TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/20 W225 2162933-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.07.2020
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Entscheidungsdatum

20.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W225 2162933-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Weiß, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX .1998, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich in 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .2017, Zl. XXXX / XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in Folge: BF), StA. Afghanistan, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX .2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX .2015 gab der BF an, dass er am XXXX .1998 in Afghanistan, in der Provinz Kapisa geboren worden sei. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei Moslem. Er sei ledig und habe keine Kinder. Er habe sechs Jahre die Grundschule besucht und bereits Berufserfahrung als (Hilfs-) Arbeiter gesammelt.

Er sei geflohen, weil sich in seinem Heimatdorf Taliban befunden hätten und er von ihnen gezwungen worden sei, am Krieg teilzunehmen und Anschläge durchzuführen.

I.3. Am XXXX .2017 wurde der BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren: BFA) und in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen und gab dabei an, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören und sunnitischer Moslem zu sein. Er stamme aus der Provinz XXXX und habe zuletzt in der Provinz XXXX , im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX gewohnt.

Er sei geflohen, weil er sich geweigert habe für die Taliban zu kämpfen und Selbstmordanschläge zu verüben. Als er eines Tages von der Schule nach Hause gekommen sei, sei sein Elternhaus im Zuge der Kämpfe zwischen den Taliban und den Amerikanern zerstört worden. Dabei seien seine Eltern getötet worden, woraufhin er zu seinem Onkel gegangen sei. Er sei 17 Jahre alt gewesen, als die Taliban zu ihm gekommen seien und ihn aufgefordert hätten, mit ihnen, als Dschihadist, zu kämpfen. Der BF hätte ihnen erklärt, dass er dies nicht wolle, sondern, dass er normal leben wolle. Nach einem Monat seien die Taliban jedoch wiedergekommen. Der Anführer dieser Gruppe der Taliban habe XXXX geheißen. Diese hätten dem BF gesagt, dass er Moslem sei und deshalb mit ihnen kämpfen solle. Ihr Ziel sei es gewesen, dass der BF für sie Selbstmordattentate durchführe. Der BF habe ihnen abermals erklärt, dass er dies nicht möchte, sondern normal leben und arbeiten wolle. Daraufhin sei er von ihnen darauf hingewiesen worden, dass er niemanden habe und ganz alleine sei. Nachdem der BF stur geblieben sei, sei er von ihnen als ungläubig bezeichnet worden und sei ihm mit einem Waffenkorb auf die Schulter geschlagen worden. Danach sei er vom Arbeitsplatz auf den Markt gegangen, wo er ein kleines Geschäft aufgesucht habe. Dort habe er sich vier Monate lang aufgehalten. Während dieser Zeit habe er nicht fortgehen oder außer Haus gehen können, da sie ihm gedroht hätten, ihn umzubringen. Da er dort wie ein Hund gelebt habe, habe er einen Schlepper kontaktiert, der ihm bei der Ausreise aus Afghanistan geholfen habe.

I.4. Mit Bescheid vom XXXX .2017, zu der im Spruch genannten Zl., wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Ihm wurde der Status gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz als subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt (Spruchpunkt II.). Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde ihm gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz bis zum XXXX .2018 erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der BF seinen Fluchtgrund, wonach er wegen einer drohenden Zwangsrekrutierung durch die Taliban geflohen sei, nicht habe glaubhaft machen können. Es könne, nach Ansicht der belangten Behörde, jedoch mit der geforderten Sicherheit nicht ausgeschlossen werden, dass eine etwaige Rückkehr eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit mit sich bringe. Deshalb wurde dem BF, für die Dauer eines Jahres, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Mit Verfahrensanordnung vom XXXX .2017 wurde dem BF amtswegig der Verein für Menschenrechte Österreich als Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.5. Gegen Spruchpunkt I. des angeführten Bescheides erhob der BF mit Schreiben vom XXXX .2017 wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts und wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von wesentlichen Verfahrensvorschriften, Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

Er brachte im Wesentlichen vor, dass UNHCR gemäß seinen Richtlinien zum Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender vom April 2016 davon ausgehe, dass Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Zusammenhang mit der Einberufung von Minderjährigen und der Zwangsrekrutierung zu möglicherweise gefährdeten Personenkreisen in Afghanistan gehören. Die Richtlinien würden zudem, angesichts der prekären humanitären Lage sowie der sich verschlechternden Sicherheits- und Menschenrechtssituation in weiten Teilen des Landes, von einem hohen Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender ausgehen. Weiters wies der BF darauf hin, dass im Asylverfahren die Prinzipien des AVG, nämlich der amtswegigen Erforschung des maßgeblichen Sachverhalts und der Wahrung des Parteiengehörs, gelten würden. Laut Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hätten die im Asylwesen tätigen Spezialbehörden das ihnen zugängliche Wissen von amts wegen zu verwerten. Diesen Anforderungen habe das Bundesamt nicht genüge getan. In Anbetracht der konkreten Umstände, hätte die Behörde bei richtiger rechtlicher Beurteilung somit zum Ergebnis kommen müssen, dass dem BF internationaler Schutz zu gewähren sei.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht die eingebrachte Beschwerde samt dazugehörigen Verwaltungsakten.

I.6. Mit Bescheid vom XXXX .2018, zu der im Spruch genannten Zl, wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum XXXX .2020 erteilt.

I.7. An der am XXXX .2020 durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführten öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung nahm der BF teil. Auch der im Spruch genannte bevollmächtigte Vertreter nahm an der Verhandlung teil. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verzichtete mit Schreiben vom XXXX .2019 auf die Teilnahme an der Verhandlung.

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu u.a. zum gesundheitlichen Befinden, der Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, den persönlichen Verhältnissen und zum Leben in Afghanistan, den Familienangehörigen, den Fluchtgründen und zum Leben in Österreich ausführlich befragt.

I.8. Mit Schreiben vom XXXX .2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht die zwischenzeitlich ergangenen Aktualisierungen zu den Länderinformationen (Stand: 18.05.2020) sowie diverse Dokumente (EASO Country Guidance: Juni 2019; EASO Bericht Netzwerke: Jänner 2018 sowie die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender: Stand 30.08.2018) zum Parteiengehör.

I.9. Mit Bescheid vom XXXX .2020, zu der im Spruch genannten Zl, wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte um zwei Jahre verlängert.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX .1998. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu. Er spricht zudem Dari und Englisch. Er ist ledig und kinderlos.

Der BF wurde in der Provinz XXXX , im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern auf. Der BF besuchte sechs Jahre lang die Grundschule. Der BF erlernte keinen Beruf. Der BF arbeitete vier Jahre als Hilfsarbeiter in XXXX .

Die Eltern des BF sind verstorben.

Mit dem Onkel, bei dem er zuletzt wohnte, besteht noch mindestens ein- bis zweimal im Monat telefonischer Kontakt. Weitere Verwandte des BF leben noch im Heimatdorf des BF. Zu diesen besteht jedoch kein Kontakt.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.

Der BF ist gesund.

Der Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise am XXXX .2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom XXXX .2017 wurde ihm in Österreich subsidiärer Schutz in Bezug auf seinen Herkunftssaat Afghanistan zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX .2018 zuerkannt; diese wurde danach bis XXXX .2020 und zuletzt mit Bescheid vom XXXX .2020 um zwei weitere Jahre verlängert.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der BF ist in Afghanistan nicht konkret und individuell durch die Taliban bedroht oder verfolgt (worden). Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan ist der BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.

Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Verfolgung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit wurde nicht konkret vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch amtswegig nicht hervorgekommen.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 18.05.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) und

-        EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke)

1.3.1.  Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 1).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.3.2.  Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.3.3.  Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

1.3.4.  Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

1.3.5.  Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

1.3.6.  Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

Menschenrechtsverteidiger werden sowohl von staatlichen, als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. (LIB, Kapitel 10.)

1.3.7.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 18).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.3.8.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2.

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura ist für die Rekrutierung verantwortlich (LIB Kapitel 11.1).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden. Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen. Die Taliban haben keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018).

Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer, deren Motive der Wunsch nach Rache und Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe.

Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations-und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke.

Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden, wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (LIB, Kapitel 11.1.).

Quellen haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind (LI 27.6.2017). Eine Quelle verweist hier auf Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Mehrere Gesprächspartner von Landinfo, einschließlich einer NGO, die in Taliban-kontrollierten Gebieten arbeitet, meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher heute vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen. Bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft müssen Kämpfer vor Ort mobilisiert werden. In einem solchen Fall mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Die erweiterte Familie kann einer Quelle zufolge allerdings auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass – wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen – die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LIB, Kapitel 11.1).

1.3.9.  Provinzen und Städte

1.3.9.1.  Herkunftsprovinz Kapisa:

Kapisa liegt im zentralen Osten Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in Kapisa sind Tadschiken, Paschtunen und Nuristani, wobei die Tadschiken als größte Einzelgruppe hauptsächlich im nördlichen Teil der Provinz leben. Die Provinz hat 479.875 Einwohner (LIB, Kapitel 3.16).

Kapisa zählt zu den relativ volatilen Provinzen. Die Taliban sind in entlegeneren Distrikten der Provinz aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung oder Sicherheitskräfte durchzuführen. Die Regierungstruppen führen, teils mit Unterstützung der USA, regelmäßig Operationen in Kapisa durch. Es werden auch Luftangriffe ausgeführt. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften. Im Jahr 2018 gab es 139 zivile Opfer (39 Tote und 100 Verletzte) in Kapisa. Dies entspricht einer Zunahme von 38% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge) (LIB, Kapitel 3.16).

In der Provinz Kapisa kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.3.10. Zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In O?sterreich gibt es laut WHO (Coronavirus disease (COVID-19) outbreak situation) mit Stand 13.07.2020, 12:00 Uhr, 18.795 besta?tigte Fa?lle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen mit 706 Todesfa?llen; in Afghanistan wurden zu diesem Zeitpunkt 34.451 Fa?lle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 1.010 diesbezu?gliche Todesfa?lle besta?tigt wurden (https://covid19.who.int/).

Eine chronische Erkrankung zu haben, erhöht das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf noch nicht (z.B. Personen, deren hoher Blutdruck gut mit Medikamenten eingestellt ist). Wenn allerdings Personen mit einer schweren chronischen Grunderkrankung zusätzlich an COVID-19 erkranken, ist das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs erhöht. Daher sollen Personen, die zur COVID-19-Risikogruppe zählen, zusätzlichen Anspruch auf Schutzmaßnahmen erhalten. (https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Coronavirus---Haeufig-gestellte-Fragen/FAQ--Risikogruppen.html).

Die notorische COVID-19-Risikogruppe-Verordnung listet die medizinischen Gründe (Indikationen) für die Zugehörigkeit einer Person zur COVID-19-Risikogruppe. Auf Grundlage dieser Indikationen darf eine Ärztin/ein Arzt ein COVID-19-Risiko-Attest ausstellen. Die medizinischen Hauptindikationen sind fortgeschrittene chronische Lungenkrankheiten, welche eine dauerhafte, tägliche, duale Medikation benötigen, chronische Herzerkrankungen mit Endorganschaden, die dauerhaft therapiebedürftig sind, wie ischämische Herzerkrankungen sowie Herzinsuffizienzen, aktive Krebserkrankungen mit einer jeweils innerhalb der letzten sechs Monate erfolgten onkologischen Pharmakotherapie (Chemotherapie, Biologika) und/oder einer erfolgten Strahlentherapie sowie metastasierende Krebserkrankungen auch ohne laufende Therapie, Erkrankungen, die mit einer Immunsuppression behandelt werden müssen, fortgeschrittene chronische Nierenerkrankungen, chronische Lebererkrankungen mit Organumbau und dekompensierter Leberzirrhose ab Childs-Stadium B, ausgeprägte Adipositas ab dem Adipositas Grad III mit einem BMI = 40, Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie mit bestehenden Endorganschäden, insbesondere chronische Herz- oder Niereninsuffizienz, oder nicht kontrollierbarer Blutdruckeinstellung.

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert. Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig. COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird. Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt. In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden. Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist. Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden. Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustelle. Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt. Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen. Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans; dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert. Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen. Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden. Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert. In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt. (LIB, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung: Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt, wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar. Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt. Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen. Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze: Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise: 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt. (LIB, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen).

Taliban und COVID-19: Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen. Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an. Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht. (LIB, Kapitel Länderspezifische Anmerkungen).

2.       Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt und durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung.

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des BF ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des BF gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des BF, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seine familiäre Situation in Afghanistan, seiner Schul- und fehlenden Berufsausbildung, seiner Berufserfahrung gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Die Feststellung, dass die Eltern des BF verstorben sind, gründet sich auf seine diesbezüglich glaubhaften und stringenten Angaben im Zuge des Verfahrens.

Die Feststellung, dass zwischen dem BF und dem Onkel, bei dem er zuletzt gelebt hat, noch regelmäßiger Kontakt besteht, ergibt sich aus seinen glaubwürdigen Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (S. 12 VP). Die Feststellungen zum Aufenthaltsort der weiteren Verwandten des BF sowie dem fehlenden Kontakt zu ihnen beruhen auf seinen glaubhaften Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung (AS 79; S. 3 VP) und auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.

Das Datum der Antragstellung sowie die Gewährung von subsidiärem Schutz und Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung bzw. deren Verlängerungen ergibt sich – ebenso wie die illegale Einreise – aus dem Akteninhalt.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Die Feststellung, dass der BF in seinem Herkunftsstaat Afghanistan nicht individuell bedroht oder verfolgt worden ist und im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt ist, ergibt sich aus einer Gesamtschau seiner Angaben im Laufe des Verfahrens sowie insbesondere aufgrund des bei der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks der verfahrensführenden Richterin.

Zu Beginn ist anzumerken, dass der BF bei Stellung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung minderjährig war und auch die geschilderten Erlebnisse sich demnach auf einen Zeitraum beziehen, in welchem der BF minderjährig war. Entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist daher eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich und darf die Dichte dieses Vorbringens nicht mit "normalen Maßstäben" gemessen werden (vgl. zur Berücksichtigung der Minderjährigkeit in der Beweiswürdigung insbesondere VwGH 24.09.2014, Ra 2014/19/0020; 06.09.2018, Ra 2018/18/0150). Das Fluchtvorbringen des BF ist jedoch auch unter Berücksichtigung seiner damaligen Minderjährigkeit nicht glaubhaft:

Bereits die Angabe der Aufenthaltsdauer bei seinem Onkel erweist sich als widersprüchlich. So gab der BF im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA an, dass er seit dem Tod seiner Eltern im Jahr 2011, die vergangenen vier Jahre, bei seinem Onkel in Kapisa, gelebt habe (AS 83). Demgegenüber führte er in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht auf Nachfrage der verfahrensführenden Richterin aus, dass er lediglich zwei Jahre bei seinem Onkel gewohnt habe (S. 18 VP).

Auch der Ort der Begegnungen mit den Taliban ist nicht nachvollziehbar. So gab der BF an, dass er bei dem ersten Rekrutierungsversuch der Taliban im Garten von XXXX und beim zweiten Besuch der Taliban im Garten von XXXX gearbeitet habe. Dies seien Obstgärten gewesen (S. 14 VP). Woher die Taliban jeweils gewusst haben sollen, in welchem Garten der BF gerade gearbeitet habe und wie sie jeweils Zugang zu diesen privaten Gärten bekommen haben sollen, um mit dem BF direkt zu sprechen ist nicht nachvollziehbar.

Ebenso sind die Angaben und das Verhalten des BF, zum und nach dem (angeblichen) zweiten Rekrutierungsversuch der Taliban nicht nachvollziehbar. So führte der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung aus, dass die Taliban zu ihm gesagt hätten, dass er keine Familie habe und ihnen deshalb helfen solle (S. 6 VP). Die Taliban würden sich immer in der Region befinden und würden alles mitbekommen. Die Taliban würden Personen suchen, die keine Eltern haben, damit sie diese in den Krieg mitnehmen könnten (S 15 VP). Vor dem Hintergrund dieser Angaben ist nicht nachvollziehbar, warum die Taliban nicht in Kenntnis darüber gewesen sein sollen, dass sich der BF in der Obhut seines Onkels befinde und eben nicht auf sich allein gestellt war. Auch auf Nachfrage der verfahrensführenden Richterin, woher die Taliban diese Information gehabt haben sollen, entgegnete der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung lapidar, dass die Taliban aus seinem Gebiet stammen würden und deshalb alles mitbekämen, was dort passiere (S. 14 VP), um dann völlig aus dem Zusammenhang gerissen, ohne von der erkennenden Richterin danach gefragt worden zu sein, anführte, dass die Personen die ihn (Anm. den Talibananführer) begleitet hätten, bedeckte Gesichter und lange Haare gehabt hätten (S 14 VP). Nach der zweiten Begegnung habe er große Angst um sein Leben bekommen und sei zum Bazar gegangen, dort habe er sich vier bis fünf Monate im Geschäft von XXXX versteckt (S. 6 VP). In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus nicht plausibel, warum der BF in ein Geschäft zu einer, ihm völlig fremden, Person geflüchtet sein soll, um sich dort vor den Taliban zu verstecken. Dass der BF seine geschützte Umgebung, in der er seit Jahren in der Obhut und im Familienverband des Onkels, der ihm Verpflegung und Unterkunft zur Verfügung gestellt hat, lebte, verlassen haben soll und stattdessen nach der Arbeit umgehend in einem Geschäft, einer ihm völlig fremden Person, Schutz vor Verfolgung gesucht haben soll, ist nicht plausibel. Gerade im Lichte seiner Angabe, dass die Taliban primär Kinder ohne Eltern bzw. Familie ansprechen würden, ist sein Wegzug vom Schutz(-bereich) des Onkels nicht nachvollziehbar.

Auch der weitere Verlauf der Fluchtgeschichte ist nicht plausibel. So führte der BF aus, dass er sich in diesem Geschäftslokal versteckt habe. Es sei eine Art Hotel gewesen (S. 16 VP). Er habe dafür Geld bezahlen müssen (S. 17 VP). Er habe ein bisschen Geld mitgehabt und sein Onkel habe ihn auch besucht und für ihn Geld mitgenommen. Auf Nachfrage der verfahrensführenden Richterin, führte der BF aus, dass sein Onkel alle zwei bis drei Wochen zu dem Hotel gekommen sei (S. 17 VP). Dieses sei in XXXX gewesen, circa zwanzig Minuten mit dem Auto entfernt (S. 16 VP). Wäre er zu seinem Onkel gegangen hätten sie (Anm. die Taliban) dies mitbekommen, umgekehrt, also wenn der Onkel zu ihm gekommen sei, hätten sie dies nicht bemerkt (S. 18 VP). Gerade vor dem Hintergrund der Angabe des BF, dass die Taliban immer alles mitbekommen hätten, was in der Region passiere (S. 14, 15 VP) ist nicht plausibel, dass ihnen entgangen wäre, wenn sich der, von ihnen angeblich so begehrte, BF vier bis fünf Monate in einem Geschäft bzw. Hotel versteckt haben soll und sein Onkel ihn alle paar Wochen besucht haben soll.

Auch macht der BF widersprüchliche Zeitangaben zu der Aufenthaltsdauer in seinem Versteck. Gab er im Zuge der Einvernahme vor dem BFA eingangs noch an, dass er sich vier Monate dort (Anm. im Geschäft) aufgehalten habe (AS 89) und steigerte er die Angabe im Laufe der Befragung noch auf ungefähr sechs Monate (AS 93), führte er demgegenüber im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht aus, dass es vier bis fünf Monate gewesen seien (S. 16 VP).

Ebenso ist die Angabe seines genauen Aufenthaltsorts während seines Verstecks widersprüchlich. Gab der BF bei der Einvernahme durch das BFA noch an, dass er sich die letzten vier Monate vor seiner Ausreise in einem kleinen (Kebab-)Geschäft aufgehalten bzw. versteckt habe (AS 89), führte er demgegenüber in der mündlichen Beschwerdeverhandlung aus, dass er sich immer im Abstellraum des Hotels aufgehalten habe, ohne hinauszugehen (S. 19 VP).

Darüber hinaus ist schon die Beherbergung des BF an sich durch den Kebabgeschäft- bzw. Hotelbesitzer, namens XXXX , nicht plausibel. So führte der BF wiederholt aus, dass der Besitzer ihn nicht gekannt habe (AS 91, S. 16 VP). Er habe lediglich gewusst, dass es auf dem Bazar ein Kebabgeschäft gebe (S. 16 VP). Er habe sich aus Angst immer im Abstellraum aufgehalten und sei auch nicht rausgegangen. Er habe sich im Hotel gewaschen und habe dort gegessen. XXXX sei sein Ansprechpartner gewesen, er habe ihm gesagt, wann er Essen gebraucht habe (S. 19 VP). Nachgefragt, ob der Besitzer ihn denn nicht gefragt habe, weshalb er sich das Essen nicht selber hole bzw. ob dieser nicht neugierig gewesen sei, entgegnete der BF, dass XXXX , diese Frage sehr wohl gestellt habe, er ihm jedoch keine Informationen habe geben wollen. Er sei der Besitzer gewesen und habe in seinem Hotel gearbeitet (S. 20 VP). Auf Nachfrage der verfahrensführenden Richterin wie viele Gäste das Hotel beherbergt habe, konnte der BF keinerlei Angabe machen. Er merkte an, dass es sich um ein kleines Hotel gehandelt habe, es dort nicht viel Platz gegeben habe, er jedoch nicht sagen könne, wie viele Leute dort gearbeitet bzw. übernachtet hätten (S. 19, 20 VP). Dass der Hotelbesitzer einem fremden jungen Mann, ohne seine Hintergrundgeschichte in Zusammenhang mit der angeblichen Verfolgung durch die Taliban zu kennen, ein Abstellzimmer anstatt eines normalen Hotelzimmers über mehrere Monate vermietet haben soll und diesem sogar täglich das Essen gebracht haben soll, weil sich dieser geweigert haben soll, das Zimmer zu verlassen, ist nicht nachvollziehbar und daher nicht glaubwürdig. Auch machen seine vagen bis kaum vorhandenen Beschreibungen der Umstände im Hotel seine Fluchtgeschichte nicht plausibler.

Dass die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des BF unter anderem auch aufgrund der Talibanpräsenz als volatil einzustufen ist, geht bereits aus den dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen hervor; eine konkret und individuell den BF treffende aktuelle Verfolgungsgefahr kann allein daraus jedoch nicht abgeleitet werden.

Dabei wird nicht übersehen, dass gemäß den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (welchen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken ist, siehe VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118, mit Verweis auf VwGH 22.11.2016, Ra 2016/20/0259, mwN) für Männer im wehrfähigen Alter und für Kinder, die in Gebieten leben, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte befinden oder in denen regierungsnahe und regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) und/oder mit dem Islamischen Staat verbundene bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor dieser von AGEs ausgehenden Verfolgung zu bieten, bestehen kann (vgl. die Seiten 59ff der deutschen Version der Richtlinien). Dazu ist jedoch anzumerken, dass auch nach den genannten UNHCR-Richtlinien ein solcher Bedarf nur "abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles" besteht.

Wie oben dargestellt, kommt dem Vorbringen des BF, er wäre von den Taliban aufgesucht und bedroht worden, keine Glaubhaftigkeit zu. Das Risikoprofil hat folglich im individuellen Fall des BF vor Verlassen des Herkunftsstaates nach Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts zu keiner asylrelevanten Verfolgung geführt; es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan verfolgt würde. Weiters kann nicht davon ausgegangen werden, dass der BF als junger Mann alleine aufgrund seiner Anwesenheit am Herkunftsort einer Gefahr der Zwangsrekrutierung ausgesetzt wäre und lässt sich das Bestehen einer solchen generellen Gefährdung in Zusammenhang mit einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban, die jeden Mann im wehrfähigen Alter träfe, auch den oben zitierten UNHCR-Richtlinien nicht entnehmen. Dass die Taliban gerade an der Person des BF ein konkretes Interesse hätten, welches den BF in besonderem Maße exponieren würde, legte dieser nicht glaubhaft dar.

Es wird auch nicht verkannt, dass die vom BF geschilderten Ereignisse sich auf Zeitpunkte beziehen, zu denen der Beschwerdeführer minderjährig war und ist dem Bundesverwaltungsgericht bewusst, dass seit der Ausreise des BF aus seinem Heimatland mittlerweile bereits ein längerer Zeitraum verstrichen ist. Allerdings stellen sich die Angaben des BF zu seinem Fluchtmotiv hinsichtlich wesentlicher Aspekte als vage und in hohem Maße unplausibel dar. In einer Gesamtschau ist daher, auch unter Berücksichtigung seiner damaligen Minderjährigkeit, nicht glaubhaft, dass der BF in Afghanistan jemals individuell und konkret, aufgrund bestimmter in seiner Person gelegener Eigenschaften durch die Taliban bedroht oder verfolgt worden ist bzw. versucht worden wäre, ihn zu rekrutieren. Es ist daher davon auszugehen, dass der BF im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt ist.

Die Feststellung, wonach das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe aufgrund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit nicht konkret vorgebracht wurde, und Hinweise für eine solche Verfolgung auch amtswegig nicht hervorgekommen sind, ergibt sich aus der Aktenlage, insbesondere aus der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der durchgeführten mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie aus dem Umstand, dass der BF keine Hinweise auf das Vorliegen einer solchen Verfolgung vorgebracht hat bzw. sich solche auch amtswegig nicht ergeben haben.

2.3.    Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u.a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingetreten ist. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt.

3.       Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1.   

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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