TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/17 W261 2189281-1

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Veröffentlicht am 17.09.2020
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Entscheidungsdatum

17.09.2020

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W261 2189281-1/29E

Im Namen der Republik!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Helmut BLUM, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, vom 25.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II.     Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

III.    In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach Einreise als unbegleiteter Minderjähriger am 17.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am selben Tag fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer an, dass er aus der Provinz Baghlan stamme, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sei und vier Jahre lang die Grundschule besucht habe. Er habe Afghanistan verlassen, weil sein älterer Bruder von den Taliban getötet worden sei. Seine Eltern seien von diesen verprügelt worden. Er habe in Afghanistan nicht zur Schule gehen können, es herrsche Krieg in Afghanistan.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 16.08.2017 statt. Der minderjährige Beschwerdeführer gab dabei im Wesentlichen das an, was er bereits bei seiner Erstbefragung ausgesagt hatte. Er legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

3. Mit Eingabe vom 16.08.2017 erstattete der Beschwerdeführer durch seinen gesetzlichen Vertreter, dieser vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, eine Stellungnahme, wonach er von einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban bedroht sei. Die afghanischen Behörden seien nicht in der Lage, den Beschwerdeführer davor hinreichend zu schützen. Auf Grundlage der zahlreichen, zitierten Länderinformationen bestehe für ihn in ganz Afghanistan aufgrund der prekären Sicherheits- und Versorgungslage keine innerstaatliche Schutz- und Fluchtalternative.

4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 25.02.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, dass nicht festgestellt habe werden können, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland vor seiner Ausreise von den Taliban bedroht oder verfolgt worden sei. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara bedroht oder verfolgt werde. Fest stehe, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatstaat keinerlei Probleme gehabt habe, er weder verfolgt noch verhaftet worden sei. Selbst bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen seinen keine weiteren Ausreisegründe hervorgekommen. Auch im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat sei er keiner individuellen, konkreten Bedrohung durch die Taliban, Private oder staatlicherseits ausgesetzt. Es könne keine wie immer geartete besondere Gefährdung festgestellt werden. In Österreich bestehe kein schützenswertes Privat- oder Familienleben, weswegen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen gewesen sei.

5. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid mit Eingabe vom 12.03.2018, bevollmächtigt vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, fristgerecht Beschwerde und führte aus, dass der Bescheid vollinhaltlich angefochten werde. Die belangte Behörde habe es unterlassen, auf das individuelle Vorbringen des Beschwerdeführers einzugehen, und eine Gesamtbeurteilung anhand der Herkunftsstaat-spezifischen Informationen unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung vorzunehmen. Die belangte Behörde habe auch nicht berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer sowohl zum Zeitpunkt der Erstbefragung als auch bei der Ersteinvernahme minderjährig gewesen sei. Sowohl der Beschwerdeführer, als auch seine Familie seien im Herkunftsland von den Taliban verfolgt und körperlich misshandelt worden. Die Taliban hätten ihn auch aufgefordert, an deren Seite im Krieg mitzuwirken, andernfalls sie ihn mit dem Tod strafen würden. Der Beschwerdeführer werde auch aufgrund der Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe der Hazara verfolgt. Staatliche Behörden seien nicht in der Lage, ihn vor dieser Bedrohung zu schützen. In seine Herkunftsprovinz Baghlan könne der Beschwerdeführer nicht zurückkehren. Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung. Er würde im Falle seiner Rückkehr mit großer Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren. Es würden konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan einem realen Risiko einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt sein werde. Gegen eine Rückkehr spreche auch seine in hohem Maße fortgeschrittene Integration. Es werde daher beantragt, der Beschwerde stattzugeben.

6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 13.03.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 15.03.2018 in der Gerichtsabteilung W261 einlangte.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.09.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seines anwaltlichen Vertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer legte eine Reihe von weiteren Integrationsunterlagen vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

8. Der Beschwerdeführer erstattete mit Eingabe vom 01.10.2018 durch seinen anwaltlichen Vertreter eine Stellungnahme, in der er ausführte, dass sich die Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz Baghlan weiter verschlechtert habe. Die Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann komme in einem für das Verwaltungsgericht Wiesbaden erstellten Gutachten zu dem Ergebnis, dass allein schon durch die Anwesenheit in Afghanistan die Gefahr bestehe, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden, bestehe im gesamten Staatsgebiet. Auch habe der französische Asylgerichtshof einem afghanischen Staatsbürger subsidiären Schutz mit dem Hinweis gewährt, dass die aktuelle Sicherheitslage in Kabul eine Rückkehr nicht zulasse. Das Europäische Parlament habe die Mitgliedstaaten aufgefordert, Abschiebungen nach Afghanistan unverzüglich einzustellen und für Asylwerber entsprechende Rechtsvorschriften vorzusehen, da die Realität zeige, dass Afghanistan keineswegs als sicheres Herkunftsland gelten könne. Daraus ergebe sich tatsächlich und rechtlich, dass in Afghanistan eine prekäre Sicherheitslage herrsche. Eine Rückkehrentscheidung sei rechtswidrig und dem BF wäre jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren. Aufgrund seines individuellen Vorbringens wäre ihm der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

9. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte den Parteien des Verfahrens mit Schreiben vom 05.06.2019 das aktuelle Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 04.06.2019, Auszüge aus den EASO-Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 und den Bericht zur Sicherheitslage und sozioökonomischen Lage in Herat und Masar-e Scharif, ECOI.net vom 30.04.2019 und räumte diesen die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

10. Der Beschwerdeführer erstattete mit Eingabe vom 27.06.2019 durch seinen neuen anwaltlichen Vertreter, Dr. Helmut BLUM, eine Stellungnahme, wonach er praktisch sein ganzes Leben in einem sehr abgeschiedenen Teil Afghanistans verbracht und verfüge im Falle der Abschiebung über keinerlei Netzwerk, auf welches er im Falle der Abschiebung zurückgreifen könne. In seinem Heimatdorf, welches in der Gewalt der Taliban sei, würden noch mittelalterliche Verhältnisse bestehen. Der Beschwerdeführer laufe Gefahr, von den Taliban zwangsrekrutiert zu werden, sein Bruder sei von den Taliban getötet worden. Dieser Personenkreis zähle laut UNHCR zu jenen Personen, denen asylrelevante Verfolgung drohe. Da er sich den Anordnungen der Taliban widersetzt habe, werde er von diesen verfolgt und mit dem Tode bedroht. Die Netzwerke der Taliban würden es erlauben, den Beschwerdeführer auch in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zu finden. Kabul scheide laut UNHCR als innerstaatliche Fluchtalternative aus. Aufgrund der Dürre sei mittlerweile die Versorgungslage in diesen Städten als prekär einzustufen. Bedingt durch die traumatischen Ereignisse und die lange Dauer des Asylverfahrens, aber auch durch die Sorge um seine Familienangehörigen, von denen der Beschwerdeführer keine Nachricht habe, habe sich sein psychischer Gesundheitszustand mittlerweile erheblich verschlechtert. Er habe wiederholt angedeutet, sich das Leben nehmen zu wollen. Der Beschwerdeführer leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die einer dringenden und längerfristigen Behandlung bedürfe. Im Falle einer Abschiebung würde er neuerlich traumatisiert werden, was eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zur Folge haben werde. Psychische Erkrankungen würden in Afghanistan nicht bzw. nur völlig unzureichend behandelt. Der Beschwerdeführer würde daher auch aus diesem Grund für den Fall der Abschiebung nach Afghanistan Gefahr für Leib und Leben erleiden. Er rege die Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie ausdrücklich an. Schließlich werde auf die besondere Integration des Beschwerdeführers zu seiner „österreichischen Mutter“ verwiesen, auch insoweit besteht ein nach Art. 8 EMRK geschütztes Privat- und Familienleben. Er legte eine Terminbestätigung eines psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt vom 28.06.2019 vor, wonach am 03.04.2019 ein Erstgespräch stattgefunden habe, und er sich auf der Warteliste für eine regelmäßige Therapie befinde, da er in letzter Zeit wiederkehrende suizidale Aussagen in verbaler und schriftlicher Form von sich gegeben habe.

11. Mit Erkenntnis vom 30.08.2019, Zl. W261 2189281-1/17E, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und erklärte die Revision für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

12. Der Beschwerdeführer erhob gegen dieses Erkenntnis mit Eingabe vom 07.10.2019 durch seinen anwaltlichen Vertreter Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 144 Abs. 1 B-VG wegen Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, verbunden mit einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.

13. Mit Beschluss vom 11.10.2019, Zl. E 3688/2019-4, gab der Verfassungsgerichtshof dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung Folge.

14. Der Beschwerdeführer brachte mit Eingabe an den Verfassungsgerichtshof vom 18.12.2019 durch seinen anwaltlichen Vertreter ergänzend vor, dass es ihm seit der Zustellung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes psychisch sehr schlecht gehe. Am 04.12.2019 habe der Beschwerdeführer einen Selbstmordversuch verübt und eine halbe Flasche Haarshampoo getrunken. Am 05.12.2019 sei er in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses eingeliefert und dort stationär aufgenommen worden. Mit der Eingabe wurde ein psychotherapeutischer Befundbericht vorgelegt.

15. Mit Erkenntnis vom 09.06.2020, Zl. E 3688/2019-11, stellte der Verfassungsgerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer durch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit damit die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan und die daran anknüpfenden Spruchpunkte abgewiesen werde, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden sei. Das Erkenntnis wurde insoweit aufgehoben (Spruchpunkt I. 1.). Im Übrigen wurde die Behandlung der Beschwerde abgelehnt und insoweit dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten (Spruchpunkt I. 2.).

Begründend führte der Verfassungsgerichtshof im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer leide der Stellungnahme vom 29.06.2019 zufolge an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Suizidgedanken. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht ausreichend mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr nach Afghanistan auseinandergesetzt. Insbesondere fehle eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Zugang des Beschwerdeführers zu medizinischer Versorgung, psychotherapeutischer Behandlung und Medikamenten im Heimatstaat.

16. Das Bundesverwaltungsgericht teilte den Parteien des Verfahrens mit Schreiben vom 19.08.2020 mit, dass das aktuelle Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 21.07.2020, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, die EASO Country Guidance Afghanistan vom Juni 2019, ACCORD-Anfragebeantwortungen zur lokalen Sicherheits- und Versorgungslage in den Städten Masar-e Sharif und Herat vom 30.04.2020 bzw. 23.04.2020 und ein ACCORD-Bericht zur COVID-19-Situation vom 05.06.2020 als aktuelle Länderinformationen ins Verfahren eingebracht werden, und räumte diesen die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

17. Der Beschwerdeführer erstattete mit Eingabe vom 02.09.2020 durch seinen anwaltlichen Vertreter eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, dass es für ihn im gesamten Staatsgebiet Afghanistans keine innerstaatliche Fluchtalternative gebe. Dies einerseits aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes, andererseits aufgrund seines aufgrund seines Abfalls vom Islam und seiner Weigerung, nach islamischen Grundsätzen zu leben. Die Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen seien in Afghanistan sehr schlecht und stünden de facto nicht zur Verfügung. Der Beschwerdeführer würde daher im Fall seiner Rückkehr in eine ausweglose Lage geraten, hätte keine Behandlungsmöglichkeit und sein Gesundheitszustand würde sich dramatisch weiter verschlechtern. Er wäre dann nicht mehr arbeitsfähig und hätte keine Chance, in Afghanistan zu überleben. Ergänzend werde vorgebracht, dass sich die Situation durch die Corona-Pandemie verschlechtert habe, weshalb es dem Beschwerdeführer auch in einer der großen Städte unmöglich wäre, Fuß zu fassen. Mit der Stellungnahme wurden diverse medizinische und Integrationsunterlagen sowie eine Bestätigung über den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft vorgelegt.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und kennt sein genaues Geburtsdatum nicht, zum Zwecke der Verfahrensidentifikation wird das Geburtsdatum mit XXXX festgelegt. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und wuchs als schiitischer Muslim auf. Seine Muttersprache ist Dari. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Baghlan geboren. Er wuchs in seinem Heimatdorf auf und lebte gemeinsam mit seiner Familie in einem Eigentumshaus. Seine Familie besitzt Grundstücke im Ausmaß von einem halben Jirib.

Die Familie besteht aus seinem Vater, XXXX , seiner Mutter, XXXX , seinen drei Schwestern, XXXX , XXXX und XXXX und seinen drei Brüdern XXXX , XXXX und XXXX . Ein älterer Bruder, XXXX , wurde getötet.

Die Familie lebte vom Einkommen aus der Landwirtschaft, der Vater baute Obst, Gemüse und Opium an. Die finanzielle Lage der Familie ist schlecht. Die Familie des Beschwerdeführers lebt wahrscheinlich nach wie vor im Heimatdorf. Es ist dem Beschwerdeführer nicht möglich, mit dieser Kontakt aufzunehmen, weil es im Heimatdorf weder Telefon noch Internet gibt.

Der Beschwerdeführer hat weitere Verwandte in Afghanistan, nämlich einen Onkel väterlicherseits, zwei Onkel mütterlicherseits, zwei Tanten väterlicherseits und zwei Tanten mütterlicherseits, welche allesamt im Heimatdistrikt leben. Der Beschwerdeführer hat auch Cousins und Cousinen und noch Großeltern väterlicherseits, welche beim Onkel väterlicherseits leben.

Der Beschwerdeführer hat keine Schule besucht. Er nahm am Koranunterricht in der Madrassa seines Heimatdorfes teil. Er arbeitete in Afghanistan als Schafhirte.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Jahr 2015 als unbegleiteter Minderjähriger und stellte am 17.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.2.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Oktober 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 17.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer besuchte Deutschkurse, zuletzt auf dem Niveau B1, und verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache. In seiner Freizeit trainiert der Beschwerdeführer in einem Boxverein, er nahm auch bereits an Meisterschaftskämpfen erfolgreich teil. Der Beschwerdeführer besuchte im Jahr 2017 die Übergangsklasse der HTL in XXXX . Er arbeitete ehrenamtlich bei der Diakonie, er besucht beeinträchtigte Menschen. Er absolvierte alle Module des Integrationspasses der Stadt XXXX .

Der Beschwerdeführer bezog von seiner Einreise bis zum 02.08.2018 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung. In der Zeit von 13.04.2018 bis 12.05.2018 war er als Arbeiter und seit 16.07.2018 ist er (mit einer Unterbrechung von September 2019 bis Jänner 2020) als Kochlehrling bei der XXXX OG beschäftigt. Er befindet sich im zweiten Lehrjahr und verfügt über eine Einstellungszusage für die Zeit nach der Lehre.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen. Er hat in Österreich eine Frau kennengelernt, welche er als seine „österreichische Mutter“ bezeichnet. Neben Freundschaften konnten keine weiteren substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens des Beschwerdeführers in Österreich festgestellt werden.

Am 24.10.2019 zeigte der Beschwerdeführer dem Standesamt der Stadt XXXX den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft an.

Der Beschwerdeführer wird von seinen Vertrauenspersonen als bemüht, eifrig, fleißig, respektvoll, höflich, beliebt, freundlich, pünktlich, sympathisch, lustig, hilfsbereit, aufmerksam, engagiert, interessiert, sensibel, zielstrebig, intelligent, sportlich, aufgeschlossen, liebenswert, wissbegierig, lernbereit, ehrgeizig, zuvorkommend, gewissenhaft, ordentlich, offen, pflichtbewusst, ruhig, zuverlässig, vorbildlich, arbeitswillig und ehrlich beschrieben.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer schweren depressiven Episode samt Suizidgedanken und anderen Traumasymptomen. Er ist seit 17.10.2019 in psychotherapeutischer Behandlung, von 05.12.2019 bis 06.12.2019 war er nach einem Suizidversuch in stationärer Behandlung. Er benötigt auch weiterhin psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Baghlan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Dem Beschwerdeführer ist auch eine Neuansiedlung in einer anderen Region Afghanistans, etwa in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat, aufgrund seiner individuellen Umstände, insbesondere seiner psychischen Erkrankung, in Verbindung mit der aktuell wegen der COVID-19-Pandemie angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungsituation nicht zumutbar.

Der Zugang des Beschwerdeführers zu Behandlung seiner psychischen Erkrankung ist in Afghanistan, auch in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat, nicht ausreichend gewährleistet. Die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig. Patienten werden bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan aufgrund der Ressourcenknappheit nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen, der sie mit Medikamenten und Nahrungsmitteln versorgt und vor anderen Patienten beschützt. Personen ohne einen Angehörigen werden selbst in Notfällen nicht stationär aufgenommen. Der Beschwerdeführer verfügt in den afghanischen Großstädten über keine Angehörigen und über keine Möglichkeit, seine in der Provinz Baghlan lebenden Angehörigen zu kontaktieren, weshalb davon auszugehen ist, dass ihm die Aufnahme verweigert werden würde.

Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer Afghanistan im Alter von ca. 15 Jahren verlassen und nie alleine und auf sich gestellt in Afghanistan gelebt hat. Er hat keinen Kontakt zu seiner Familie in Afghanistan, deren finanzielle Lage zudem schlecht ist, und hat somit kein familiäres oder soziales Netzwerk im Ort der möglichen Neuansiedlung, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Der Beschwerdeführer hat insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und in Kabul keine unterstützungswilligen Angehörigen. Ihm drohen als Hazara und aufgrund seiner psychischen Erkrankung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Diskriminierung und Stigmatisierung.

Der Beschwerdeführer ist ein junger und körperlich gesunder Mann. Er verfügt jedoch über keinerlei Schulbildung und seine Berufserfahrung beschränkt sich auf eine Tätigkeit als Schafhirte bzw. die nicht abgeschlossene Kochlehre in Österreich. Er wäre daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan und Ansiedlung in einer der genannten Städte zur Sicherung seines Lebensunterhaltes auf Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Diese stehen aber aufgrund der in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen in den Großstädten derzeit nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zur Verfügung. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die große Zahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan, die sich vor allem in den Großstädten ansiedeln, weiter verschärft. Dasselbe gilt für die Unterkunftssituation, Teehäuser sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen derzeit geschlossen. Es wäre dem Beschwerdeführer, psychisch schwer beeinträchtigt ist und in diesen Städten niemanden kennt, daher in der aktuellen Situation – auch nach einer eventuellen Wiedererlangung seiner Arbeitsfähigkeit – mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich, eine Arbeit und eine günstige Unterkunft zu finden.

Der Beschwerdeführer wäre aufgrund dieser Umstände und seiner psychischen Erkrankung daher, um für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können, in besonderer Weise auf Unterstützung angewiesen, die ihm aber, wie bereits ausgeführt, nicht zur Verfügung steht.

Die beim Beschwerdeführer vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen und allgemeinen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der Beschwerdeführer vielmehr Gefahr, dass sich seine Erkrankung lebensgefährlich verschlechtert bzw. dass er grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen könnte und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten würde.

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban; Stigmatisierung) vom 05.06.2020

-        World Food Programme (WFP): Afghanistan: Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 13 (Covering 2nd week of August 2020) - 12 August, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-weekly-market-price-bulletin-issue-13-covering-2nd-week, abgerufen am 12.08.2020 (WFP)

1.4.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020)

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.4.2.1. Aktuelle COVID-19-Situation

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: Der afghanischen Regierung zufolge leben 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit leben. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Infolge der COVID-19-Pandemie und damit verbundener Importeinschränkungen sowie gestiegener Nachfrage sind die Preise für Lebensmittel in Afghanistan, insbesondere für Grundnahrungsmittel, seit Mitte März 2020 stark gestiegen. So stiegen die Preise zwischen 14. März und 12. August 2020 für Weizenmehl um 11 %, für Weizen um 12 %, für Speiseöl um 30 %, für Hülsenfrüchte um 28 %, für Zucker um 22 % und für Reis um 8 % bzw. 18 % (niedrige bzw. hohe Qualität) (WFP).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.4.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19-Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.4.3.1. Psychische Erkrankungen

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit

psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern

schwierig. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten

Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen

wenden können (LIB, Kapitel 21.1.).

Wie auch in anderen Krankenhäusern Afghanistans ist eine Unterbringung im Kabuler Krankenhaus von Patienten grundsätzlich nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. So werden Patienten bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen, oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen (LIB, Kapitel 21.1.).

Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in manchen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Menschen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und unter anderem bei folgenden Organisationen behandelt werden: bei International Psychosocial Organisation (IPSO) Kabul, Medica Afghanistan und PARSA Afghanistan (LIB, Kapitel 21.1.).

Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan weiterhin hoch stigmatisiert, obwohl Schätzungen zufolge 50 % der Bevölkerung psychische Symptome wie Depression, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörung zeigen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychisch Erkrankte sind oftmals einer gesellschaftlichen Stigmatisierung ausgesetzt (LIB, Kapitel 21.1.).

1.4.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10 % der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihr ethnisch asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

1.4.5. Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10-19 % geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30 %. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

1.4.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.4.7.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet, einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen betreffend COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.4.8.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zel

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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