TE Vwgh Beschluss 2020/11/4 Ro 2017/22/0010

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Veröffentlicht am 04.11.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E2D Assoziierung Türkei
E2D E02401013
E2D E05204000
E2D E11401020
E3L E19104000
E6J
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
25/04 Sonstiges Strafprozessrecht
40 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Melderecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
41/02 Staatsbürgerschaft
44 Zivildienst
63 Allgemeines Dienstrecht und Besoldungsrecht

Norm

ARB1/80 Art13
ARB1/80 Art14 Abs1
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z2
B-VG Art133 Abs4
EURallg
FNG 2014
FrPolG 2005 §52
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53
FrPolG 2005 §61
NAG 2005 §28 Abs1 idF 2012/I/087
NAG 2005 §41a
NAG 2005 §45
VwGG §34 Abs1
VwRallg
32011L0051 Daueraufenthalt-RL Art12
62008CJ0371 Ziebell VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des Ü B in W, vertreten durch Mag. Florian Wiegele, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Zedlitzgasse 1, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 31. Jänner 2017, VGW-151/032/13418/2016-15, betreffend Rückstufung nach § 28 Abs. 1 NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichts gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden.

2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers, eines türkischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 2. Juni 2016 betreffend Rückstufung seines unbefristeten Niederlassungsrechts im Sinn des § 28 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) als unbegründet ab.

2.2. Das Verwaltungsgericht führte dazu - soweit hier von Bedeutung - aus, der Revisionswerber lebe seit seiner Geburt im Jahr 1974 in Österreich, er verfüge über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ und sei (auf näher beschriebene Weise) beruflich und familiär integriert. Er sei in den Jahren 2006 bis 2015 viermal wegen (näher erörterter) Straftaten - unter anderem wegen schwerer Körperverletzung, schwerer Nötigung und Suchtgiftdelikten - strafgerichtlich verurteilt worden. Es sei (aus näher dargelegten Erwägungen) davon auszugehen, dass er auch in Hinkunft Straftaten begehen werde, und es sei daher eine dementsprechende (ungünstige) Gefährdungsprognose zu erstellen. Folglich seien die Voraussetzungen für eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 5 FPG gegeben.

In einem weiteren Schritt sei zu prüfen, ob diese Maßnahme nach § 28 Abs. 1 NAG nicht verhängt werden könne und eine Rückstufung vorzunehmen sei. § 28 Abs. 1 NAG habe bis zur Novelle BGBl. I Nr. 87/2012 vorausgesetzt, dass eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf § 61 FPG (aF) [Anm.: Die dort geregelten Tatbestände sind nun in § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) enthalten] nicht verhängt werden könne. Seit der genannten Novelle sei die Rückstufung indes davon abhängig, dass eine Rückkehrentscheidung im Hinblick auf (den gesamten) § 9 BFA-VG und daher auch die (unter anderem) in Abs. 4 normierten Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestände nicht zulässig sei. Fallbezogen folge daraus, dass auch der hier verwirklichte Tatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG geeignet sei, eine Rückstufung zu begründen. Die Rechtsprechung zur Rechtslage vor der genannten Novelle, wonach mangels Verweis des § 28 Abs. 1 NAG (aF) auf den hier im Blick stehenden Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestand eine Rückstufung nicht zulässig sei, sei überholt.

Da sämtliche (auch anderweitigen) Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 NAG erfüllt seien, sei daher eine Rückstufung vorzunehmen (gewesen).

2.3. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil Rechtsprechung zu § 28 Abs. 1 NAG in der Fassung seit der Novelle BGBl. I Nr. 87/2012 zu der Frage, ob (wie hier) bei einer absoluten Aufenthaltsverfestigung im Sinn des § 9 Abs. 4 BFA-VG die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 NAG ausgeschlossen sei, fehle.

3.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die - Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende - ordentliche Revision mit einem Aufhebungsantrag.

Der Revisionswerber führt zur Zulässigkeit der Revision aus wie das Verwaltungsgericht in der Zulassungsbegründung. Weiters macht er geltend, es fehle Rechtsprechung zum Verhältnis des § 28 Abs. 1 NAG zur Stillhalteklausel des Art. 13 Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 (ARB 1/80). Ferner releviert er, das Verwaltungsgericht habe die Anwendbarkeit des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht näher geprüft. Nicht zuletzt wendet er sich gegen die Feststellung, es sei auch in Hinkunft von seiner Straffälligkeit auszugehen, und die Würdigung, die den Strafurteilen zugrunde liegenden Delikte beträfen alle dasselbe Rechtsgut.

3.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

4. Die Revision ist - entgegen dem den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden (§ 34 Abs. 1a VwGG) Ausspruch des Verwaltungsgerichts - aus den nachfolgenden Erwägungen nicht zulässig.

5.1. Was die Zulassungsbegründung des Verwaltungsgerichts und die diesbezüglichen Ausführungen (auch) des Revisionswerbers betrifft, so hat der Verwaltungsgerichtshof mittlerweile im Erkenntnis vom 27. April 2017, Ra 2016/22/0094, auf dessen Inhalt verwiesen wird (§ 43 Abs. 2 VwGG), die diesbezüglichen Rechtsfragen geklärt.

Demnach wurde mit der Novelle BGBl. I Nr. 87/2012 die Bestimmung des § 28 Abs. 1 NAG insofern geändert, als der bisherige Verweis auf § 61 FPG (betreffend ausschließlich das Privat- und Familienleben) durch einen solchen auf § 9 BFA-VG ersetzt wurde. Im Unterschied zur vorangegangenen Rechtslage enthält - so der Verwaltungsgerichtshof im soeben genannten Erkenntnis wörtlich - „§ 9 BFA-VG aber nicht nur das Privat- und Familienleben (Absätze 1 bis 3), sondern auch die Verbotstatbestände (Absätze 4 bis 6). Aus dem Verweis in § 28 Abs. 1 NAG auf den gesamten § 9 BFA-VG ergibt sich, dass nunmehr eine Rückstufung zulässig ist, wenn die aufenthaltsbeendende Maßnahme entweder im Hinblick auf den Schutz des Privat- und Familienlebens oder hinsichtlich der Verbotstatbestände nicht verhängt werden darf. Nach der neuen Rechtslage kommt den Verbotsgründen dieselbe Bedeutung zu wie dem Privat- und Familienleben; beides hindert eine Rückstufung nicht. Liegen somit die Voraussetzungen zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor, darf diese aber gemäß § 9 BFA-VG - gleichgültig aus welchem Grund - nicht erlassen werden, so ist eine Rückstufung zulässig“.

5.2. Im Hinblick darauf stand fallbezogen die Verwirklichung des Tatbestands des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG (in der im Revisionsfall maßgebenden Fassung) einer Rückstufung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ auf einen befristeten Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ - bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 NAG - nicht entgegen (vgl. auch VwGH 21.6.2018, Ra 2016/22/0101).

6.1. Soweit sich der Revisionswerber auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 beruft, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 18. Jänner 2017, Ra 2016/22/0021, auf dessen Inhalt verwiesen wird (§ 43 Abs. 2 VwGG), die Rechtslage dargelegt.

Demnach fällt eine nationale Regelung nur insoweit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80, als sie geeignet ist, die Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats durch türkische Arbeitnehmer zu beeinträchtigen. Dies ist bei einer Rückstufung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ auf einen befristeten Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ im Sinn des § 28 Abs. 1 NAG nicht der Fall, weil darin keine neue Beschränkung der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt erblickt werden kann (vgl. neuerlich VwGH Ra 2016/22/0101).

6.2. In Anbetracht dessen steht fallbezogen auch die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 einer Rückstufung im Sinn des § 28 Abs. 1 NAG - bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 NAG - nicht entgegen.

7.1. Soweit der Revisionswerber bemängelt, es wäre im Hinblick auf seine strafgerichtlichen Verurteilungen zu prüfen gewesen, ob Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zur Anwendung komme, zeigt er ebenso kein Fehlen von Rechtsprechung bzw. ein Abweichen von einer solchen auf.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mittlerweile im Erkenntnis vom 4. April 2019, Ra 2019/21/0009, auf dessen Begründung verwiesen wird (§ 43 Abs. 2 VwGG), mit dem gebotenen Verständnis des Systems aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegen nach dem ARB 1/80 berechtigte türkische Staatsangehörige mit besonderem Blick auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 befasst. Demnach setzt eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen türkischen Staatsangehörigen eine Gefährdung voraus, die jener gleichkommt, welche die Erlassung einer Maßnahme gegen EWR-Bürger rechtfertigt oder im Fall eines seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig aufhältigen türkischen Staatsangehörigen Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG (Daueraufenthalts-Richtlinie) - umgesetzt durch § 52 Abs. 5 FPG - entspricht.

7.2. Im Hinblick darauf bestehen gegen den vom Verwaltungsgericht angelegten Gefährdungsmaßstab (gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit) keine Bedenken. Auch die Würdigung, aus den im angefochtenen Erkenntnis (vor allem mit Blick auf die wiederholten strafgerichtlichen Verurteilungen) angestellten Erwägungen sei eine Gefährdung im soeben aufgezeigten Sinn gegeben, erweist sich fallbezogen als nicht unvertretbar.

8. Nach dem Vorgesagten liegt daher zur Zulässigkeit einer Rückstufung in einer Konstellation wie hier bereits eine eingehende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs vor. Im Hinblick auf diese Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, sieht sich der Verwaltungsgerichtshof auch nicht veranlasst, ein vom Revisionswerber angeregtes Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten.

9.1. Soweit der Revisionswerber die Feststellungen zur Gefährdungsprognose (es sei auch in Hinkunft von seiner Straffälligkeit auszugehen) moniert, wendet er sich in erster Linie gegen die zugrunde liegende verwaltungsgerichtliche Beweiswürdigung. Diese ist einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof jedoch nur insofern zugänglich, als es um die Kontrolle der Schlüssigkeit geht. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wäre nur dann gegeben, wenn die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise erfolgt wäre (vgl. etwa VwGH 18.2.2020, Ra 2019/22/0221).

Ein diesbezügliches stichhältiges Vorbringen wurde vom Revisionswerber freilich fallbezogen nicht erstattet. Dahingehende Anhaltspunkte sind auch in keiner Weise zu sehen.

9.2. Was den Vorwurf betrifft, das Verwaltungsgericht habe unrichtig gewürdigt, dass die den Strafurteilen zugrunde liegenden Delikte „alle dasselbe Rechtsgut“ beträfen, wird dem angefochtenen Erkenntnis ein falscher Inhalt unterstellt. Das Verwaltungsgericht führte nämlich lediglich aus, dass der Revisionswerber „mehrfach für Delikte gegen dasselbe Rechtsgut verurteilt wurde“; von einer Würdigung dahingehend, dass „alle“ Strafurteile dasselbe Rechtsgut beträfen, war nie die Rede.

10. Insgesamt sind daher - im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. etwa VwGH 13.12.2018, Ro 2018/22/0009) - die aufgeworfenen Rechtsfragen bereits durch die Rechtsprechung beantwortet.

Die Revision war deshalb gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 4. November 2020

Gerichtsentscheidung

EuGH 62008CJ0371 Ziebell VORAB

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RO2017220010.J00

Im RIS seit

09.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

09.12.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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