Entscheidungsdatum
17.07.2020Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22Spruch
W167 2179256-1/13E
W167 2179248-1/14E
W167 2179258-1/11E
W167 2179262-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Daria MACA-DAASE als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alle StA. Afghanistan, die minderjährigen Kinder vertreten durch die Erstbeschwerdeführerin, alle vertreten durch XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG (jeweils) nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Am XXXX stellten Erstbeschwerdeführerin, Zweit- und Viertbeschwerdeführer einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer wurden am Tag der Antragstellung im Rahmen einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari befragt. Beide gaben im Wesentlichen an, aufgrund des Kriegszustands in Afghanistan das Land verlassen zu haben, weil sie illegal im Iran waren und von den Iranern schlecht behandelt wurden bzw. ihnen die Abschiebung nach Afghanistan gedroht habe. Die Erstbeschwerdeführerin machte auch geltend, ihr Kind dürfe weder Kindergarten noch in weiterer Folge die Schule dort besuchen.
3. Die Drittbeschwerdeführerin wurde in Österreich geboren.
2. Am XXXX wurden die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari einvernommen. Die Erstbeschwerdeführerin verwies betreffend ihre Fluchtgründe insbesondere auf die schwierige Situation von Frauen in Afghanistan und die Fluchtgründe des Zweitbeschwerdeführers, letztere würden auch für die Kinder gelten. Der Zweitbeschwerdeführer machte seinerseits zusammengefasst im Wesentlichen geltend, dass ihm in Afghanistan Verfolgung durch jenen Mann drohe, welcher seine Schwester habe heiraten wolle, da der Zweitbeschwerdeführer seine Schwester außer Landes gebracht habe, um die Heirat zu verhindern.
4. Mit Bescheiden vom XXXX wies die Behörde den Antrag der Beschwerdeführer/innen auf internationalen Schutz ab (Spruchpunkte I und II), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erlies eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III) und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).
5. Mit rechtzeitig eingebrachter Beschwerde bekämpften die vertretenen Beschwerdeführer/innen diese Bescheide vollumfänglich.
6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
7. Am XXXX fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an dem die Beschwerdeführer/innen und ihre Vertreterin teilnahmen. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer wurden unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari befragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Am XXXX stellten die Erstbeschwerdeführerin, der Zweit- und Viertbeschwerdeführer in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Drittbeschwerdeführerin stellte nach ihrer Geburt im Jahr XXXX erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Die Beschwerdeführer/innen sind Staatsangehörige von Afghanistan. Sie sind Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und gehören der Religionsgemeinschaft des sunnitischen Islam an. Ihre Muttersprache ist Dari.
1.3. Die Beschwerdeführer/innen sind gesund, nur die Erstbeschwerdeführerin befindet sich wegen XXXX in Behandlung.
1.4. Die Erstbeschwerdeführerin wurde in Afghanistan geboren, ist im Iran aufgewachsen und hat dort bis zu ihrer Eheschließung im Familienverband mit Ihren Eltern und Geschwistern gelebt. Sie hat im Iran eine Schule besucht und kann auf Farsi lesen und schreiben. Nach ihrer Eheschließung im Iran mit dem Zweitbeschwerdeführer hat sie als Hausfrau gelebt. Die Beschwerdeführerin war nie erwerbstätig.
1.5. Der Zweitbeschwerdeführer ist in Afghanistan geboren und im Heimatort aufgewachsen. Er hat nie die Schule besucht und ist in seiner Muttersprache Analphabet. Der Zweitbeschwerdeführer hat in Afghanistan in der elterlichen Landwirtschaft mitgearbeitet. Die fünf Jahre vor seiner Ausreise nach Europa hat er im Iran gelebt und dort Hilfstätigkeiten auf Baustellen verrichtet.
1.6. Erst- und Zweitbeschwerdeführer stammen aus demselben Ort in der Provinz XXXX . Der Vierbeschwerdeführer wurde im Iran geboren, die Drittbeschwerdeführerin in Österreich. Sie sind leibliche minderjährige Kinder der Erstbeschwerdeführerin und ihres Ehemannes.
1.7. Die Beschwerdeführer/innen sind in Österreich unbescholten bzw. strafunmündig.
1.8. Die Erstbeschwerdeführerin hat Deutschkurse besucht, ein Deutschzertifikat A2 erworben, arbeitet ehrenamtlich und hat konkrete Berufsvorstellungen.
1.9. Die Beschwerdeführer/innen werden in Afghanistan nicht die Familie eines namentlich genannten Mannes verfolgt, welcher die Schwester des Zweitbeschwerdeführers heiraten wollte.
1.10. Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine Frau, die eine westliche Wertehaltung hat, sich einem westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild zugewandt hat, danach leben will und daran festzuhalten gewillt ist. Insbesondere nutzt sie die Möglichkeiten, die sich ihr zur Bildung bzw. frei gewählten Berufsausübung bietet bzw. möchte diese nutzen und hat bereits Schritte in diese Richtung unternommen. Die Erstbeschwerdeführerin lebt nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition. Diese Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden, weshalb sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden würde und daher der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt sein würde.
1.11. Zur maßgeblichen Situation von Frauen in Afghanistan wird fallbezogen Folgendes festgestellt:
Die konkrete Situation von Frauen in Afghanistan ist erheblich von Faktoren wie Herkunft, Familie, Bildungsstand, finanzieller Situation und Religiosität abhängig. Obwohl sich die Lage afghanischer Frauen in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, kämpfen viele weiterhin mit Diskriminierung auf einer Vielzahl von Ebenen, wie rechtlich, beruflich, politisch und sozial. Gewalt gegen Frauen bleibt weiterhin ein ernsthaftes Problem. Frauen im Berufsleben und in der Öffentlichkeit müssen oft gegen Belästigung und Schikane kämpfen und sehen sich oft Drohungen ausgesetzt.
Frauenkleidung umfasst in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung - diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten "Manteau shalwar" tragen, d.h. Hosen und Mantel mit verschiedenen Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan Chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten.
Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt. Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung. Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen.
Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sind in einer Vielzahl von beruflichen Feldern aktiv. Frauen arbeiten sowohl im öffentlichen Dienst, als auch in der Privatwirtschaft. Sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Bildung, den Medien, als Polizistinnen und Beamtinnen, usw. Sie sind jedoch mannigfaltigen Schwierigkeiten im Berufsleben ausgesetzt, die von Diskriminierung in der Einstellung und im Gehalt, über Schikane und Drohungen bis zur sexuellen Belästigung reichen. Frauen der Mittel- und Unterschicht kämpfen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt und Lohnungleichheit. Dazu müssen Frauen unverhältnismäßig oft unbezahlte Arbeit leisten. Trotzdem finden sich viele Beispiele erfolgreicher junger Frauen in den verschiedensten Berufen.
Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen.
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden).
Obwohl Frauen seit 2001 einige Führungspositionen in der afghanischen Regierung und in der Zivilgesellschaft, einschließlich als Richterinnen und Parlamentsmitglieder, übernommen haben, werden Frauen im öffentlichen Leben und in öffentlichen Ämtern weiterhin bedroht, eingeschüchtert und gewaltsam angegriffen. Es wird von immer häufigeren Angriffen gegen im öffentlichen Raum stehende Frauen berichtet, etwa gegen weibliche Parlamentsmitglieder, weibliche Mitglieder des Provinzrates, weibliche Staatsbedienstete, Journalistinnen, Rechtsanwältinnen, Polizeibeamtinnen, Lehrerinnen, Menschenrechtsaktivistinnen und in internationalen Organisationen tätige Frauen. Die Angriffe gehen von regierungsfeindlichen Gruppen, lokalen traditionellen und religiösen Machthabern, Mitgliedern ihrer Gemeinschaften und staatlichen Behörden aus. Die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben wird oftmals als Überschreitung gesellschaftlicher Normen wahrgenommen und als „unmoralisch“ verurteilt. Diese Frauen werden bedroht, eingeschüchtert, schikaniert oder Opfer von Gewaltakten, einschließlich Mord. Berichten zufolge bleiben die Strafverfolgungsbehörden in Fällen von Schikanen und Angriffen gegen Frauen im öffentlichen Raum vielfach untätig.
Frauen sind besonders gefährdet Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird.
Es ist der Zentralregierung nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Gegenwärtig besteht in Afghanistan kein funktionierender Polizei- und Justizapparat. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden. Ganz im Gegenteil liegt ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber.
2. Beweiswürdigung:
Zu 1.1. bis 1.8.: Die Feststellungen ergeben sich aus dem Verwaltungs- und Gerichtsakt und wurden von den Beschwerdeführer/innen auch in der Verhandlung bestätigt. Der Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin wurden zuletzt in der Verhandlung erörtert.
Zu 1.9.: Das diesbezügliche Vorbringen der Beschwerdeführer/innen war nicht glaubhaft. Zunächst fällt auf, dieses bei der Erstbefragung überhaupt nicht erwähnt wurde und erstmals bei der Befragung durch das BFA vorgebracht wurde. Darüber hinaus war das Vorbringen aus folgenden Gründen widersprüchlich bzw. nicht nachvollziehbar. Einerseits brachten die Beschwerdeführer/innen vor, dass die Familie des Mannes, dem die Schwester des Zweitbeschwerdeführers versprochen war, besonders mächtig und einflussreich ist. Die Darstellung der Beschwerdeführer/innen zielt darauf ab, dass diese Familie die Beschwerdeführer/innen in ganz Afghanistan finden könnte. In der Verhandlung wurde dieses Vorbringen noch dahingehend gesteigert, dass auch im Falle des Todes dieses Mannes, seine Kinder die Beschwerdeführer/innen weiter verfolgen würden. Im Hinblick auf die behauptete Macht dieser Familie ist es nicht nachvollziehbar, weshalb dieser Mann seinen angeblichen Wunsch nach der Eheschließung nicht unmittelbar durchgesetzt hat bzw. wie es dem Beschwerdeführer überhaupt gelungen sein sollte, seine Schwester gegen den Willen dieses mächtigen Mannes ungehindert ins Ausland zu bringen. Darüber hinaus verblieben die Eltern des Beschwerdeführers noch mindestens acht Monate im Heimatort ohne Zwischenfälle, was ebenfalls nicht nachvollziehbar ist, da der Vater des Beschwerdeführers als Familienoberhaupt wohl auch dafür verantwortlich gemacht worden wäre, dass sich seine Tochter der Eheschließung entzogen hat. Das Argument des Zweitbeschwerdeführers, er werde als der Hauptschuldige angesehen, vermag vor diesem Hintergrund nicht zu überzeugen. Dass der geschilderte Vorfall in Afghanistan, bei dem die Mutter des Zweitbeschwerdeführers verstarb und der Vater des Zweitbeschwerdeführers schwer verletzt wurde, auf den mächtigen Mann zurückgeht, ist vor diesem Hintergrund ebenfalls nicht glaubhaft. Darüber hinaus ist auch nicht nachvollziehbar, wieso es diesem mächtigen Mann vier bis fünf Jahre lang nicht möglich gewesen sein sollte, den Zweitbeschwerdeführer im Iran zu finden, zumal dieser Mann nach Angabe des Zweitbeschwerdeführers vor dem BFA auch von der Eheschließung der Schwester des Zweitbeschwerdeführers im Iran erfahren haben soll. Auch wenn nicht verkannt wird, dass arrangierte Eheschließungen in Afghanistan nicht unüblich sind und auch Zwangsverheiratungen vorkommen, konnte der Zweitbeschwerdeführer die Richterin nicht davon überzeugen, dass er und seine Familie verfolgt werden, weil er seiner Schwester angeblich zur Flucht vor einer von ihr nicht gewünschten Ehe verholfen hat.
Zu 1.10. Aktuell verbessert die Erstbeschwerdeführerin ihre Deutschkenntnisse, um eine Ausbildung beginnen zu können, wobei sie bereits konkrete Berufsvorstellungen hat. Dabei ist auch zu beachten, dass sie die Sprachkurse trotz ihrer Sorgepflichten für Kleinkinder, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann betreut, und XXXX zielstrebig verfolgt. In der mündlichen Verhandlung war ersichtlich, dass die Erstbeschwerdeführerin bereits sehr viel Deutsch versteht, da sie im Rahmen der Übersetzung durch die Dolmetscherin wiederholt im Rahmen der Protokollierung ergänzende Angaben machte, welche zeigten, dass sie die Protokollierung teilweise gut verstand. Insgesamt präsentierte sie sich in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig als Frau, die ihre in Österreich gewonnene Freiheit zur Weiterbildung und den Möglichkeiten, einen Beruf ihrer Wahl zu ergreifen, schätzt und zielgerichtet Schritte setzt, um diese Freiheiten (weiterhin) zu nutzen.
Zu 1.11.: Diese Feststellungen ergeben sich aus einer Zusammenschau der im Länderinformationsblatt vom 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 18.05.2020, der Anfrage der Staatendokumentation vom 19.09.2017, Afghanistan: Frauen in urbanen Zentren sowie dem diesbezüglichen Gefährdungsprofil der UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Spruchpunkt I.
3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Artikel 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet.
Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
Die Voraussetzung der „wohlbegründeten Furcht“ vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265 mwN).
3.1.2. Wie oben ausgeführt ist es der Erstbeschwerdeführerin gelungen, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft zu machen.
Aus Feststellungen ergibt sich, dass Frauen in Afghanistan besonders gefährdet sind, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Es ist daher zu prognostizieren, dass die Erstbeschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Lebensweise mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffen von erheblicher Intensität ausgesetzt sein würde. Dies entspricht auch der Einschätzung von UNHCR, siehe beispielsweise in den Richtlinien vom 30.08.2018 (den UNHCR-Richtlinien kommt nach der Rechtsprechung Indizwirkung zu), wobei auch die erforderliche Einzelfallprüfung betreffend die Erstbeschwerdeführerin vorgenommen wurde.
Für die Erstbeschwerdeführerin wirkt sich die derzeitige Situation in Afghanistan so aus, dass sie im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbarer Einschränkungen und durch das Bestehen dieser Situation einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wären. Die Erstbeschwerdeführerin unterliegt einer erhöhten Gefährdung, in Afghanistan dieser Situation ausgesetzt zu sein, weil sie aufgrund ihrer Wertehaltung und Lebensweise gegenwärtig in Afghanistan als Frau wahrgenommen würde, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benimmt; sie ist insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt (vgl. dazu EGMR, 20.07.2010, 23.505/09, N./Schweden, ebenfalls unter Hinweis auf UNHCR). Diese die Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan bedrohende Situation ist in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität.
Es ist davon auszugehen, dass die Erstbeschwerdeführerin vor dieser Bedrohung in Afghanistan nicht ausreichend geschützt werden kann. Zwar stellen diese Umstände keine Eingriffe von „offizieller“ Seite dar. Das heißt, sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet. Es ist der Zentralregierung allerdings auch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Gegenwärtig besteht in Afghanistan kein funktionierender Polizei- und Justizapparat. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden. Ganz im Gegenteil liegt ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber.
Für die Erstbeschwerdeführerin ist damit nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie angesichts ihrer gelebten Wertehaltung im Hinblick auf das sie betref-fende Risiko, Opfer von Misshandlungen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden könnte. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für sie nicht, zumal im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer Situation auszugehen ist, in der afghanische Frauen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird, einem erhöhten Sicherheitsrisiko und den daraus resultierenden Einschränkungen ausgesetzt sind.
Auch die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) ist im vorliegenden Fall gegeben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer bedrohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen (so beispielsweise VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0301 ua).
Da auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt, war der Erstbeschwerdeführerin gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen.
3.1.3. Es liegt ein Familienverfahren im Sinne des § 34 AsylG 2005 vor. Da der Erstbeschwerdeführerin – Ehefrau bzw. Mutter der übrigen Beschwerdeführer/innen – gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt wurde, ist den übrigen Beschwerdeführer/innen im Familienverfahren (vergleiche § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005) derselbe Status zuzuerkennen, zumal keine Sachverhaltselemente, die unter einen der Tatbestände des § 34 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005 zu subsumieren wären, erkennbar sind.
Eine Prüfung der individuellen Fluchtgründe der übrigen Beschwerdeführer/innen erübrigt sich aufgrund der Zuerkennung von Asyl im Familienverfahren (vgl. VwGH 30.04.2018, Ra 2017/01/0418).
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden
Zu A) Spruchpunkt II.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass den Beschwerdeführer/innen damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Asylgewährung von Familienangehörigen Asylverfahren Familienverfahren Flüchtlingseigenschaft mündliche VerhandlungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W167.2179262.1.00Im RIS seit
23.11.2020Zuletzt aktualisiert am
23.11.2020