Parteien des Verfahrens eine mündliche Verhandlung vor Gericht nicht ausdrücklich beantragen, das Bundesverwaltungsgericht in Aussicht nehme, über die Beschwerde ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung aufgrund der Aktenlage zu entscheiden und seine Entscheidung auf der Grundlage der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens zu erlassen, soweit nicht eine eingelangte Stellungnahme Anderes erfordere.
Die Parteien des Verfahrens erhoben innerhalb der eingeräumten Frist – und bis zum heutigen Tag - keine Einwendungen zum Ergebnis der Beweisaufnahme.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin brachte am 25.06.2019 den gegenständlichen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses beim Sozialministeriumservice ein.
Die Beschwerdeführerin hat ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.
Die Beschwerdeführerin leidet unter folgenden objektivierten Funktionseinschränkungen:
1. Hörverlust über 90 % beidseits, ohne Hörgeräte Kommunikation dennoch gut möglich;
2. Kein Sehvermögen rechts, Sehvermögen links: Visus 0,8;
3. Chronische Niereninsuffizienz, Nierenwerte gering über dem Normbereich und Bluthochdruck medikamentös eingestellt, berücksichtigt Zustand nach akutem Nierenversagen wegen Exsikkose;
4. Chronische obstruktive Lungenerkrankung mit leichtgradig eingeschränkter Lungenfunktion;
5. Degenerative Veränderungen des Stütz-und Bewegungsapparates, rezidivierende Beschwerden mit geringen funktionellen Einschränkungen vor allem im Bereich der Kniegelenke.
Der Gesamtgrad der Behinderung der Beschwerdeführerin beträgt aktuell 70 v.H.
Hinsichtlich der bei der Beschwerdeführerin bestehenden Funktionseinschränkungen und deren Ausmaß werden die diesbezüglichen Beurteilungen im oben wiedergegebenen, vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Ärztin für Allgemeinmedizin vom 20.07.2020 der nunmehrigen Entscheidung zu Grunde gelegt, dies insbesondere hinsichtlich des nunmehr führenden Leidens 1 und des Leidens 2.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellung zum Datum der Einbringung des gegenständlichen Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses basiert auf dem Akteninhalt.
Die Feststellung zum Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Inland ergibt sich ebenfalls aus dem Akteninhalt und ist unstrittig. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Inland hätte, sind im Verfahren nicht hervorgekommen sind.
Der Gesamtgrad der Behinderung von 70 v.H. gründet sich auf das oben wiedergegebene, vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte medizinische Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Ärztin für Allgemeinmedizin vom 20.07.2020. Im Gutachten vom 20.07.2020 wurde - auf Grundlage des im Rahmen der Beschwerde vorgelegten HNO-Befundes vom 14.01.2020 - erstmals die beidseitige Hörstörung der Beschwerdeführerin (als nunmehriges Leiden 1) eingestuft und zutreffend der Positionsnummer 12.02.01 der Anlage der Einschätzungsverordnung (Tabelle Zeile 5, Kolonne 5) mit einem Grad der Behinderung von 60 v.H. zugeordnet. Es wurde nachvollziehbar der untere Rahmensatz der gewählten Positionsnummer herangezogen, da der Beschwerdeführerin auch ohne Hörgeräte eine gute Kommunikation möglich ist. Durch das Hinzukommen des nunmehrigen Leidens 1 kommt es naturgemäß auch zu einer entsprechenden Anhebung des Gesamtgrades der Behinderung.
Außerdem wurde das Augenleiden der Beschwerdeführerin einer neuerlichen Beurteilung unterzogen und - bei Vornahme einer Beurteilung des „Ist“-Zustandes ohne Berücksichtigung einer (im entsprechenden Regelungskomplex der Einschätzungsverordnung nicht vorgesehenen) allfälligen wirksamen Therapiemöglichkeit durch eine Operation - nunmehr zutreffend als Leiden 2 (Kein Sehvermögen rechts, Sehvermögen links: Visus 0,8) der Positionsnummer 11.02.01 der Anlage der Einschätzungsverordnung (Tabelle Zeile 1, Kolonne 9) mit einem Grad der Behinderung von 30 v.H. zugeordnet.
Die vom Bundesverwaltungsgericht beigezogene Gutachterin führt darüber hinaus nachvollziehbar aus, dass das führende Leiden 1 (Hörverlust über 90 % beidseits) durch das Augenleiden um eine Stufe angehoben wird, da ein relevantes Sinnesleiden vorliegt, weshalb sich durch das ungünstige Zusammenwirken dieser Sinnesleiden der aktuell festgestellte Gesamtgrad der Behinderung von 70 v.H. ergibt.
Abgesehen davon wurde im medizinischen Sachverständigengutachten vom 20.07.2020 das nunmehrige Leiden 5 (Degenerative Veränderungen des Stütz-und Bewegungsapparates) um eine Stufe höher bewertet, da vor allem im Bereich der Kniegelenke geringgradige funktionelle Einschränkungen festgestellt werden konnten. Daraus ergibt sich allerdings keine entscheidungswesentliche Anhebung des Gesamtgrades der Behinderung. Auch in Bezug auf das nunmehrige Leiden 4 führt eine vorübergehende Verschlechterung der Atembeschwerden ohne Nachweis einer höhergradigen chronisch obstruktiven Lungenerkrankung zu keiner höheren Gesamteinstufung.
Insoweit in der Stellungnahme zum Parteiengehör bzw. der Beschwerde inhaltlich auf die Frage der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel Bezug genommen wird, ist darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin entsprechend dem Inhalt des dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten Verwaltungsaktes einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass nicht gestellt hat und somit die belangte Behörde über diese Zusatzeintragung auch nicht bescheidmäßig absprechen hätte können und auch nicht abgesprochen hat. Daher ist diese Frage auch nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Das medizinische Sachverständigengutachten der Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Ärztin für Allgemeinmedizin vom 20.07.2020 blieb von den Parteien des Verfahrens unbestritten; sie erhoben trotz eingeräumten Parteiengehörs bis zum heutigen Tag keine Einwendungen. Dieses Gutachten vom 20.07.2020, das auch eine höhere Aktualität aufweist als die von der belangten Behörde eingeholten Vorgutachten, wird in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A)
1. Zur Entscheidung in der Sache
Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten:
„§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.
§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkei