TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/11 I414 2234724-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.09.2020
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Entscheidungsdatum

11.09.2020

Norm

BFA-VG §18 Abs3
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §66 Abs1
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §67 Abs4
FPG §70 Abs3
VwGVG §24 Abs2 Z1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I414 2234724-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Christian EGGER über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. KROATIEN, UNGARN und SERBIEN, vertreten durch RA MMag. Damir Hajnovic, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien (BFA-W) vom 03.07.2020, Zl.  XXXX, zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer hat seit 11.01.2010 durchgehend in Österreich seinen Hauptwohnsitz angemeldet. Zuvor hielt er sich in den Jahren 2005, 2006 und 2009 zwischen zwei und neun Monaten im Bundesgebiet auf.

Am 24.01.2018 wurden er und drei weitere Täter bei Suchtgiftdelikten betreten und erfolgte am 19.06.2018 durch das LGS Wien die rechtskräftige Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 14 Monaten wegen des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach §§ 15 StGB, 28 Abs. 1 SMG als Beteiligter gemäß § 12 dritter Fall StGB.

Dem Urteil liegt zu Grunde, dass der Beschwerdeführer einen der Haupttäter mit seinem PKW zum Busbahnhof brachte und anschließend die beiden weiteren Täter mit seinem PKW zur Wohnung des erstgenannten Haupttäters bringen wollte, damit dort die Übergabe von 492,77 Gramm Kokain zwischen den Haupttätern stattfinden kann.

Am Tag nach der Hauptverhandlung wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich zu seinen persönlichen Verhältnissen in Österreich und im Ausland einvernommen.

Am 27.04.2020 wurde dem Beschwerdeführer neuerlich eine Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme übermittelt. Im Rahmen des Parteiengehörs gab er nochmals an, Staatsangehöriger von Serbien, Kroatien und Ungarn zu sein, sich als Unionsbürger in Österreich rechtmäßig aufzuhalten, geschieden zu sein und sonst keine Vorstrafe in den Staaten zu haben, für die er die Staatsangehörigkeit besitzt. Vorgelegt wurden eine Kopie des serbischen Reisepasses, die Anmeldebescheinigung als ungarischer Staatsangehöriger vom 11.11.2015, Wohnsitzbestätigungen, Lohn- und Gehaltsabrechnungen, den Beschluss über die erfolgte Scheidung und eine Kopie seiner e-Card.

Mit angefochtenem Bescheid vom 03.07.2020 wurde gegen den BF gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein Aufenthaltsverbot in der Dauer von sieben Jahren erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 70 Abs 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub gewährt (Spruchpunkt II.) und der Beschwerde gegen den Bescheid gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III.).

Dagegen richtet sich die durch seinen gewillkürten Rechtsvertreter erhobene Beschwerde vom 24.08.2020. Es wurde moniert, dass eine einmalige Verurteilung alleine nicht einen derart schwerwiegenden Eingriff in die Lebensführung des Beschwerdeführers rechtfertigen könne. Der Beschwerdeführer lebe seit mehr als 15 Jahren in Österreich und sei selbst- und unselbstständig erwerbstätig gewesen. Eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr gehe von Beschwerdeführer nicht aus, zumal es bei einer einzigen Straftat geblieben sei und der Beschwerdeführer dabei eine untergeordnete Rolle gespielt habe und aus Unbesonnenheit gehandelt habe. Außerdem berücksichtige die belangte Behörde die gesundheitliche Beeinträchtigung des Beschwerdeführers nicht und sei er auf das Medikament „Advagraf“ angewiesen, welches nur in Österreich, jedenfalls nicht in Serbien erhältlich sei. Zudem müsse der Beschwerdeführer am 19.10.2020 einen Termin im AKH wahrnehmen und sei ihm jedenfalls der Durchsetzungsaufschub zu gewähren.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 07.09.2020 zur Entscheidung vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist 51 Jahre alt, Staatsangehöriger von Kroatien, Ungarn und Serbien, und steht seine Identität fest.

Die Ehe mit einer Österreicherin ist seit April 2017 geschieden, er verfügt im Bundesgebiet über keine Verwandten oder familiären Anknüpfungspunkte. Seine beiden erwachsenen Kinder leben in Serbien, so auch seine Mutter und ein Bruder. Ein weiterer Bruder lebt in Kroatien. Der Beschwerdeführer wurde in Kroatien geboren und schloss dort auch eine mittlere technische Schule ab.

In Österreich ist der Beschwerdeführer seit 11.01.2010 durchgehend mit Hauptwohnsitz gemeldet und war er selbst- und unselbstständig erwerbstätig, derzeit bezieht er Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Er hält sich aufgrund einer Anmeldebescheinigung in Österreich auf und ist er zum unbefristeten Aufenthalt berechtigt.

Im Jahr 2011 unterzog sich der Beschwerdeführer in Österreich einer Nierentransplantation, 2016 wurde er nach einem Herzleiden operativ versorgt. Er steht in regelmäßiger ärztlicher Behandlung, nimmt das immunsuppressive Medikament „Advagraf“ ein und ist der nächste Ambulanztermin am 19.10.2020 angesetzt. Das angegebene Medikament ist auch außerhalb Österreichs in Serbien, Kroatien und auch in Ungarn unter demselben Namen oder mit denselben Inhaltsstoffen erhältlich.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des LGS Wien vom 19.06.2018 rechtskräftig wegen des Vergehens der Vorbereitung des Suchtgifthandels nach §§ 15 StGB, 28 Abs. 1 SMG, 12 dritter Fall StGB als Beitragstäter verurteilt. Gegen ihn wurde eine 14-monatige Freiheitsstrafe ausgesprochen, wobei ein Teil der Strafe (10 Monate) unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde. Die Freiheitsstrafe wurde am 19.06.2018 vollzogen und befindet sich der Beschwerdeführer auf freiem Fuß.

Neben dem Beschwerdeführer wurden drei weitere Täter wegen Vergehen und Verbrechen gegen das Suchtmittelgesetz zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Verurteilung des Beschwerdeführers liegt zu Grunde, dass er am 24.01.2018 die drei weiteren Täter mit seinem PKW in die Wohnung eines der Täter fahren wollte, wo die Übergabe von Suchtgift in mehr als das Neunfache der Grenzmenge übersteigender Menge zwischen den drei anderen Tätern erfolgen sollte. Der Beschwerdeführer hielt es ernstlich für möglich und fand sich damit ab, einen der Täter bei der Übernahme des Suchtgifts zu unterstützen, indem er ihn und die beiden anderen Täter mit seinem Auto vom Busbahnhof in die Unterkunft lenkte. Erschwerend bewertete das LGS im Falle des Beschwerdeführers, dass sich die Tat auf eine Suchtgiftmenge bezog, die die Grenzmenge des § 28b SMG um mehr als das Neunfache übersteigt. Mildernd konnten die bisherige Unbescholtenheit, dass es beim Versuch geblieben ist und die Sicherstellung des Suchtgiftes berücksichtigt werden.

2. Beweiswürdigung:

Der oben im Verfahrensgang dargestellte Sachverhalt ergibt sich aus dem unbedenklichen und bestrittenen Verwaltungsakt der belangten Behörde. Zusätzlich wurden aktuelle Auszüge aus dem Zentralen Fremdenregister (ZMR), Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), dem Strafregister und dem Hauptverband der österreichischen Hauptversicherungsträger (AJ-Web) eingeholt.

Aufgrund der vorgelegten identitätsbezeugenden Dokumente (zB AS 95) steht die Identität des Beschwerdeführers fest, alle drei genannten Staatsangehörigkeiten wurden auch im IZR festgehalten.

Angaben zu seinen familiären Verhältnissen im In- und Ausland, seinen bisherigen Lebensumständen in Kroatien sowie der Erwerbstätigkeit in Österreich ergeben sich aus dem Beschluss über die einvernehmliche Scheidung (AS 115ff) und seinen eigenen Angaben in der Eingabe vom 20.04.2018 (AS 9ff) und in der niederschriftlichen Einvernahme (AS 21ff). Diese Angaben stimmen mit den vorgelegten Bestätigungen über die Zurücklegung von Gewerben (AS 191) überein und ergibt sich aus dem AJ-Web der momentane Bezug des Arbeitslosengeldes.

Die Feststellungen zu seinem langjährigen Aufenthalt in Österreich, der durchgehenden Wohnsitznahme seit Anfang des Jahres 2010 und dem unbefristeten Aufenthaltsrecht aufgrund Anmeldebescheinigung ergibt sich aus dem ZMR, dem IZR und der Anmeldebescheinigung selbst (AS 103).

Aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen (AS 163ff) erschließen sich die bisherigen Operationen und gesundheitlichen Einschränkungen. Bestätigt wurde auch der Kontrolltermin (AS 195) am 19.10.2020 und die Einnahme der Medikamente.

Die Verfügbarkeit des Medikamentes „Advagraf“ ergibt sich aus einer online-Recherche. So listet entgegen den Beschwerdeausführungen die nationale serbische Gesundheitsbehörde auf ihrer Homepage das Medikament als erhältlich auf und kann beispielsweise auch die Packungsbeilage online abgerufen werden (https://www.alims.gov.rs/eng/medicinal-products/search-for-human-medicines/?id=359017, Zugriff 08.09.2020).

Die Seite https://www.drugs.com/international/advagraf.html, Zugriff 08.09.2020, bestätigt, dass der Inhaltsstoff des Medikaments in Kroatien und Serbien auch unter einem anderen Namen erhältlich ist.

Ein ungarischer Gesundheitsdienstleister listet das Medikament „Advagraf“ unter diesem Namen auf und gibt Auskünfte über das Präparat und den Preis, sowie dass das Medikament rezeptpflichtig in Apotheken erhältlich ist (https://translate.google.at/translate?hl=de&sl=hu&u=https://www.hazipatika.com/gyogyszerkereso/termek/advagraf_05_mg_retard_kemny_kapszula/16742&prev=search&pto=aue, Zugriff 08.09.2020).

Die Verurteilung des Beschwerdeführers, die verübte Tat sowie die Strafzumessungsgründe ergeben sich aus dem Strafregister der Republik Österreich und der im Akt einliegenden Urteilsausfertigung.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A)

Der Beschwerdeführer besitzt neben der serbischen auch die ungarische und kroatische Staatsbürgerschaft und ist somit als Angehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union EWR-Bürger im Sinne des § 2 Abs 4 Z 8 FPG.

Gemäß § 67 Abs. 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs. 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Bei einer besonders schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit (so etwa, wenn der EWR-Bürger zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist [Abs. 3 Z 1]), kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs. 3 FPG auch unbefristet erlassen werden.

Bei Erlassung eines Aufenthaltsverbots ist eine einzelfallbezogene Gefährdungsprognose zu erstellen, bei der das Gesamtverhalten des Betroffenen in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (VwGH 19.02.2014, 2013/22/0309).

Bei Unionsbürgern, die nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Daueraufenthaltsrecht iSd § 53a NAG und Art. 16 Freizügigkeitsrichtlinie erworben haben, ist nicht nur bei der Ausweisung, sondern auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots der in Art. 28 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie und § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Maßstab - der im abgestuften System der Gefährdungsprognosen zwischen jenen nach dem ersten und dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG angesiedelt ist - heranzuziehen (VwGH 19.05.2015, Ra 2014/21/0057). Ein Aufenthaltsverbot gegen Personen, denen das Recht auf Daueraufenthalt zukommt, setzt demnach voraus, dass ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

Die zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit werden nach Art. 28 Abs. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie "von den Mitgliedstaaten festgelegt". Den Mitgliedstaaten steht es frei, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten (also Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität) als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet sind, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen können, mit denen gemäß Art. 28 Abs. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist (vgl. EuGH 22.05.2012, C-348/09, P.I. gegen Oberbürgermeisterin der Stadt Remscheid, RN 28 ff).

Der auch in Art. 83 Abs. 1 AEUV angeführte illegale Drogenhandel ist als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und kann damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen, mit denen nach der Freizügigkeitsrichtlinie eine Ausweisung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung besonders schwerwiegende Merkmale aufweist. Dies ist aufgrund einer individuellen Prüfung des konkreten Falls zu klären. Auch Straftaten, die die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar bedrohen, führen nicht zwangsläufig zur Ausweisung des Betroffenen. Eine Ausweisungsverfügung setzt voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Im Allgemeinen muss daher eine Neigung des Betroffenen bestehen, sein Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH 22.05.2012, Rs C-348/09).

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art. 8 Abs. 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Gemäß § 9 BFA-VG ist (ua) die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 67 FPG, durch das in das Privat- und Familienleben eines Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist, zu berücksichtigen.

Bei der Festsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes ist gemäß § 67 Abs. 4 FPG auf alle für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen, insbesondere auf die privaten und familiären Verhältnisse (VwGH 24.05.2016, Ra 2016/21/0075).

Für den gegenständlichen Fall ergibt sich Folgendes:

Der Beschwerdeführer befindet sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig in Österreich, hält sich aufgrund einer Anmeldebescheinigung im Bundesgebiet auf und hat seinen Hauptwohnsitz seit 11.01.2010 durchgehend in Wien gemeldet, sohin seit mehr als 10 Jahren. Es ist somit auf die vorgesehenen Maßstäbe des § 67 Abs. 1 fünfter Satz sowie des Art. 28 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie und § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG Rücksicht zu nehmen. Dieses Prüfungsschema findet sich im angefochtenen Bescheid nicht und hat es die belangte Behörde gänzlich unterlassen, den erhöhten Gefährdungsmaßstab bei der Entscheidungsfindung heranzuziehen.

Demnach ist zu prüfen, ob vom Beschwerdeführer eine schwerwiegende Gefahr ausgeht, um ein Aufenthaltsverbot rechtfertigen zu können. In diesem Zusammenhang ist die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers heranzuziehen und zu prüfen. Er wurde bereits am 19.06.2018 rechtskräftig wegen des Vergehens der versuchten Vorbereitung des Suchtgifthandels als Beitragstäter verurteilt.

Wie oben ausgeführt, ist der illegale Drogenhandel als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen. Dieses Delikt ist aber durch die Tat des Beschwerdeführers nicht verwirklicht, sondern wurden nur die drei weiteren Täter zu mehrjährigen Haftstrafen unter anderem wegen Suchtgifthandel im Rahmen einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Damit trifft auch die weiters in Art. 83 Abs. 1 AEUV angeführte Straftat der organisierten Kriminalität nicht auf den Beschwerdeführer zu.

Weiters ist auszuführen, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Vorbereitung des Suchtgifthandels erfolgte und nicht wegen Drogenhandels, es sich dabei um ein Vergehen und nicht um ein Verbrechen handelt und auch der Strafrahmen nicht einmal zur Hälfte ausgenutzt wurde und davon mehr als zwei Drittel bedingt nachgesehen wurden.

Ohne zu verkennen, dass sämtliche Delikte gegen das Suchtmittelgesetz eine Gefährdung öffentlicher Interessen darstellen, kann aber in der vom Beschwerdeführer begangenen Tat keine schwerwiegende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit, und damit auch durch den weiteren Verbleib des Beschwerdeführers im Bundesgebiet erkannt werden.

Nach den oben angeführten Kriterien muss auch die Art und Weise der Begehung besonders schwerwiegende Merkmale aufweisen und ist dies im konkreten Einzelfall zu prüfen. Der Beschwerdeführer fungierte nicht als Haupttäter, sondern wurde er als Beitragstäter gemäß § 12 dritter Fall StGB verurteilt. Auch wenn im Strafurteil festgehalten wurde, dass er um die die Grenzmenge übersteigende Menge an Suchtgift wissen musste, die seine Fahrgäste mit sich führten, war er selbst nicht in Kontakt mit dem Suchtgift, sondern trug er „nur“ als Fahrer an der Vorbereitung des Drogenhandels bei. Dieser Umstand wurde bei der Strafbemessung bereits als erschwerend berücksichtigt, in Abwägung der Milderungsgründe (bisherige Unbescholtenheit, Sicherstellung des Suchtgiftes und dass es beim Versuch blieb) konnte im Falle des Beschwerdeführers aber mit einer bedingten Freiheitsstrafe das Auslangen gefunden werden. Das Straflandesgericht begründete seine Entscheidung mit dem erstmaligen Verspüren des Haftübels, das ihn von der weiteren Begehung strafbarer Handlungen dieser oder ähnlicher Art abhalten werde und konnte er somit nach der Hauptverhandlung aus der Haft entlassen werden. Das in der oben zitierten Entscheidung des EuGH, 22.05.2012, Rs C-348/09, genannte Kriterium der Neigung, das Verhalten in Zukunft beizubehalten, kann schon deshalb nicht festgestellt werden. Natürlich ist die Zeit seit der Verurteilung und gleichzeitigen Haftentlassung noch nicht soweit fortgeschritten, dass eine abschließend positive Zukunftsprognose abgegeben werden kann, doch hat sich der Beschwerdeführer während (noch offener) Probezeit, die in knapp neun Monaten ausläuft, nichts zuschulden kommen lassen und kein Verhalten gesetzt, das wider die Annahme des LGS Hinweise auf weiteres strafbares Handeln geben könnte.

Auch aus der Tatsache, dass die belangte Behörde den Beschwerdeführer am Tag nach der Haftentlassung einvernommen hat und danach mehr als zwei Jahre ohne jegliche Ermittlungshandlung verstreichen hat lassen, ist nicht erkennbar, weshalb sie nunmehr eine vom Beschwerdeführer ausgehende tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit feststellt und darauf basierend ein Aufenthaltsverbot erlässt, keinen Durchsetzungsaufschub gewährt und einer Beschwerde außerdem die aufschiebende Wirkung aberkennt.

Es haben sich in der Zwischenzeit keine weiteren Anhaltspunkte ergeben und wäre die Gefährdung bereits zum Zeitpunkt der Einvernahme am 20.06.2018 vorgelegen. Die belangte Behörde legt nicht dar, weshalb die aufenthaltsbeendende Maßnahme erst zwei Jahre später erfolgt und erst jetzt eine aktuelle und tatsächliche Gefahr vom Beschwerdeführer ausgehen soll.

Insgesamt kann vor dem Hintergrund der oben zitierten Judikatur und der erhöhten Gefährdungsmaßstäbe des § § 67 Abs. 1 fünfter Satz sowie des Art. 28 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie und § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG keine vom Beschwerdeführer ausgehende gegenwärtige schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit durch Begehen eines Vergehens gegen das Suchtmittelgesetz als Beitragstäter bei einem über zehn Jahre andauernden ununterbrochenen Aufenthaltes in Österreich erkannt werden, die die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach § 67 FPG rechtfertigen könnte.

Schon aus diesem Grund kann eine Prüfung eines Eingriffs in das Privat- und Familienleben unterbleiben und war das mit angefochtenem Bescheid erlassene Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I.) sowie in weiterer Folge die daran geknüpften Spruchpunkte II. (Durchsetzungsaufschub) und III. (aufschiebende Wirkung) aufzuheben.

Da auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entfallen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder fehlt es an einer Rechtsprechung zur Anwendung der erhöhten Gefährdungsmaßstäbe, noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

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European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I414.2234724.1.00

Im RIS seit

24.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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