Index
82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art18 Abs2Leitsatz
Gesetzwidrigkeit einer Bestimmung der COVID-19-Maßnahmenverordnung betreffend Betretungsverbote für Gastgewerbebetriebe und die Abholung vorbestellter Speisen mangels ausreichender Dokumentation der EntscheidungsgrundlagenRechtssatz
Gesetzwidrigkeit des §3 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II 96/2020, idF BGBl II 130/2020 (COVID-19-Maßnahmenverordnung-96); Zulässigkeit des Individualantrags eines Gastwirts, obwohl die angefochtene Verordnung im Zeitpunkt der Entscheidung des VfGH bereits außer Kraft getreten ist (vgl E v 14.07.2020, V411/2020). Im Übrigen: Zurückweisung des Eventualantrags hinsichtlich §1, §2 Abs2, 3, 5 und 6 und §4 der genannten Verordnung mangels hinreichender Darlegung der aktuellen Betroffenheit sowie des Antrags auf gänzliche Aufhebung der Verordnung.
Trotz Unterlassung, die angefochtene Fassung der Bestimmungen hinreichend genau zu bezeichnen, ist die Bestimmung wegen ihrer wörtlichen Wiedergabe unzweifelhaft erkennbar. Die im (Haupt-)Antrag zur Gänze angefochtene Verordnung enthält mehrere unterschiedliche, voneinander trennbare Verbotstatbestände. Der Antragsteller hat in seinem (Haupt-)Antrag nicht dargetan, inwiefern er von sämtlichen Tatbeständen der angefochtenen Verordnung unmittelbar und aktuell betroffen ist, so etwa auch, inwiefern er im Antragszeitpunkt konkret beabsichtigt hat, einen Beherbergungsbetrieb zum Zweck der Erholung und Freizeitgestaltung zu betreten oder selbst zu betreiben. Das Erfordernis solcher Darlegungen durch den Antragsteller besteht auch dann, wenn bestimmte Annahmen im Hinblick auf die sonst geschilderte Situation naheliegen mögen. Dies ist kein behebbares Formgebrechen, sondern ein Prozesshindernis, sodass der (Haupt-)Antrag schon aus diesem Grund als unzulässig zurückzuweisen ist.
Nach Art18 Abs2 B-VG kann der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber Abwägungs- und Prognosespielräume einräumen und, solange die wesentlichen Zielsetzungen, die das Verwaltungshandeln leiten sollen, der Verordnungsermächtigung in ihrem Gesamtzusammenhang mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sind, die situationsbezogene Konkretisierung des Gesetzes dem Verordnungsgeber überlassen. Es kommt auf die zu regelnde Sache und den Regelungszusammenhang an, welche Determinierungsanforderungen die Verfassung an den Gesetzgeber stellt. In diesem Zusammenhang hat der VfGH auch mehrfach ausgesprochen, dass der Grundsatz der Vorherbestimmung verwaltungsbehördlichen Handelns nicht in Fällen überspannt werden darf, in denen ein rascher Zugriff und die Berücksichtigung vielfältiger örtlicher und zeitlicher Verschiedenheiten für eine sinnvolle und wirksame Regelung wesensnotwendig sind, womit auch eine zweckbezogene Determinierung des Verordnungsgebers durch unbestimmte Gesetzesbegriffe und generalklauselartige Regelungen zulässig ist. Dabei hat der VfGH auch darauf hingewiesen, dass in einschlägigen Konstellationen der Normzweck auch gebieten kann, dass eine zum Zeitpunkt ihrer Erlassung dringend erforderliche - unter Umständen unter erleichterten Voraussetzungen zustande gekommene - Maßnahme dann rechtswidrig wird und aufzuheben ist, wenn der Grund für die Erlassung fortfällt.
Überlässt der Gesetzgeber im Hinblick auf bestimmte tatsächliche Entwicklungen dem Verordnungsgeber die Entscheidung, welche aus einer Reihe möglicher, unterschiedlich weit gehender, aber jeweils Grundrechte auch intensiv einschränkender Maßnahmen er seiner Prognose zufolge und in Abwägung der betroffenen Interessen für erforderlich hält, hat der Verordnungsgeber seine Entscheidung auf dem in der konkreten Situation zeitlich und sachlich möglichen und zumutbaren Informationsstand über die relevanten Umstände, auf die das Gesetz maßgeblich abstellt, und nach Durchführung der gebotenen Interessenabwägung zu treffen. Dabei muss er diese Umstände ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren entsprechend festhalten, um eine Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung zu gewährleisten. Determiniert das Gesetz die Verordnung inhaltlich nicht so, dass der Verordnungsinhalt im Wesentlichen aus dem Gesetz folgt, sondern öffnet er die Spielräume für die Verwaltung so weit, dass ganz unterschiedliche Verordnungsinhalte aus dem Gesetz folgen können, muss der Verordnungsgeber die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände entsprechend ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren auch nachvollziehbar festhalten, sodass nachgeprüft werden kann, ob die konkrete Verordnungsregelung dem Gesetz in der konkreten Situation entspricht. Vor diesem Hintergrund hegt der VfGH keine Bedenken gegen §1 COVID-19-MaßnahmenG.
Aus dem Regelungszusammenhang insbesondere mit §2 COVID-19-MaßnahmenG geht die grundsätzliche Zielsetzung des Gesetzgebers hervor, durch Betretungsverbote für Betriebsstätten die persönlichen Kontakte von Menschen einzudämmen. Der Verordnungsgeber muss in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 notwendig prognosehaft beurteilen, inwieweit in Aussicht genommene Betretungsverbote oder Betretungsbeschränkungen von Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignete (der Zielerreichung dienliche) erforderliche (gegenläufige Interessen weniger beschränkend und zugleich weniger effektiv nicht mögliche) und insgesamt angemessene (nicht hinnehmbare Grundrechtseinschränkungen ausschließende) Maßnahmen darstellen.
Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers umfasst insoweit auch die zeitliche Dimension dahingehend, dass ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des §1 COVID-19-MaßnahmenG vorgesehen und auch gefordert ist.
Der Verordnungsgeber ist verpflichtet, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu. Für die Beurteilung des VfGH ist der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen und die diesen zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich.
Dass es damit dafür, ob die angefochtenen Verordnungsbestimmungen mit den Zielsetzungen des §1 COVID-19-MaßnahmenG im Einklang stehen, auch auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung ankommt, ist kein Selbstzweck. Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu.
Die Abs1 bis Abs5 des §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 waren bereits in der Stammfassung dieser Verordnung enthalten und galten unverändert bis zum Außerkrafttreten der Verordnung mit 01.05.2020. Die Novelle BGBl II 130/2020 fügte §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 mit Wirkung vom 03.04.2020 einen weiteren Absatz 6 über die Abholung vorbestellter Speisen an; auch diese Bestimmung galt anschließend unverändert bis zum Außerkrafttreten der Verordnung mit 01.05.2020.
Als Grundlagen finden sich im vorgelegten Verwaltungsakt (Mail-Korrespondenzen betreffend Lieferservice, keine Hotspots an Würstelständen oder Eisdielen) und in den Verordnungsakten im Wesentlichen Hinweise, dass die Novellierung die Ermöglichung der Abholung von Speisen und die Untersagung des Betretens von Beherbergungsbetrieben zum Zweck der Erholung und Freizeitgestaltung (touristische Zwecke) erfasst.
Die Entscheidungsgrundlagen, die im Verordnungsakt zur COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 in der Stammfassung BGBl II 96/2020 bzw insbesondere zur Novelle BGBl II 130/2020 dokumentiert sind, reichen nicht aus, um den aus §1 COVID-19-MaßnahmenG folgenden Anforderungen an die Dokumentation einer auf diese Gesetzesbestimmung gestützten Verordnung im Hinblick auf §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 idF BGBl II 130/2020 Rechnung zu tragen: Es ist aus den Verordnungsakten nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID-19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung zur Beibehaltung des Verbotes des Betretens von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe durch die Verordnungsnovelle BGBl II 130/2020 geleitet haben.
§3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 in der Fassung BGBl II 130/2020 verstößt somit gegen §1 COVID-19-MaßnahmenG, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat.
Da §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 durch §13 Abs2 Z1 COVID-19-Lockerungsverordnung, BGBl II 197/2020, mit Ablauf des 30.04. 2020 aufgehoben wurde, ist daher festzustellen, dass §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 in der Fassung BGBl II 130/2020 gesetzwidrig war. Damit wird nicht darüber abgesprochen, ob §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 idF vor BGBl II 130/2020, das heißt vor dem 03.04.2020, gesetzwidrig war.
Entscheidungstexte
Schlagworte
COVID (Corona), Bindung (des Verordnungsgebers), Verordnungserlassung, Legalitätsprinzip, VfGH / Individualantrag, VfGH / Formerfordernisse, DeterminierungsgebotEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:V405.2020Zuletzt aktualisiert am
03.12.2020