RS Vfgh 2020/10/1 G272/2020 ua, V469/2020 ua (G272/2020-11)

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Veröffentlicht am 01.10.2020
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z3
B-VG Art140 Abs1 Z1 litc
COVID-19-MaßnahmenG §1, §4
COVID-19-LockerungsV BGBl II 197/2020 idF BGBl II 207/2020 §6 Abs1, Abs4
COVID-19-LockerungsV BGBl II 197/2020 idF BGBl II 231/2020 §6 Abs5
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Aufhebung einer Bestimmung der COVID-19-Lockerungsverordnung betreffend die Abstandsregelung zwischen Verabreichungsplätzen verschiedener Besuchergruppen in Gastgewerbebetrieben sowie Gesetzwidrigkeit der Voraussetzungen für den Einlass von Besuchergruppen mangels ausreichender Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen

Rechtssatz

Aufhebung des §6 Abs1 und Abs4 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung - COVID-19-LV), BGBl II 197/2020, idF BGBl II 207/2020; Inkrafttreten der Aufhebung mit Ablauf des 31.12.2020. Gesetzwidrigkeit des §6 Abs5 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung - COVID-19-LV), BGBl II 197/2020, idF BGBl II 231/2020. Ablehnung der Anträge auf Aufhebung des §4 Abs2 COVID-19-MaßnahmenG, BGBl I 12/2020, idF BGBl I 16/2020, im Hinblick auf die E jeweils vom 14.07.2020, G202/2020 ua und V411/2020). Im Übrigen: Zurückweisung der gegen §3 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96, BGBl II 96/2020, idF BGBl II 96/2020, BGBl II 110/2020, BGBl II 112/2020, BGBl II 130/2020, BGBl II 151/2020 und BGBl II 162/2020 sowie §6 Abs1 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020 und §6 Abs1, Abs4 und Abs5 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 207/2020, BGBl II 231/2020 und BGBl II 239/2020 gerichteten Individualanträge der Gastronomiebetreiber wegen Antragstellung nach Außerkrafttreten.

§6 Abs1 und Abs4 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020 stand im Zeitpunkt der Antragstellung idF BGBl II 207/2020 in Kraft und ist daher so zu deuten, dass er in dieser Fassung angefochten wurde. Die Bestimmungen sind seither unverändert in Geltung. Diesbezüglich sind die gestellten Anträge sohin zulässig. §6 Abs5 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020 stand im Zeitpunkt der Antragstellung idF BGBl II 231/2020 in Kraft. Dass diese Bestimmung mit BGBl II 266/2020 nach der Antragstellung entfallen ist, schadet mit Blick auf die mit E v 14.07.2020, V411/2020 beginnende Rsp des VfGH nicht.

Verstoß der §6 Abs1 und Abs4 COVID-19-LV idF BGBl II 207/2020 sowie §6 Abs5 COVID-19-LV idF BGBl II 231/2020 gegen §1 COVID-19-MaßnahmenG:

Der Verordnungsgeber muss in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 notwendig prognosehaft beurteilen, inwieweit in Aussicht genommene Betretungsverbote oder Betretungsbeschränkungen von Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignete (der Zielerreichung dienliche), erforderliche (gegenläufige Interessen weniger beschränkend und zugleich weniger effektiv nicht mögliche) und insgesamt angemessene (nicht hinnehmbare Grundrechtseinschränkungen ausschließende) Maßnahmen darstellen.

Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers umfasst insoweit auch die zeitliche Dimension dahingehend, dass ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des §1 COVID-19-MaßnahmenG vorgesehen und auch gefordert ist.

Der Verordnungsgeber ist verpflichtet, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungs-erlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu. Für die Beurteilung des VfGH ist der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen und die diesen zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich.

Dass es damit dafür, ob die angefochtenen Verordnungsbestimmungen mit den Zielsetzungen des §1 COVID-19-MaßnahmenG im Einklang stehen, auch auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung ankommt, ist kein Selbstzweck. Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu.

Als Grundlagen finden sich in den Verordnungsakten Entwürfe der LockerungsV idF BGBl II 197/2020 und BGBl II 207/2020 hinsichtlich der Maßnahmen in Betriebsstätten, bei Veranstaltungen, in Massenbeförderungsmitteln, etc., Festlegung von Bestimmungen exklusive Sport und Entwürfe der LockerungsV idF BGBl II 231/2020 sowie E-Mails, die jedoch keine die Erlassung der Verordnung begründenden Aspekte enthalten.

Auf den Stand der möglichen Entwicklungsszenarien von COVID-19 bezugnehmende und die (in Aussicht genommenen) Maßnahmen dazu und zu den sonstigen zu berücksichtigenden Interessen in Beziehung setzende Unterlagen oder Angaben finden sich nicht.

Damit genügen die angefochtenen §6 Abs1 und 4 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 207/2020 und §6 Abs5 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 231/2020 den Vorgaben des §1 COVID-19-MaßnahmenG schon aus diesem Grund nicht: Entscheidungsgrundlagen, Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der zu erlassenden Regelung betreffen, fehlen im Verordnungsakt gänzlich. Es ist aus den vorgelegten Verordnungsakten nicht ersichtlich, welche Umstände den Verordnungsgeber - insbesondere bei seiner Entscheidung hinsichtlich der in Abs4 und 5 genannten Voraussetzungen für das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe - geleitet haben; dabei wiegt die Tatsache, dass diese Regelungen intensiv in die Grundrechtssphäre sowohl der Gewerbetreibenden als auch der Besucher eingreifen, schwer.

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), Verordnungserlassung, Bindung (des Verordnungsgebers), Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, Legalitätsprinzip, VfGH / Individualantrag, VfGH / Präjudizialität

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:G272.2020

Zuletzt aktualisiert am

05.10.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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