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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und den Hofrat Dr. Sulzbacher als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A I in W, vertreten durch Dr. Farid Rifaat, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen das am 30. Juli 2019 zu W154 2221620/13Z mündlich verkündete und am 18. November 2019 zu W154 2221620/24E schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste im Dezember 2003 - im Alter von 15 Jahren - in Österreich ein und erhielt mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 8. Juli 2004 Asyl.
2 Nach einer Verurteilung mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 5. September 2017 zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren wegen mehrfachen, zum Teil schweren Raubs und gewerbsmäßiger Einbruchsdiebstähle wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29. Dezember 2017 insbesondere der Status des Asylberechtigten aberkannt, der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei. Zugleich wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein achtjähriges Einreiseverbot erlassen. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2018 als unbegründet abgewiesen.
3 Am 1. Juli 2019 wurde der Revisionswerber aus der Strafhaft entlassen. Am selben Tag wurde über ihn mit Bescheid des BFA gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung verhängt und sogleich in Vollzug gesetzt.
4 Mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die vom Revisionswerber erhobene Schubhaftbeschwerde gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG als unbegründet ab, sprach gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG aus, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft vorlägen, und traf gemäß § 35 VwGVG eine diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenentscheidung.
5 In den zur mündlichen Verkündung protokollierten Entscheidungsgründen führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass im Fall des Revisionswerbers - wie bereits im Bescheid des BFA ausgeführt worden sei - Fluchtgefahr vorliege. Er verfüge zwar über eine Schulausbildung und Deutschkenntnisse, habe darüber hinaus seinen Aufenthalt im Bundesgebiet jedoch nicht genutzt, um sich nachhaltig zu integrieren. Er verfüge zwar über eine Berufsausbildung, sei aber nur zeitweise einer Arbeit nachgegangen. Er sei vor seiner strafgerichtlichen Verurteilung „mehrheitlich von staatlichen Leistungen versorgt“ worden. Im Übrigen habe er versucht, sich durch sein strafrechtliches Verhalten eine Einnahmequelle zu sichern. Trotz seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet habe er die sich durch die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus ergebende Chance nicht genutzt, sich wirtschaftlich, sozial und beruflich zu integrieren. Stattdessen habe er die österreichische Rechtsordnung missachtet, was durch seine strafgerichtliche Verurteilung vom 5. September 2017 „eindrucksvoll belegt“ sei. Es gebe zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Haftzweck (Abschiebung) nicht erfüllt werden könnte. Gegenwärtig sei davon auszugehen, dass der Revisionswerber Staatsangehöriger der Russischen Föderation sei; dies gehe aus einer ACCORD Anfragebeantwortung hervor, und der Revisionswerber habe im gesamten Asylverfahren immer angegeben, Staatsangehöriger der Russischen Föderation zu sein, was letztendlich auch zur Asylgewährung geführt habe. Das Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikats sei im Laufen, mit dessen Erteilung sei zeitnah zu rechnen. Auf Grund der Fluchtgefahr infolge des Vorverhaltens des Revisionswerbers könne mit der Verhängung gelinderer Mittel nicht das Auslangen gefunden werden. Der Revisionswerber sei haftfähig. Die Schubhaft sei auch verhältnismäßig, dies insbesondere im Hinblick auf die strafgerichtliche Verurteilung des Revisionswerbers. Die Verwirklichung der zugrunde liegenden Delikte auch nach jahrelangem Aufenthalt im Bundesgebiet spiegle die offenkundige Gleichgültigkeit des Revisionswerbers gegenüber den in Österreich geschützten Rechtsgütern bzw. der hier geltenden Rechtsordnung wider und untermauere die Gefährlichkeit des Revisionswerbers im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Der Revisionswerber habe sich auch während der Verbüßung seiner mehrjährigen Haftstrafe in der Strafvollzugsanstalt nicht von der Begehung von Ordnungswidrigkeiten abhalten lassen. Daher lägen auch die weiteren Voraussetzungen für die Anhaltung in Schubhaft vor.
6 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
7 Der Revisionswerber macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, indem es das Vorliegen von Fluchtgefahr primär mit der strafgerichtlichen Verurteilung des Revisionswerbers begründet habe. Weiters habe es mit der mangelnden Integration des Revisionswerbers argumentiert, obwohl dieser seit fast 16 Jahren in Österreich lebe, mehrere Jahre einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei und über familiäre und soziale Bindungen, insbesondere zu seiner Mutter und seinen beiden Brüdern verfüge. Diese in Österreich aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen würden ihm jederzeit eine Wohnmöglichkeit zur Verfügung stellen und ihn auch finanziell unterstützen. Vor diesem Hintergrund hätte sich das Bundesverwaltungsgericht auch näher mit der Möglichkeit der Verhängung eines gelinderen Mittels auseinandersetzen müssen.
8 Mit diesem Vorbringen ist der Revisionswerber im Ergebnis im Recht, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.
9 Das Bundesverwaltungsgericht hat bei der mündlichen Verkündung des angefochtenen Erkenntnisses nicht ausdrücklich erklärt, auf welche der Ziffern des § 76 Abs. 3 FPG es sich zur Bejahung der Fluchtgefahr des Revisionswerbers gestützt hat. Der Sache nach ist es jedoch - noch ausreichend deutlich - von der Erfüllung des § 76 Abs. 3 Z 9 FPG ausgegangen (vgl. dazu, dass nicht schon die Unterlassung der Angabe der Tatbestände des § 76 Abs. 3 FPG im Spruch der Entscheidung Rechtswidrigkeit begründet, etwa VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0025, Rn. 6, mwN).
10 Nach dieser Bestimmung ist bei der Beurteilung der Fluchtgefahr „der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes“ zu berücksichtigen. Es darf also, um Fluchtgefahr bejahen zu können, keine maßgebliche - der Annahme einer Entziehungsabsicht entgegen stehende - soziale Verankerung des Fremden in Österreich vorliegen, was an Hand der genannten Parameter zu beurteilen ist (vgl. VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0021, Rn. 31).
11 Eine derartige soziale Verankerung konnte beim Revisionswerber, der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht nur schon seit beinahe 16 Jahren - seit seinem 16. Lebensjahr - in Österreich aufhältig war, sondern auch über enge, in Österreich aufenthaltsberechtigte Angehörige - seine Mutter und seine Geschwister - verfügte, nicht verneint werden, zumal er schon in der Beschwerde unter Nennung der jeweiligen Adressen angegeben hatte, bei seinen Angehörigen wohnen zu können. Darauf, ob er seinen Aufenthalt im Bundesgebiet genutzt hat, um sich „nachhaltig zu integrieren“, bzw. wie kontinuierlich er in der Vergangenheit einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, ist bei der Prüfung des § 76 Abs. 3 Z 9 FPG nicht entscheidend. Vielmehr kommt es darauf an, inwieweit aktuell eine soziale Vernetzung vorhanden ist, die eine Flucht unwahrscheinlich macht.
12 Ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten ist zwar bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft in Betracht zu ziehen (vgl. § 76 Abs. 2a FPG und dazu etwa VwGH 17.4.2020, Ro 2020/21/0004, Rn. 12). Es kann aber für sich genommen - schon mangels Nennung im Katalog des § 76 Abs. 3 FPG - keine Fluchtgefahr begründen.
13 In der schriftlichen Ausfertigung des angefochtenen Erkenntnisses stützte sich das Bundesverwaltungsgericht zusätzlich auf § 76 Abs. 3 Z 1 FPG („ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert“) und § 76 Abs. 3 Z 3 FPG (Bestehen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme). Das ist aber schon deshalb nicht zielführend, weil das Bundesverwaltungsgericht eine Umgehung oder Behinderung der Abschiebung im Sinn des § 76 Abs. 3 Z 1 FPG nur mit dem Argument bejaht hat, dass der Revisionswerber in seiner Einvernahme vor der Schubhaftanordnung angegeben habe, nicht freiwillig aus Österreich ausreisen zu wollen; eine solche Äußerung stellt jedoch noch keine Umgehung oder Behinderung der Abschiebung dar. Was den Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG betrifft, so war er zwar erfüllt, lag doch unbestritten eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme vor. Das bringt aber per se noch nicht in tauglicher Weise „Fluchtgefahr“ zum Ausdruck; der Existenz einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Sinn des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG kommt nur im Rahmen der gebotenen einzelfallbezogenen Bewertung der Größe der auf Grund der Verwirklichung eines anderen tauglichen Tatbestandes des § 76 Abs. 3 FPG grundsätzlich anzunehmenden Fluchtgefahr Bedeutung zu (vgl. nochmals VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0021, nun Rn. 30).
14 Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher auf Basis seiner Feststellungen nicht das Vorliegen von Fluchtgefahr im Sinn des § 76 Abs. 2 Z 2 iVm Abs. 3 FPG bejahen dürfen. Damit erweist sich jedenfalls der Fortsetzungsausspruch als rechtswidrig.
15 Was die Überprüfung des Schubhaftbescheides betrifft, war das Bundesverwaltungsgericht auf eine reine Kontrolltätigkeit beschränkt (vgl. VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0007, Rn. 10 und 11, mwN). Diese hätte aber schon deswegen zu einer Stattgabe der Schubhaftbeschwerde führen müssen, weil der Bescheid des BFA vom 1. Juli 2019 seinerseits unzureichend begründet war: Das BFA ging ebenso wie das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die Z 1, 3 und 9 des § 76 Abs. 3 FPG erfüllt seien, beschränkte sich bei der Subsumtion aber fast ausschließlich auf allgemeine, dem konkreten Fall überhaupt nicht Rechnung tragende Textbausteine (so ist etwa davon die Rede, dass der Revisionswerber in Österreich noch nie einer legalen Erwerbstätigkeit nachgegangen sei, was klar der Aktenlage widerspricht; an einer Stelle wird auch - ohne dass es dafür irgendeinen Anhaltspunkt gäbe - die Erfüllung des § 76 Abs. 3 Z 2 FPG bejaht, wie „oben ausführlich dargelegt“ worden sei).
16 Da demnach sowohl die Abweisung der Schubhaftbeschwerde als auch der Fortsetzungsausspruch rechtswidrig sind, kann auch die darauf aufbauende Kostenentscheidung keinen Bestand haben.
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
18 Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 27. Oktober 2020
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Inhalt der Berufungsentscheidung Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210274.L00Im RIS seit
15.12.2020Zuletzt aktualisiert am
15.12.2020