TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/2 Ra 2017/22/0093

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.11.2020
beobachten
merken

Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §66 Abs4
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs4
BFA-VG 2014 §9 Abs4 idF 2018/I/056
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z1
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z2
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs3
FrPolG 2005 §61
FrPolG 2005 §66
MRK Art8
NAG 2005 §28 Abs1
NAG 2005 §28 Abs1 idF 2012/I/087
NAG 2005 §28 Abs1 idF 2012//087
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 29. März 2017, VGW-151/070/1565/2017, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: M P in W, vertreten durch Dr. Alexander Philipp, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Graben 17), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1. Der im November 1987 in Wien geborene Mitbeteiligte, ein serbischer Staatsangehöriger, verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ nach § 45 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), wobei die Gültigkeitsdauer des entsprechenden Dokuments bis zum 6. Oktober 2016 befristet war. Am 4. Oktober 2016 beantragte er die weitere Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“.

Mit Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom 13. Jänner 2016, rechtskräftig seit 15. September 2016, wurde der Mitbeteiligte des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 2 und Abs. 4 erster Fall Fremdenpolizeigesetz (FPG) schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Zuletzt befand er sich wegen dieser Strafe in Haft.

2.1. Mit Bescheid vom 20. Dezember 2016 sprach die belangte Behörde gemäß § 28 Abs. 1 NAG aus, dass das unbefristete Niederlassungsrecht des Mitbeteiligten beendet sei. Ein gleichzeitiger Ausspruch über die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ fand nicht statt.

Begründend führte die belangte Behörde aus, auf Grund der schwerwiegenden strafgerichtlichen Verurteilung wären die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG für die Erlassung eines Einreiseverbots erfüllt. Allerdings könnten diese Maßnahmen nach § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wegen des langjährigen Aufenthalts des Mitbeteiligten nicht verhängt werden. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass eine österreichische Ankerperson das Bundesgebiet oder die EU verlassen müsste, wenn das unbefristete Aufenthaltsrecht für beendet erklärt und ein befristeter Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ erteilt werde.

2.2. Der Mitbeteiligte erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen, er sei in Österreich geboren und lebe seit September 1988 ununterbrochen im Bundesgebiet. Auch seine gesamte Familie lebe seit dem Jahr 1972 in Österreich, seine Mutter sei österreichische Staatsbürgerin. Er habe die Straftat wegen seiner Geldschulden begangen, die inzwischen beglichen worden seien. Er büße für die Tat auf Grund der verhängten Freiheitsstrafe bereits „mehr als genug“. Er wolle mit seiner Familie ein neues Leben beginnen und ersuche daher, ihm den Daueraufenthalt weiterhin zu genehmigen.

3.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - der Beschwerde statt, indem es den bekämpften Bescheid (ersatzlos) behob.

3.2. Das Verwaltungsgericht traf zunächst die schon oben (vgl. Punkt 1.) wiedergegebenen Feststellungen.

Das Verwaltungsgericht stellte weiters fest, der Mitbeteiligte lebe zumindest seit Mai 1998 ununterbrochen in Österreich, wo sich seine gesamte Familie seit dem Jahr 1972 aufhalte. Seine Mutter sei österreichische Staatsbürgerin. Der Mitbeteiligte habe im Bundesgebiet die Volks- und die Hauptschule besucht und sei in den Jahren 2013 und 2014 unselbständig erwerbstätig gewesen. Er verfüge aufgrund seines langjährigen Aufenthalts in Österreich während seines nahezu gesamten bisherigen Lebens über ein breites soziales Beziehungsnetzwerk. Er weise Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest auf B2-Niveau auf und sei in die österreichische Gesellschaft erfolgreich integriert. Familiäre und emotionale Bindungen zum Herkunftsstaat, wo er nie gelebt habe, seien in der Intensität stark eingeschränkt.

Das Verwaltungsgericht hielt ferner fest, laut Mitteilungen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) sei einerseits eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG (in der im Revisionsfall anwendbaren Fassung vor BGBl. I Nr. 56/2018) nicht zulässig, weil dem Mitbeteiligten bereits vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts die Staatsbürgerschaft nach § 10 Abs. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz hätte verliehen werden können und auch keine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbots von mehr als fünf Jahren nach § 53 Abs. 3 Z 6 bis Z 8 FPG vorgelegen sei; andererseits dürfe eine Rückkehrentscheidung auch gemäß § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG (in der im Revisionsfall anwendbaren Fassung vor BGBl. I Nr. 56/2018) nicht erlassen werden, weil der Mitbeteiligte in Österreich geboren worden sei, von klein auf im Bundesgebiet aufgewachsen sei und auch langjährig hier niedergelassen sei.

3.3. Rechtlich führte das Verwaltungsgericht - soweit hier von Bedeutung - aus: Nach § 28 Abs. 1 NAG (idgF BGBl. I Nr. 68/2013) habe die Behörde, wenn gegen den Inhaber eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ (§ 45 NAG) die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorlägen, diese Maßnahme aber im Hinblick auf § 9 BFA-VG nicht verhängt werden könne, das Ende des unbefristeten Niederlassungsrechts festzustellen und von Amts wegen einen befristeten Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ auszustellen (Rückstufung).

Laut den Gesetzesmaterialien zu § 28 Abs. 1 NAG (ErläutRV 952 BlgNr 22. GP 131 zu BGBl. I Nr. 100/2005) komme diese Bestimmung nur dann zur Anwendung, wenn der Fremde - vor allem im Hinblick auf Art. 8 EMRK - nicht ausgewiesen werden könne. Normzweck sei es, dem Fremden das unbefristete Niederlassungsrecht mit Daueraufenthalt nicht gänzlich zu nehmen, sondern ihm in Zukunft ein befristetes Aufenthaltsrecht zu gewähren.

Der Verwaltungsgerichtshof habe zur älteren Gesetzeslage [Anm.: § 28 Abs. 1 NAG idF bis BGBl. I Nr. 38/2011 setzte für die Rückstufung voraus, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Hinblick auf § 66 FPG (aF) nicht verhängt werden können; § 28 Abs. 1 NAG idF bis BGBl. I Nr. 87/2012 setzte voraus, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Hinblick auf § 61 FPG (aF) nicht verhängt werden können; die genannten Bestimmungen betrafen jeweils den Schutz des Privat- und Familienlebens] erkannt (Hinweis auf VwGH 31.3.2008, 2007/21/0533; 17.12.2009, 2008/22/0491; 3.3.2011, 2008/22/0306), dass in einem Verfahren betreffend Rückstufung lediglich die Unzulässigkeit eines Aufenthaltsverbots unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Privat- und Familienlebens im Sinn des § 66 FPG (aF) (Anm.: später § 61 FPG aF) die Rückstufung nicht hindere, wohingegen ein Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestand nicht vorliegen dürfe bzw. dieser einer Rückstufung entgegenstehe.

Unter Berücksichtigung dieser Judikatur müssten auch im Hinblick auf die nunmehr geltende Rechtslage alle Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung - mit Ausnahme der Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Privat- und Familienlebens - gegeben sein. Auch das Vorliegen eines Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestands sei daher zu prüfen (Anm.: und stehe einer Rückstufung entgegen). Soweit § 28 Abs. 1 NAG auf den gesamten § 9 BFA-VG - und nicht bloß auf dessen Abs. 1 bis 3 betreffend den Schutz des Privat- und Familienlebens - verweise, sei dies als „Redaktionsversehen“ zu werten. Auch die (schon oben erwähnten) Gesetzesmaterialien führten aus, dass die Bestimmung nur dann in Betracht komme, wenn der Fremde vor allem im Hinblick auf Art. 8 EMRK nicht ausgewiesen werden könne. Liege hingegen eine Aufenthaltsverfestigung im Sinn der Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestände des § 9 Abs. 4 bis 6 BFA-VG vor, so scheide die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 NAG aus.

Vorliegend habe das BFA die Ansicht vertreten, dass eine Rückstufung des unbefristeten Niederlassungsrechts des Mitbeteiligten im Hinblick auf dessen Aufenthaltsverfestigung nach § 9 Abs. 4 (Z 2) BFA-VG nicht in Betracht komme. Das Verwaltungsgericht schließe sich dieser Beurteilung an. Da somit die Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht vorlägen, sei der Bescheid ersatzlos zu beheben. Die belangte Behörde werde dem Mitbeteiligten eine weitere Dokumentation seines unbefristeten Niederlassungsrechts gemäß § 45 NAG auszustellen haben.

3.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei, weil keine Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen gewesen sei.

4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision mit dem Antrag, die Entscheidung wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufzuheben.

Der Revisionswerber macht unter dem Gesichtspunkt eines Fehlens von Rechtsprechung geltend, das Verwaltungsgericht stütze sich auf eine zu einer älteren Gesetzeslage ergangene Judikatur, nach der bei Vorliegen eines Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestands - wie der hier im Blick stehenden Aufenthaltsverfestigung - eine Rückstufung gemäß § 28 Abs. 1 NAG ausgeschlossen sei. Diese Judikatur könne jedoch auf die hier anzuwendende geltende Rechtslage nicht übertragen werden, zumal § 28 Abs. 1 NAG eindeutig auf den gesamten § 9 BFA-VG (nicht bloß auf dessen Abs. 1 bis 3) verweise, wodurch deutlich gemacht werde, dass nunmehr auch bei Vorliegen des Verbotstatbestands der Aufenthaltsverfestigung nach § 9 Abs. 4 bis 6 BFA-VG eine Rückstufung bei Erfüllung der in § 28 Abs. 1 NAG genannten Voraussetzungen erfolgen könne.

4.2. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision als unbegründet abzuweisen.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zwar wurde die vom Revisionswerber aufgeworfene Rechtsfrage mittlerweile in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs geklärt (vgl. VwGH 27.4.2017, Ra 2016/22/0094). Das hier angefochtene Erkenntnis steht jedoch mit dieser Rechtsprechung im Widerspruch, sodass die Revision zulässig und auch berechtigt ist.

6.1. Soweit der Revisionswerber releviert, § 28 Abs. 1 NAG verweise auf den gesamten § 9 BFA-VG und damit (unter anderem) auf dessen Abs. 4, sodass bei Verwirklichung eines der dort angeführten Tatbestände eine Rückstufung nach § 28 Abs. 1 NAG zulässig sei, kann auf das schon genannte Erkenntnis Ra 2016/22/0094 verwiesen werden (§ 43 Abs. 2 VwGG), in dem zu einem - in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ähnlich gelagerten Fall - Folgendes ausgeführt wurde (vgl. ferner VwGH 21.6.2018, Ra 2016/22/0101):

„Mit der Novelle BGBl. I Nr. 87/2012 wurde § 28 Abs. 1 NAG insofern geändert, als der bisherige Verweis auf § 61 FPG (betreffend ausschließlich das Privat- und Familienleben) durch § 9 BFA-VG ersetzt wurde. Im Unterschied zur bisherigen Rechtslage enthält § 9 BFA-VG aber nicht nur das Privat- und Familienleben (Absätze 1 bis 3), sondern auch die Verbotstatbestände (Absätze 4 bis 6). Aus dem Verweis in § 28 Abs. 1 NAG auf den gesamten § 9 BFA-VG ergibt sich, dass nunmehr eine Rückstufung zulässig ist, wenn die aufenthaltsbeendende Maßnahme entweder im Hinblick auf den Schutz des Privat- und Familienlebens oder hinsichtlich der Verbotstatbestände nicht verhängt werden darf. Nach der neuen Rechtslage kommt den Verbotsgründen dieselbe Bedeutung zu wie dem Privat- und Familienleben; beides hindert eine Rückstufung nicht. Liegen somit die Voraussetzungen zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor, darf diese aber gemäß § 9 BFA-VG - gleichgültig aus welchem Grund - nicht erlassen werden, ist eine Rückstufung zulässig.“

6.2. Im Hinblick auf diese Ausführungen stand im hier gegenständlichen Fall die Verwirklichung eines Tatbestands nach § 9 Abs. 4 BFA-VG durch den Mitbeteiligten einer Rückstufung gemäß § 28 Abs. 1 NAG nicht entgegen.

Das Verwaltungsgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren zu prüfen haben, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Hinblick auf § 9 BFA-VG verhängt werden kann oder nicht und folglich eine Rückstufung vorzunehmen ist oder nicht.

Es wird dabei zu beachten haben, dass § 9 Abs. 4 BFA-VG in der Zwischenzeit durch BGBl. I Nr. 56/2018 mit Ablauf des 31. August 2018 ersatzlos aufgehoben wurde.

Laut den Gesetzesmaterialien (vgl. ErläutRV 189 BlgNR 26. GP 27) solle hierdurch das bisherige - weder unions- noch verfassungsrechtlich gebotene und auch nicht sachgerecht erscheinende, weil selbst beim objektiven Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung eine Rückkehrentscheidung gegen Drittstaatsangehörige jedenfalls ausschließende - absolute Verbot zur Erlassung einer solchen Entscheidung im Fall des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG beseitigt werden. Vielmehr solle eine bereits gemäß Abs. 1 nach den (demonstrativen) Kriterien des Abs. 2 zwingend vorzunehmende Prüfung nach Art. 8 EMRK unter sorgfältiger Abwägung der persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Erlassung einer aufenthaltsbeenden Maßnahme durchgeführt werden. Bereits auf diese Weise und unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Rechtsprechung würden die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts sowie die Schwere allfälliger begangener Straftaten eine entsprechende umfassende Berücksichtigung finden. Auch der Fall des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG erweise sich vor diesem Hintergrund lediglich als Konkretisierung bzw. Klarstellung dessen, was sich unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Judikatur ohnehin bereits aus Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 ergebe.

Wie in den Materialien (aaO 28) weiter hervorgehoben wird, ändere der ersatzlose Entfall des § 9 Abs. 4 BFA-VG freilich nichts an der gemäß Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 erforderlichen umfassenden Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK, bei der unter anderem die Art und Dauer des Aufenthalts, die Bindungen zum Heimatstaat und die Schutzwürdigkeit des Privatlebens zu beachten seien. Der Entfall eines vom Einzelfall losgelösten, absolut wirkenden Rückkehrentscheidungsverbots bzw. der Vorwegnahme des Ergebnisses einer Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK führe vielmehr dazu, dass den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls in gebührender Weise Rechnung getragen werden könne.

7.1. Mit Blick auf das fortgesetzte Verfahren ist ferner auf Folgendes hinzuweisen:

Eine Rückstufung setzt in einem ersten Schritt voraus, dass § 28 Abs. 1 NAG überhaupt zur Anwendung kommt, was nur dann der Fall ist, wenn die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG erfüllt sind.

Nach § 52 Abs. 5 FPG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen bestimmte Drittstaatsangehörige nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen nach § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass der weitere Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine gegenwärtige und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt. Bei der Prüfung, ob die Annahme einer solchen Gefährdung gerechtfertigt ist, muss eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden (vgl. VwGH 22.3.2018, Ra 2017/22/0194). Dabei ist auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Es ist daher nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 31.8.2017, Ra 2017/21/0120).

7.2. Vorliegend hat das Verwaltungsgericht - aufgrund der von ihm vertretenen unrichtigen Rechtsansicht - eine Gefährdungsprognose im Sinn des Vorgesagten nicht vorgenommen. Es hat auch keine Feststellungen zu den im Sinn der obigen Ausführungen für diese Prognose relevanten Umständen getroffen; der bloße Hinweis auf das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung und Bestrafung ist ungenügend.

Das Verwaltungsgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren die gebotenen Feststellungen zu treffen haben. Es wird dabei auch eine mündliche Verhandlung durchzuführen haben, kommt doch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in Bezug auf die Gefährdungsprognose besondere Bedeutung zu (vgl. neuerlich VwGH Ra 2016/22/0101).

8. Klarzustellen ist ferner, dass - entgegen der Argumentation in der Revisionsbeantwortung - das Unterbleiben eines Ausspruchs über die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ durch die belangte Behörde nicht zwangsläufig zur Aufhebung des Ausgangsbescheids und Zurückverweisung der Sache an die belangte Behörde führt.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung erkennt (vgl. etwa VwGH 9.9.2015, Ro 2015/03/0032), hat das Verwaltungsgericht grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden und dabei die von der Behörde zu behandelnde Angelegenheit (abschließend) zu erledigen. Das Verwaltungsgericht hat dabei im Rahmen der Sache des Verwaltungsverfahrens gegebenenfalls auch aus Anlass der Entscheidung zu treffende (weitere) Aussprüche vorzunehmen (vgl. etwa VwGH 14.11.2017, Ra 2017/20/0274). Das Verwaltungsgericht kann daher im Fall der Vornahme einer Rückstufung nach § 28 Abs. 1 NAG in Abänderung des angefochtenen Erkenntnisses auch einen (erstmaligen) Ausspruch über die Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ vornehmen.

9. Das angefochtene Erkenntnis ist daher aus den dargelegten Erwägungen mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit behaftet. Die Entscheidung war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 2. November 2020

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Beschränkungen der Abänderungsbefugnis Beschränkung durch die Sache Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2017220093.L00

Im RIS seit

04.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten