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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §13 Abs2Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der E B in W, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15, gegen das am 8. Mai 2017 mündlich verkündete und mit 28. Juli 2017 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW-151/023/15951/2016-22, betreffend Rückstufung nach § 28 Abs. 1 NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1.1. Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde (im Folgenden: Behörde) stellte mit Bescheid vom 11. November 2016 - gestützt auf § 28 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) - fest, dass das unbefristete Niederlassungsrecht der Revisionswerberin, einer türkischen Staatsangehörigen, beendet sei.
Die Behörde führte dazu begründend aus, die Revisionswerberin sei Inhaberin eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 NAG. Sie sei am 4. Juni 2014 zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von neun Monaten und am 16. Jänner 2015 zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von acht Monaten strafgerichtlich verurteilt worden. Die - um eine fremdenrechtliche Begutachtung ersuchte - Bundespolizeidirektion Wien habe festgestellt, dass auf Grund der Verurteilungen die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorlägen, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme jedoch im Hinblick auf den Schutz des Privat- und Familienlebens nicht verhängt werden könne. Es sei daher das Ende des unbefristeten Niederlassungsrechts festzustellen und von Amts wegen ein befristeter Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ auszustellen (Rückstufung).
1.2. Die Revisionswerberin erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem Vorbringen, der bloße Hinweis auf die Verurteilungen sei als Begründung für die Rückstufung nicht ausreichend. Die Verurteilungen müssten die Annahme rechtfertigen, dass der weitere Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen würde. Eine diesbezügliche Prüfung sei gegenständlich nicht erfolgt. Im Übrigen stehe der Rückstufung auch § 9 Abs. 4 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG idF vor dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2018 - FrÄG 2018, BGBl. I Nr. 56/2018) entgegen, wonach gegen einen auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung nicht zulässig sei, wenn er (unter anderem) von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sei. Dies treffe auf die Revisionswerberin zu, sei diese doch in Österreich geboren und seither auf Grund von Aufenthaltstiteln rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig.
1.3. Das Verwaltungsgericht beraumte eine mündliche Verhandlung über die Beschwerde für den 8. Mai 2017 an, zu der es (auch) die Revisionswerberin lud (die Zustellung der Ladung ist im Akt ausgewiesen). Die Revisionswerberin blieb der Verhandlung unentschuldigt fern.
2.1. Mit dem - in der Verhandlung am 8. Mai 2017 in Abwesenheit der Parteien mündlich verkündeten und mit 28. Juli 2017 schriftlich ausgefertigten - angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab.
2.2. Das Verwaltungsgericht traf dabei folgende Feststellungen:
Die am 10. September 1998 in Wien geborene Revisionswerberin habe im Februar 1999 einen Erstantrag und in der Folge Verlängerungsanträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt, denen jeweils entsprochen worden sei. Zuletzt sei ihr ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ erteilt worden. Sie weise seit Juni 2000 auch durchgehend Hauptwohnsitze im Bundesgebiet auf.
Mit strafgerichtlichem Urteil vom 4. Juni 2014 sei die Revisionswerberin wegen der Verbrechen des Raubes und des versuchten Raubes sowie der Vergehen der Körperverletzung und der Sachbeschädigung zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt worden. Dem sei zugrunde gelegen, dass sie im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit anderen Tätern am 18. März 2014 einem anderen ein Mobiltelefon weggenommen (dem Opfer aus der Hand gerissen) habe, dass sie versucht habe, einem anderen ein Mobiltelefon wegzunehmen (das Opfer sei dabei von einem Mittäter im Schwitzkasten gehalten und ins Gesicht geschlagen worden), dass sie am 1. Oktober 2013 einem anderen einen Tritt versetzt habe (das Opfer habe dabei eine Rippenprellung erlitten), dass sie am 12. Dezember 2013 einem anderen einen Schlag versetzt habe (das Opfer habe dabei eine Schädelprellung erlitten) und in den Unterarm gebissen habe, sowie dass sie am 6. Februar 2014 gemeinsam mit einer anderen Person eine Fensterscheibe mit Permanentmarker beschmiert habe.
Mit strafgerichtlichem Urteil vom 16. Jänner 2015 sei die Revisionswerberin wegen des Verbrechens des Diebstahls und des Einbruchsdiebstahls sowie des Vergehens der Körperverletzung zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden. Dem sei zugrunde gelegen, dass sie am 3. August 2014 mit einem widerrechtlich erlangten Schlüssel Verfügungsberechtigten eines Gästehauses € 400,-- aus einer verschlossenen, mit dem Schlüssel geöffneten Lade weggenommen habe, dass sie am 10. Mai 2014 eine Getränkeflasche widerrechtlich aus einem Automaten entnommen habe sowie dass sie am 29. Mai 2014 einen anderen in den Arm gebissen habe (das Opfer habe dabei eine blutende Wunde erlitten).
Ob die Revisionswerberin Angehörige in Österreich habe und inwieweit Bindungen zur Heimat bestünden, habe wegen ihres Fernbleibens von der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht festgestellt werden können. Auf Grund ihrer durchgehenden Hauptwohnsitzmeldungen sei jedoch von einer weitgehenden sozialen Integration in Österreich und von der Beherrschung der deutschen Sprache auszugehen. Die Revisionswerberin habe bislang keine Erwerbstätigkeit im Inland ausgeübt.
Mit Beschluss des Bezirksgerichts H vom 3. November 2016 sei der Verein „V[...] Sachwalterschaft“ (im Folgenden nur: Verein) zum einstweiligen Sachwalter für die Revisionswerberin mit dem Wirkungskreis „Vertretung in allen dringenden Angelegenheiten der Einkommens- und Vermögensverwaltung sowie gegenüber privaten Vertragspartnern“ bestellt worden. Mit Beschluss vom 4. April 2017 sei der Verein zum Sachwalter mit dem Wirkungskreis „Vertretung in den Angelegenheiten der Einkommens- und Vermögensverwaltung“ bestellt worden. Mit Beschluss vom 31. Mai 2017 sei der genannte Verein zum einstweiligen Sachverwalter auch für den Wirkungskreis „Vertretung gegenüber Behörden, Gerichten und Sozialversicherungsträgern“ bestellt worden.
2.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen:
2.3.1. Bei der für ein Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose sei auf das Gesamtverhalten eines Fremden abzustellen. Es sei dabei eine Beurteilung vorzunehmen, ob und infolge welcher Umstände die Annahme der Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG gerechtfertigt sei. Für die Beurteilung komme es nicht auf das Vorliegen rechtskräftiger Verurteilungen, sondern auf das zugrunde liegende Verhalten an. Ein besonderes öffentliches Interesse bestehe jedenfalls an der Hintanhaltung von strafbaren Handlungen gegen die körperliche Integrität von Personen und gegen fremdes Vermögen.
Vorliegend habe die Revisionswerberin (dem Inhalt der Strafurteile zufolge) binnen kurzer Zeit zum Teil schwere Angriffe gegen die körperliche Integrität von Personen und gegen fremdes Eigentum getätigt. Sie habe bei den Straftaten zum Teil massive Gewalt unter Inkaufnahme erheblicher Verletzungsfolgen bzw. zur Erlangung vergleichsweise geringwertiger Gegenstände angewendet. Sie habe sich auch durch die erstmalige Verurteilung (im Juni 2014) nicht davon abhalten lassen, kurz darauf wieder eine Straftat (einen Einbruchsdiebstahl) zu begehen. Sie habe hierdurch ihre mangelnde Verbundenheit mit den geltenden Normen und Werten zum Ausdruck gebracht.
Da seit den Verurteilungen nur knapp drei Jahre vergangen seien, falle das seitdem gezeigte Wohlverhalten nicht entscheidend ins Gewicht. Der Zeitraum sei mit Blick auf die Vielzahl und Schwere der Angriffe jedenfalls zu kurz, um von einem allfälligen Gesinnungswandel ausgehen zu können. Dies selbst unter Berücksichtigung, dass die Straftaten im jugendlichen Alter verübt worden seien und die allfällige fortgeschrittene Reife zu einem Gesinnungswandel beigetragen haben könnte.
Hervorzuheben sei weiters, dass die Revisionswerberin zur mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht, in der es hauptsächlich um Erhebungen (bezüglich ihrer Haltung zu den Straftaten bzw. der Entwicklung eines entsprechenden Unrechtsbewusstseins) zur Erstellung einer Zukunftsprognose gegangen sei, trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erschienen sei. Sie habe auch keine diesbezügliche schriftliche Stellungnahme erstattet. Eine nähere Prüfung der für die Prognosebeurteilung maßgeblichen Umstände sei daher nicht möglich gewesen.
Nach dem Vorgesagten sei eine negative Zukunftsprognose zu erstellen (gewesen), weil davon auszugehen sei, dass auch in Hinkunft mit strafbaren Handlungen gegen die körperliche Integrität von Personen und gegen fremdes Vermögen gerechnet werden müsse und der weitere Aufenthalt somit eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit bedeuten würde.
2.3.2. Allerdings sei - so das Verwaltungsgericht weiter - die Revisionswerberin in Österreich geboren und aufgewachsen, sodass von einer Aufenthaltsverfestigung im Sinn des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG auszugehen sei. Im Hinblick darauf habe eine Rückkehrentscheidung jedenfalls nicht ergehen dürfen.
Soweit die Revisionswerberin die Zulässigkeit einer Rückstufung in Abrede stelle, sei auf die aktuelle Rechtsprechung (Hinweis auf VwGH 27.4.2017, Ra 2016/22/0094) hinzuweisen, wonach § 28 Abs. 1 NAG mit der Novelle BGBl. I Nr. 87/2012 dahin geändert worden sei, dass der bisherige Verweis auf § 61 FPG durch jenen auf § 9 BFA-VG ersetzt worden sei. Die zuletzt genannte Bestimmung beziehe sich nicht nur auf das Privat- und Familienleben (Abs. 1 bis 3), sondern auch auf Verbotstatbestände (Abs. 4 bis 6), darunter auch die Aufenthaltsverfestigung. Folglich sei nunmehr die Rückstufung zulässig, wenn die aufenthaltsbeendende Maßnahme entweder im Hinblick auf den Schutz des Privat- und Familienlebens oder auch im Hinblick auf die Verbotstatbestände nicht verhängt werden dürfe.
Lägen daher - wie hier - die Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor, dürfe diese aber aus einem der Gründe des § 9 BFA-VG (hier wegen Aufenthaltsverfestigung) nicht erlassen werden, so sei gleichwohl eine Rückstufung zulässig.
2.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht zulässig sei.
3.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof - nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
3.2. Die Revisionswerberin macht als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG - unter anderem - geltend, sie sei auf Grund einer psychischen Erkrankung nicht prozessfähig (gewesen). Sie habe daher am Verfahren nicht mitwirken und ihre Rechte (auf näher erörterte Weise) nicht selbst wahrnehmen können. Insbesondere sei sie zur mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht nicht ordnungsgemäß geladen worden und habe daran nicht teilnehmen können. Ein Sachwalter zur Vertretung auch vor Behörden und Gerichten sei erst in der Folge bestellt worden.
3.3. Die Revision ist aus dem geltend gemachten Grund zulässig und auch begründet.
4.1. Voranzustellen ist, dass Rechtsfragen des Verfahrensrechts jedenfalls dann von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG sind, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechts auf dem Spiel stehen (vgl. VwGH 24.3.2015, Ra 2015/09/0011). Dies trifft auf die hier aufgeworfene Frage der Prozessfähigkeit (prozessualen Handlungsfähigkeit) der Revisionswerberin zu, zumal es dabei um die - für die Wahrung der Rechte in der gegenständlichen Rechtssache unerlässliche - Fähigkeit geht, durch eigenes Handeln oder Handeln eines selbst gewählten (gewillkürten) Vertreters rechtswirksam Verfahrenshandlungen vor- oder entgegenzunehmen (vgl. VwGH 12.9.2017, Ra 2017/16/0078).
4.2. Voranzustellen ist weiters, dass das Neuerungsverbot nach § 41 VwGG nur insoweit gilt, als eine Partei im Verfahren Gelegenheit hatte, Tatsachen und Beweismittel vorzubringen (vgl. VwGH 20.2.2002, 2001/08/0192). Dem ist der Fall eines Prozessunfähigen, für den erst nach Abschluss des Verfahrens - oder wie hier erst nach der (auch in Abwesenheit der Parteien wirksamen; vgl. VwGH 27.6.2016, Ra 2016/11/0059) Verkündung des Erkenntnisses - ein Sachwalter (nunmehr gerichtlicher Erwachsenenvertreter gemäß §§ 271 ff ABGB idF BGBl. I Nr. 59/2017) bestellt wurde, gleichzuhalten. Er darf daher - unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung von Verfahrensvorschriften - jedenfalls noch im Revisionsverfahren ein für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung beachtliches Vorbringen, wonach er schon vor der Bestellung des Sachwalters prozessunfähig gewesen sei, erstatten. Dieser Umstand ist gegebenenfalls vom Verwaltungsgerichtshof als Verfahrensmangel aufzugreifen, und zwar ungeachtet dessen, ob das Verwaltungsgericht insofern ein Verschulden trifft bzw. ob ihm ein sonstiger Vorwurf zu machen ist (vgl. zum Ganzen VwGH 28.4.2016, Ra 2014/20/0139; neuerlich 2001/08/0192).
5.1. Die Frage der Prozessfähigkeit einer Partei ist zufolge des § 9 AVG, wenn - wie hier - in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Damit wird die prozessuale Rechts- und Handlungsfähigkeit an die materiellrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft. Hierfür ist entscheidend, ob die Partei im Zeitpunkt der betreffenden Verfahrensabschnitte in der Lage war, die Bedeutung und die Tragweite des Verfahrens und der sich in diesem ereigneten prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten, was sowohl aktiv gesetzte Verfahrenshandlungen wie auch Unterlassungen erfasst (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2015/01/0162; 16.11.2012, 2012/02/0198).
5.2. Die Frage des Vorliegens der prozessualen Handlungsfähigkeit ist nach § 9 AVG von der Behörde bzw. vom Gericht als Vorfrage in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen aufzugreifen. Bei begründeten Bedenken in Bezug auf das Fehlen der Prozessfähigkeit der betreffenden Person ist daher die Frage von Amts wegen zu prüfen und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren - in der Regel durch Einholung eines Sachverständigengutachtens - durchzuführen (vgl. neuerlich VwGH Ra 2014/20/0139; Ra 2015/01/0162).
Eine Prüfung des Vorliegens der prozessualen Handlungsfähigkeit durch die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht hat indes - nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur hier zeitraumbezogen noch maßgeblichen Rechtslage vor dem 2. Erwachsenenschutz-Gesetz, BGBl. I Nr. 59/2017 (auf die überwiegend erst mit 1. Juli 2018 in Kraft getretene und auf ab dem Zeitpunkt ereignete Sachverhalte anzuwendende Novelle braucht nicht eingegangen zu werden) - insoweit nicht zu erfolgen, als bereits durch das Pflegschaftsgericht ein Sachwalter rechtskräftig bestellt worden war. Der diesbezügliche Beschluss hat nämlich konstitutive Wirkung und führt ab seiner Erlassung innerhalb des Wirkungskreises des Sachwalters zur fehlenden Geschäfts- und Handlungsfähigkeit der betreffenden Person (vgl. etwa VwGH 21.5.2019, Ra 2019/03/0037; neuerlich 2012/02/0198).
Dieselben Überlegungen gelten auch für einen mit sofortiger Wirkung gemäß § 120 AußStrG bestellten einstweiligen Sachwalter (vgl. VwGH 31.3.2014, 2013/03/0162). Demgegenüber ist für die Zeit bis zur Bestellung des Sachwalters bei begründeten Bedenken hinsichtlich des in Betracht kommenden Zeitraums von der Behörde bzw. vom Verwaltungsgericht selbst zu prüfen, ob der Revisionswerber schon damals nicht mehr prozessfähig gewesen ist (vgl. etwa VwGH 6.7.2015, Ra 2014/02/0095; neuerlich Ra 2019/03/0037).
6. Bei Anwendung der soeben erörterten Grundsätze auf den hier zu beurteilenden Fall ergibt sich Folgendes:
6.1. Nach der Aktenlage bestanden zwar für das Verwaltungsgericht - sieht man davon ab, dass auf dem Überweisungsbeleg für die Beschwerdegebühr der Verein „V[...] Sachwalterschaft“ und dessen Mitarbeiterin A J als Auftraggeber angeführt waren - bis zur Verkündung des angefochtenen Erkenntnisses keine Anhaltspunkte, dass die prozessuale Handlungsfähigkeit der Revisionswerberin fehlen könnte. Dies steht jedoch bei einem späteren Aufkommen begründeter Zweifel dem Aufgreifen der Prozessunfähigkeit als Verfahrensmangel durch den Verwaltungsgerichtshof nicht entgegen, ist doch ein derartiger Mangel in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen, wobei es auch nicht darauf ankommt, ob das Verwaltungsgericht insofern ein Verschulden trifft bzw. ob ihm irgendein Vorwurf zu machen ist.
6.2. Nach der Aktenlage wurde durch das Vorbringen der Revisionswerberin im Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses erstmals bekannt, dass der Verein mit Beschluss des Bezirksgerichts H vom 3. November 2016 zum einstweiligen Sachwalter mit dem Wirkungskreis „Vertretung in allen dringenden Angelegenheiten der Einkommens- und Vermögensverwaltung sowie gegenüber privaten Vertragspartnern“ sowie mit weiterem Beschluss des Bezirksgerichts H vom 4. April 2017 zum Sachwalter mit dem Wirkungskreis „Vertretung in den Angelegenheiten der Einkommens- und Vermögensverwaltung“ bestellt wurde. Mit der Erlassung dieser Beschlüsse wurde zwar die Geschäfts- und Handlungsfähigkeit der Revisionswerberin innerhalb des jeweiligen Wirkungskreises des Sachwalters eingeschränkt, die gegenständliche Verfahrensführung war davon freilich nicht berührt, fiel diese doch (zunächst) nicht in den Wirkungsbereich des Sachwalters.
Erst in der Folge wurde der Wirkungskreis des Sachwalters auf die „Vertretung gegenüber Behörden, Gerichten und Sozialversicherungsträgern“ erweitert, indem der Verein mit Beschluss des Bezirksgerichts H vom 31. Mai 2017 zum einstweiligen Sachverwalter und mit weiterem Beschluss des Bezirksgerichts D vom 29. März 2018 zum Sachwalter auch für den soeben genannten Wirkungskreis bestellt wurde. Mit der Erlassung (Wirksamkeit) der soeben genannten Beschlüsse wurde zwar die Prozess- und Handlungsfähigkeit der Revisionswerberin in Bezug auf das hier gegenständliche Verfahren konstitutiv ausgeschlossen, eine diesbezügliche Aussage (auch) für die Zeit davor war damit freilich nicht verbunden. Es bedarf daher einer ergänzenden Prüfung durch das Verwaltungsgericht selbst, um beurteilen zu können, ob die Revisionswerberin auch schon in der Zeit vor Erweiterung des Wirkungskreises des Sachwalters auf die Vertretung unter anderem gegenüber Behörden und Gerichten prozessunfähig war (oder nicht).
6.3. Bei der - nach dem Vorgesagten gebotenen - Prüfung kommt fallbezogen dem Inhalt der von den Bezirksgerichten H und D in den Sachwalterbestellungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten entscheidende Bedeutung zu.
Der Sachverständige Dr. H hielt in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 29. Dezember 2016 fest, die Revisionswerberin weise eine emotional instabile Persönlichkeit mit dissimulativen Tendenzen auf. Sie habe selbst angegeben, unter Impulskontrollstörungen zu leiden und mit Geld nicht umgehen zu können. Im Hinblick darauf erscheine sie nicht in der Lage, ihre finanziellen Angelegenheiten ohne einen Nachteil für sich selbst zu besorgen. Sie bedürfe daher in ihrer sensiblen Lebenslage Unterstützung durch einen Sachwalter. Eine Besserung sei zu erwarten, eine neuerliche Überprüfung werde in etwa zwei Jahren angeregt.
Die Sachverständige Dr. L diagnostizierte in ihrem psychiatrisch neurologischen Gutachten vom 29. August 2017 eine psychiatrische Erkrankung im Sinn einer Persönlichkeitsentwicklungsverzögerung mit Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Sie führte näher aus, bei der Revisionswerberin falle eine beschönigende Darstellung der eigenen Defizite auf, es bestehe die Tendenz, andere für ihr Unvermögen bei der Regelung ihrer Angelegenheiten verantwortlich zu machen. Es zeige sich eine deutliche Störung der Emotionen und des Sozialverhaltens im Kinder- und Jugendalter sowie eine Persönlichkeitsentwicklungsverzögerung mit emotionaler Instabilität im Sinn einer reduzierten Frustrationstoleranz und Belastbarkeit. Das Planungs- und Durchhaltevermögen sei deutlich herabgesetzt, Einsicht in die eigenen Defizite sei nicht zuverlässig gegeben. Die Erweiterung der Sachwalterschaft auf die Vertretung vor Ämtern, Behörden, Gerichten und Sozialversicherungsträgern erscheine daher aus medizinischer Sicht indiziert.
6.4. Ausgehend von diesen Gutachten liegen freilich deutliche Hinweise darauf vor, dass die Revisionswerberin auf Grund ihrer psychischen Erkrankung und der damit verbundenen Einschränkungen auch schon vor der (Ende Mai 2017 erfolgten) Erweiterung der Sachwalterschaft auf die Vertretung vor Behörden und Gerichten in diesen Bereichen prozessunfähig gewesen sei.
Eine diesbezügliche Beurteilung durch das Verwaltungsgericht ist nicht erfolgt.
7. Das angefochtene Erkenntnis war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 15. September 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020200002.J00Im RIS seit
24.11.2020Zuletzt aktualisiert am
24.11.2020