Entscheidungsdatum
10.08.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W103 2202969-1/6E
W103 2202970-1/6E
W103 2202971-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , und 3.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Ukraine und vertreten durch RA Dr. Helmut BLUM, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.06.2018, Zahlen: 1.) 1029104706-14896586, 2.) 1029104510-14896551, und 3.) 1095885200-151820615, zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. bis III. werden gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
II. In Erledigung der Beschwerden gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG idgF iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF auf Dauer unzulässig ist.
III. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 iVm §§ 9, 10 Abs. 2 Z 1 Integrationsgesetz, jeweils idgF, wird 1.) XXXX und 2.) XXXX jeweils der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ sowie 3.) XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ jeweils für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Ukraine, die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind verheiratet und Eltern und gesetzliche Vertreter der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer stellten infolge illegaler Einreise gemeinsam mit weiteren Angehörigen am 20.08.2014 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Für die im November 2015 im Bundesgebiet geborene Drittbeschwerdeführerin wurde durch ihre gesetzlichen Vertreter am 20.11.2015 ein Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren eingebracht.
Die Erstbeschwerdeführerin gab anlässlich ihrer am Tag der Antragstellung abgehaltenen niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes an, sie gehöre der Volksgruppe der Ukrainer an, bekenne sich zum orthodoxen Glauben und stamme aus dem Oblast XXXX in der Zentralukraine. Zum Grund ihrer Flucht führte die Erstbeschwerdeführerin aus, keinen individuellen Fluchtgrund zu haben. Der Grund ihrer Flucht liege bei ihrem Ehemann und ihrem Schwiegervater; ihr Ehemann habe in den letzten beiden Monaten, ebenso wie der Schwiegervater, mehrere Einberufungsbefehle des ukrainischen Militärs erhalten.
Der Zweitbeschwerdeführer gab anlässlich seiner am gleichen Datum abgehaltenen Erstbefragung gleichlautende Angaben zu seiner Volksgruppe, Religion und Herkunft an und erklärte zum Grund seiner Flucht, er habe in den letzten zwei Monaten insgesamt vier Einberufungsbefehle vom ukrainischen Militär erhalten. Er hätte zum Militär einrücken und gegen Landsleute kämpfen sollen, was er keinesfalls gewollt habe. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben.
Am 21.11.2017 wurden die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz einvernommen.
Die Erstbeschwerdeführerin gab zusammengefasst an, sie sei gesund, benötige keine Medikamente und habe im Verfahren bis dato wahrheitsgemäße Angaben erstattet. Die Erstbeschwerdeführerin sei seit 2012 standesamtlich mit dem Zweitbeschwerdeführer verheiratet und habe mit diesem ein im Jahr 2015 geborenes Kind.
Die Erstbeschwerdeführerin habe im Herkunftsland nie Probleme mit den dortigen Behörden gehabt, sei nie politisch tätig gewesen und sei wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit und ihres Religionsbekenntnisses von keinen Schwierigkeiten betroffen gewesen. Sie habe keine eigenen Fluchtgründe vorzubringen und beziehe sich auf die Gründe ihres Mannes, welcher Ladungen erhalten und für den Militärdienst tauglich befunden worden sei. Sie hätten das Land verlassen, da viele ihrer Bekannten nicht lebend aus dem Krieg zurückgekehrt seien. Im Falle einer Rückkehr müsste ihr Mann ins Gefängnis, da dieser Deserteur sei.
In Österreich lebe die Erstbeschwerdeführerin von der Grundversorgung, kümmere sich um ihre kleine Tochter, habe ein Sprachdiplom auf dem Niveau B1 erworben und sei ehrenamtlichen Tätigkeiten für das Rote Kreuz, die Gemeinde und die Pfarre nachgegangen.
Die Erstbeschwerdeführerin legte ein Konvolut an Unterlagen zum Beleg insbesondere ihrer Ausbildung in der Ukraine sowie der in Österreich erfolgten Integrationsbemühungen vor.
Der Zweitbeschwerdeführer gab zusammengefasst an, er sei gesund und habe in der Ukraine bis zum Jahr 2012 an der staatlichen XXXX studiert. Im Vorfeld der Ausreise habe er auf eine Stelle im Bereich des Flughafens oder der Einsatzkräfte gewartet und zur Überbrückung als Verkäufer gearbeitet. Anfang Juni 2014 habe er seine erste Stellungsvorladung erhalten. Einer seiner Mitschüler sowie ein Kollege aus dem Boxsport seien im Krieg gefallen. Der Zweitbeschwerdeführer sei nie von Problemen mit den Behörden seines Herkunftslandes betroffen gewesen, er habe sich nicht politisch betätigt und sei von keinen Schwierigkeiten in Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zur ukrainischen Volksgruppe oder seines orthodoxen Glaubensbekenntnisses betroffen gewesen. Zum Grund seiner Flucht gab der Zweitbeschwerdeführer an, er sei für den Militärdienst tauglich gewesen und hätte zum Militärstützpunkt erscheinen sollen. Er habe vermutet, nach Donezk in den Krieg geschickt zu werden, da er Offizier sei und den Wehrdienst abgeleistet hätte. Weitere Gründe für das Verlassen seines Heimatlandes habe er nicht. Im Falle einer Rückkehr in die Ukraine würde ihn das Gefängnis erwarten, da er Deserteur sei.
Der Zweitbeschwerdeführer ginge in Österreich einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Paketlieferant nach, habe Deutsch auf dem Niveau B1 erlernt und bestreite seinen Lebensunterhalt aus den Einkünften seiner Firma.
Der Zweitbeschwerdeführer legte Unterlagen über die in der Ukraine absolvierte Ausbildung, die erhaltenen Einberufungsbefehle sowie Belege seiner in Österreich erfolgten Integrationsbemühungen vor.
Aus einer seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in Auftrag gegebenen Recherche durch einen Sachverständigen zur Echtheit der von den beschwerdeführenden Parteien in Vorlage gebrachten Dokumenten vom 04.05.2018 ergibt sich, dass die ukrainischen Inlandspässe, die Geburtsurkunden, die Heiratsurkunden sowie die Militärdokumente echt seien. Der Zweitbeschwerdeführer sei im Jahr 2011 zum Wehrdienst einberufen worden und werde seit Februar 2012 als Reserveoffizier im Personenstand geführt; dieser besitze den Dienstgrad eines Unterleutnants.
Am 28.06.2018 erfolgte eine ergänzende Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.
Die Erstbeschwerdeführerin gab im Wesentlichen an, ihre bisherigen Angaben hätten der Wahrheit entsprochen und es hätten sich keine relevanten Änderungen im Hinblick auf ihr Familien- und ihr Privatleben ergeben. Ihr Mann habe zwischenzeitlich eine weitere Ladung erhalten.
Der Zweitbeschwerdeführer verwies ebenfalls auf die Richtigkeit seiner bisher getätigten Angaben und das unveränderte Bestehen seiner Fluchtgründe. Er legte einen im April 2018 erhaltenen Einberufungsbefehl zum ukrainischen Militär vor.
2. Mit den im Familienverfahren ergangenen angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine (Spruchpunkte II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die beschwerdeführenden Parteien eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für deren freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte VI.).
Die Behörde stellte die Staatsangehörigkeit, Religion und Volksgruppenzugehörigkeit sowie die Identität der beschwerdeführenden Parteien fest. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die beschwerdeführenden Parteien in der Ukraine einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen wären oder eine solche künftig zu befürchten hätten. Der Zweitbeschwerdeführer habe authentische Einberufungsbefehle zum Dienst in der ukrainischen Armee erhalten, jedoch keine gegen ihn gerichteten Verfolgungshandlungen glaubhaft gemacht. Die Erstbeschwerdeführerin habe bezogen auf ihre eigene Person sowie hinsichtlich der von ihr vertretenen minderjährigen Drittbeschwerdeführerin keine darüberhinausgehenden individuellen Rückkehrbefürchtungen geäußert. Es habe bei Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden können, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland dort einer realen Gefahr für ihr Leben oder ihre Unversehrtheit ausgesetzt wären. Auch erreiche das Strafmaß für die Entziehung vom Wehrdienst bzw. Desertion in der Ukraine laut den vorliegenden Länderberichten kein unverhältnismäßiges Ausmaß.
Zur mangelnden Asylrelevanz des Vorbringens des Zweitbeschwerdeführers wurde Folgendes erwogen:
„(…) Die Flucht wegen Einberufung zum Militärdienst könnte nur dann asylrechtlich relevant sein, wenn die Einberufung aus einem der in der FlKonv genannten Gründen erfolgt wäre oder aus solchen Gründen eine drohende allfällige Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung schwerer als gegenüber anderen Staatsangehörigen gewesen wäre (VwGH 8.3.1999, 98/01/0371).
Die Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes rechtfertigt für sich allein grundsätzlich nicht die Anerkennung eines Asylwerbers als Flüchtling. Der VwGH geht von einer asylrechtlich relevanten Furcht vor Verfolgung nur in solchen Fällen aus, in denen die Einberufung aus einem der in Art 1 Abschn A Z 2 FlKonv angeführten Gründen erfolgt, in denen der Asylwerber damit rechnen müsste, dass er hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während des Militärdienstes aus diesen Gründen im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde, oder in denen davon auszugehen ist, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsangehörigen härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung droht (VwGH 11.10.2000, 2000/01/0326).
Die Heranziehung zum Militärdienst durch die Behörden eines souveränen Staates erlangt dann Asylrelevanz, wenn eine Schlechterstellung, schlechtere Behandlung oder Unterwerfung unter ein strengeres Strafregime bestimmter, nach Religion oder sozialer Gruppe oder politischer Gesinnung abgegrenzter Personen der zum Wehrdienst herangezogenen Personen droht. Dieser Maßstab gilt aber nicht bei der Zwangsrekrutierung durch eine Rebellenarmee. Die Zwangsrekrutierung durch eine christliche Rebellenarmee, welche alle männlichen Christen ab einem bestimmten Lebensjahr umfasst, bildet allein für sich keinen Asylgrund (VwGH 8.9.1999, 99/01/0167).
Es kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa der Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine "bloße" Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (Hinweis E vom 27. April 2011, 2008/23/0124, mwN). Gemäß Art. 3 MRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat unmenschliche oder erniedrigende Haftbedingungen wiederholt unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 MRK gewürdigt (vgl. dazu das den Iran betreffende Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 17. Oktober 2006, 2005/20/0496, mwN) (VwGH 25.3.2015, Ra 2014/20/0085).
Ihr Vorbringen, Sie hätten eine Bestrafung in Ihrer Heimat deshalb zu erwarten, weil Sie es ablehnen, den Wehrdienst abzuleisten, kann nicht zur Asylgewährung führen. Beim Militärdienst handelt es sich um eine Pflicht, die jeder Staat seinen Bürgern auferlegen kann. Die Flucht eines Asylwerbers vor einem drohenden Militärdienst indiziert ebenso wenig die Flüchtlingseigenschaft wie die Furcht vor einer wegen Desertion oder Wehrdienstverweigerung drohenden, unter Umständen auch strengen Bestrafung (VwGH vom 10.03.1994, Zl. 94/19/0257).
Dies entspricht der ständigen Rechtssprechung des VwGH. Die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes stellt für sich alleine keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dar, da die Militärdienstpflicht alle in einem entsprechenden Alter männlichen Staatsbürger in gleicher Weise betrifft.
Eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes bzw. wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung, wird in diesem Sinn grundsätzlich nicht als Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention angesehen.
Der VwGH hat diese Auffassung auch in Fällen vertreten, in denen in dem betroffenen Heimatstaat ein Bürgerkrieg, Revolution oder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen stattgefunden haben.
Die Flucht wegen Einberufung zum Militärdienst können nur dann asylrechtlich relevant sein, wenn die Einberufung aus einem der in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen erfolgt wäre oder aus solchen Gründen die Behandlung während der Militärdienstleistung nachteiliger bzw. eine drohende allfällige Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung strenger als gegenüber anderen Staatsangehörigen gewesen wäre (vgl. insbesondere das Erkenntnis eines verstärkten Senates des VwGH vom 29.06.1994, Zl.: 93/01/0377).
Der VwGH geht somit nur in jenen Fällen von einer asylrechtlich relevanten Furcht vor Verfolgung aus, in denen die Einberufung aus einem der in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 der GFK angeführten Gründen erfolgt oder in denen damit gerechnet werden müßte, daß ein Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während des Militärdienstes aus diesen Gründen im Vergleich zu Angehörigen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder in denen davon auszugehen ist, dass dem Asylwerber aus Gründen eine härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung droht.
Da weder das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aufgrund der obigen Feststellung und seinem derartigen Ermittlungsergebnis gekommen ist, noch Sie eine derartige Befürchtung vorgebracht haben, kann auf eine asylrechtlich relevante Verfolgung nicht geschlossen werden.
Wie beweiswürdigend dargelegt, hat der Antragsteller im Verfahrensverlauf, vor dem Hintergrund der getroffenen Länderfeststellungen, keinerlei Anhaltspunkte auf das Vorliegen eines Sachverhaltes im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung vorgebracht. (…)“
Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer seien aufgrund ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes in der Lage, am Erwerbsleben teilzunehmen. Diese würden Ukrainisch und Russisch beherrschen und über (Hoch-)Schulbildung und Berufserfahrung verfügen. Zudem seien sie in die ukrainische Gesellschaft integriert, hätten zahlreiche familiäre Anknüpfungspunkte im Heimatland und es habe nicht festgestellt werden können, dass diesen die notdürftigste Lebensgrundlage im Falle einer Rückkehr entzogen sein würde. Die Sicherheitslage in der Zentral- und Westukraine sei grundsätzlich als ruhig zu bezeichnen.
Da keinem der Familienmitglieder der Status eines Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden wäre, sei die Ableitung eines entsprechenden Status im Wege des Familienverfahrens jeweils nicht in Betracht gekommen. Ebensowenig seien Gründe für die amtswegige Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 zu Tage getreten.
Die beschwerdeführenden Parteien seien lediglich vorübergehend im Rahmen des Asylverfahrens zum Aufenthalt berechtigt gewesen und hätten zwar Integrationsbemühungen gesetzt, jedoch keine außergewöhnliche Integrationsverfestigung im Bundesgebiet erlangt. Die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung würden daher gegenüber den privaten Interessen der beschwerdeführenden Parteien an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen, sodass sich der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung als verhältnismäßig erweise.
3. Gegen diese, den beschwerdeführenden Parteien am 13.07.2018 zugestellten, Bescheide brachte der nunmehr bevollmächtigte Vertreter der beschwerdeführenden Parteien mit – für die weiteren im Bundesgebiet aufhältigen Angehörigen gleichlautendem – Schriftsatz vom 30.07.2018 fristgerecht eine Beschwerde ein. Begründend wurde bezogen auf das gegenständliche Verfahren im Wesentlichen festgehalten, die Familie habe die Ukraine verlassen, da der Zweitbeschwerdeführer die Einberufung zum ukrainischen Militärdienst verweigert hätte und ihm die Verhaftung unter menschrechtswidrigen Verhältnissen drohe. Zudem habe der Vater des Zweitbeschwerdeführers die Zusammenarbeit mit dem Rechten Sektor abgelehnt, sodass die gesamte Familie einer Bedrohung durch ihn ausgesetzt wäre. Da dem Zweitbeschwerdeführer zumindest die Inhaftierung drohe, sei auf die in den Länderberichten dargelegten prekären Haftbedingungen in der Ukraine zu verweisen, welche für den Genannten ein unzumutbares Hindernis für eine Rückkehr in die Ukraine darstellen würden. Überdies seien die beschwerdeführenden Parteien bestens in die österreichische Gesellschaft integriert.
4. Die Beschwerdevorlagen in den Verfahren der beschwerdeführenden Parteien und der weiteren Angehörigen langten am 08.08.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit Eingaben vom 23.11.2018 sowie vom 25.06.2020 übermittelte der rechtsfreundliche Vertreter aktuelle Einkommensnachweise der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers sowie ein Diplom über eine von der Erstbeschwerdeführerin und vom Zweitbeschwerdeführer jeweils bestandene Integrationsprüfung auf dem Niveau B1.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Ukraine, Angehörige der ukrainischen Volksgruppe und bekennen sich zum orthodoxen Glauben. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind verheiratet und Eltern der im Jahr 2015 im Bundesgebiet geborenen Drittbeschwerdeführerin. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer reisten gemeinsam mit den Eltern und zwei Geschwistern des Zweitbeschwerdeführers illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, stellten am 20.08.2014 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz und halten sich seither durchgehend im Bundesgebiet auf. Für die minderjährige Drittbeschwerdeführerin wurde am 20.11.2015 durch ihre gesetzlichen Vertreter ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht.
Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer stammen aus dem Oblast XXXX in der Zentralukraine, wo sie die Schule absolvierten. Die Erstbeschwerdeführerin hat eine Ausbildung als Friseurin abgeschlossen und im Vorfeld der Ausreise als Verkäuferin gearbeitet; der Zweitbeschwerdeführer hat ein Studium im Bereich der XXXX mit der Qualifikation als Ingenieur für Rettungs- und Bergungsarbeiten absolviert und im Vorfeld der Ausreise ebenfalls als Verkäufer gearbeitet. Sowohl die Erstbeschwerdeführerin als auch der Zweitbeschwerdeführer beherrschen Russisch und Ukrainisch auf muttersprachlichem Niveau.
Die Verfahren der Eltern und des Bruders des Zweitbeschwerdeführers sind gegenwärtig zu den Zahlen W192 2202975-1 (Vater), W192 2202974-1 (Mutter) und W226 2202960-1 (Bruder) im Beschwerdestadium vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängig. Die Beschwerde im Verfahren der Schwester des Zweitbeschwerdeführers ist mit am 24.07.2019 mündlich verkündetem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes zu Zahl W111 2202973-1 gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen worden; überdies wurde ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei und es wurde der Schwester des Zweitbeschwerdeführers der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
1.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle einer Rückkehr in die Ukraine aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wären. Der Zweitbeschwerdeführer hat vorgebracht, die Ukraine infolge des Erhalts von Einberufungen zum ukrainischen Militär verlassen zu haben, da er nicht an Kampfhandlungen im Osten der Ukraine habe teilnehmen wollen. Darüberhinausgehende Fluchtgründe hat er nicht dargelegt. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Bezug auf ihre eigene Person sowie im Hinblick auf die minderjährige Drittbeschwerdeführerin keine individuellen Rückkehrbefürchtungen geäußert.
1.3. Es besteht für die Erstbeschwerdeführerin und den Zweitbeschwerdeführer als gesunde leistungsfähige Personen im berufsfähigen Alter sowie mit einem familiären und sozialen Netz im Herkunftsstaat im Falle einer Rückkehr in die Ukraine gemeinsam mit ihrer minderjährigen Tochter keine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Die beschwerdeführenden Parteien liefen nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind ebenso wie ihre minderjährige Tochter gesund und konnten ihren Lebensunterhalt in der Ukraine in der Vergangenheit stets problemlos eigenständig bestreiten.
1.4. Die unbescholtenen BeschwerdeführerInnen leben in einem gemeinsamen Haushalt im Bundesgebiet, führen untereinander ein Familienleben und bestreiten ihren Lebensunterhalt seit November 2017 unabhängig von staatlichen Grundversorgungsleistungen. Sie haben während ihres rund sechsjährigen Aufenthalts eine vertiefte Integration im Bundesgebiet erlangt. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer haben sich Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 angeeignet und im September 2018 jeweils eine ÖIF-Integrationsprüfung auf diesem Niveau bestanden.
Der Zweitbeschwerdeführer übt aufgrund einer Gewerbeberechtigung seit September 2017 eine selbständige Tätigkeit als Paketzusteller aus und ist durch das dadurch erwirtschaftete Einkommen in der Lage, den Lebensunterhalt seiner Familie seit November 2017 unabhängig vom Bezug von Grundversorgungsleistungen zu bestreiten. Zuvor war der Zweitbeschwerdeführer in den Zeiträumen Jänner 2016 bis April 2016 sowie Dezember 2016 bis April 2017 als Hilfsarbeiter im Gastgewerbe beschäftigt. Auch die Erstbeschwerdeführerin betonte ihren Wunsch nach Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, sobald es die Betreuung der im November 2015 geborenen Drittbeschwerdeführerin zulässt. Sie befand sich zuletzt von Dezember 2019 bis März 2020 in einem Beschäftigungsverhältnis im Gastgewerbe und bezog ein Einkommen laut Kollektivvertrag. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer engagierten sich darüber hinaus regelmäßig durch die Verrichtung ehrenamtlicher und gemeinnütziger Tätigkeiten. So ist der Zweitbeschwerdeführer in seiner Wohngemeinde von August 2015 bis Dezember 2015 als Zusteller von Speisen im Rahmen von „Essen auf Rädern“ tätig geworden, hat zwischen Februar 2015 und August 2016 Betreuungsdienste für die BewohnerInnen eines Bezirksaltenheimes geleistet und auf einem Sozialmarkt mitgeholfen. Überdies hat dieser ehrenamtlich bei vielen Veranstaltungen der Gemeinde und Pfarre, am Bade- und Campingplatz sowie bei Schneeräumungsarbeiten mitgewirkt. Die Erstbeschwerdeführerin hat ebenfalls von Februar 2015 bis August 2015 in einem Alten- und Pflegeheim sowie in einem Gartenverein freiwillig mitgearbeitet. Überdies haben die erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien einen Erste-Hilfe-Grundkurs absolviert.
Die beschwerdeführenden Parteien haben sich einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet aufgebaut, mit welchem sie regelmäßig ihre Freizeit verbringen und sind in das Gemeindeleben ihrer Wohngemeinde sehr gut integriert.
Die Bindungen der vierjährigen Drittbeschwerdeführerin, welche ihr gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht hat, beschränken sich noch auf den Kreis ihrer Eltern, auf deren Unterstützung und Fürsorge sie angewiesen ist.
Der Lebensmittelpunkt der beschwerdeführenden Parteien befindet sich zwischenzeitlich in Österreich, wohingegen sie zu ihrem Herkunftsstaat nur mehr vergleichswiese geringe Bindungen aufweisen. Aufgrund der seitens der beschwerdeführenden Parteien gesetzten Integrationsschritte sowie des aufrechten Familienlebens zwischen den BeschwerdeführerInnen würde eine Rückkehrentscheidung einen ungerechtfertigten Eingriff in deren Privat- und Familienleben darstellen.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat:
…
1. Sicherheitslage
Der nach der "Revolution der Würde" auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch vom mit großer Mehrheit bereits im ersten Wahlgang am 07.06.2014 direkt zum Präsidenten gewählte Petro Poroschenko verfolgt eine europafreundliche Reformpolitik, die von der internationalen Gemeinschaft maßgeblich unterstützt wird. Diese Politik hat zu einer Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren geführt, obwohl Russland im März 2014 die Krim annektierte und seit Frühjahr 2014 separatistische „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine unterstützt (AA 7.2.2017).
Die ukrainische Regierung steht für einen klaren Europa-Kurs der Ukraine und ein enges Verhältnis zu den USA. Das 2014 von der Ukraine unterzeichnete und ratifizierte Assoziierungsabkommen mit der EU ist zum Jahresbeginn 2016 in Kraft getreten und bildet die Grundlage der Beziehungen der Ukraine zur EU. Es sieht neben der gegenseitigen Marktöffnung die Übernahme rechtlicher und wirtschaftlicher EU-Standards durch die Ukraine vor. Das Verhältnis zu Russland ist für die Ukraine von zentraler Bedeutung. Im Vorfeld der ursprünglich für November 2013 geplanten Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens übte Russland erheblichen Druck auf die damalige ukrainische Regierung aus, um sie von der EU-Assoziierung abzubringen und stattdessen einen Beitritt der Ukraine zur Zollunion/Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft herbeizuführen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs und dem Sturz von Präsident Janukowytsch verschlechterte sich das russisch-ukrainische Verhältnis dramatisch. In Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen und bilateraler Verträge annektierte Russland im März 2014 die Krim und unterstützt bis heute die bewaffneten Separatisten im Osten der Ukraine (AA 2.2017c).
Die sogenannten „Freiwilligen-Bataillone“ nehmen offiziell an der „Anti-Terror-Operation“ der ukrainischen Streitkräfte teil. Sie sind nunmehr alle in die Nationalgarde eingegliedert und damit dem ukrainischen Innenministerium unterstellt. Offiziell werden sie nicht mehr an der Kontaktlinie eingesetzt, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, eventuell auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von allerdings teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse von UNHCHR, Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlung wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen (AA 7.2.2017).
Seit Ausbruch des Konflikts im Osten der Ukraine in den Regionen Lugansk und Donezk im April 2014 zählte das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der UN (OHCHR) 33.146 Opfer des Konflikts, davon 9.900 getötete und 23.246 verwundete Personen (inkl. Militär, Zivilbevölkerung und bewaffnete Gruppen). Der Konflikt wird von ausländischen Kämpfern und Waffen, die nach verschiedenen Angaben aus der Russischen Föderation in die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete (NGCA) gebracht werden, angeheizt. Zudem gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen sind betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Der bewaffnete Konflikt stellt einen Bruch des Internationalen Humanitären Rechts und der Menschenrechte dar. Der Konflikt wirkt sich auf die ganze Ukraine aus, da es viele Kriegsrückkehrern (vor allem Männer) gibt und die Zahl der Binnenflüchtlinge (IDPs) hoch ist. Viele Menschen haben Angehörige, die getötet oder entführt wurden oder weiterhin verschwunden sind. Laut der Special Monitoring Mission der OSZE sind täglich eine hohe Anzahl an Brüchen der Waffenruhe, die in den Minsker Abkommen vereinbart wurde, zu verzeichnen (ÖB 4.2017).
Russland kontrolliert das Gewaltniveau in der Ostukraine und intensiviert den Konflikt, wenn es russischen Interessen dient (USDOS 3.3.2017a).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (7.2.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/file_upload/4598_1488455088_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-januar-2017-07-02-2017.pdf, Zugriff 31.5.2017
- AA – Auswärtiges Amt (2.2017b): Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Innenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017
- AA – Auswärtiges Amt (2.2017c): Außenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Ukraine/Aussenpolitik_node.html, Zugriff 31.5.2017
- ÖB – Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine
- USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 12.7.2017
2. Rechtsschutz/Justizwesen
Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering (USDOS 3.3.2017a).
Nach einer langen Phase der Stagnation nahm die Justizreform ab Juli 2016 mit Verfassungsänderungen und neuem rechtlichem Rahmen Fahrt auf. Für eine Bewertung der Effektivität der Reform ist es noch zu früh (FH 29.3.2017).
Die Reform der Justiz war eine der Kernforderungen der Demonstranten am sogenannten Euro-Maidan. Das größte Problem der ukrainischen Justiz war immer die mangelnde Unabhängigkeit der Richter von der Exekutive. Auch die Qualität der Gesetze gab stets Anlass zur Sorge. Noch problematischer war jedoch deren Umsetzung in der Praxis. Auch Korruption wird als großes Problem im Justizbereich wahrgenommen. Unter dem frisch ins Amt gekommenen Präsident Poroschenko machte sich die Regierung daher umgehend an umfassende Justizreformen. Mehrere größere Gesetzesänderungen hierzu wurden seither verabschiedet. Besonders hervorzuheben sind Gesetz Nr. 3524 betreffend Änderungen der Verfassung und Gesetz Nr. 4734 betreffend das Rechtssystem und den Status der Richter, die Ende September 2016 in Kraft traten. Mit diesen Gesetzen wurden die Struktur des Justizsystems reformiert und die professionellen Standards für Richter erhöht und ihre Verantwortlichkeit neu geregelt. Außerdem wurde der Richterschaft ein neuer Selbstverwaltungskörper gegeben, der sogenannte Obersten Justizrat (Supreme Council of Justice). Dieser ersetzt die bisherige Institution (Supreme Judicial Council), besteht hauptsächlich aus Richtern und hat ein Vorschlagsrecht für Richter, welche dann vom Präsidenten zu ernennen sind. Ebenso soll der Oberste Justizrat Richter suspendieren können. Die besonders kritisierte fünfjährige Probezeit der Richter wurde gestrichen und ihr Einkommen massiv erhöht. Auf der anderen Seite wurden die Ernennungskriterien für Richter erhöht, bereits ernannte Richter müssen sich einer Überprüfung unterziehen. Die Antikorruptionsregelungen wurden verschärft und die richterliche Immunität auf eine rein professionelle Immunität beschränkt. Richter, die die Herkunft ihres Vermögens (bzw. das enger Angehöriger) nicht belegen können, sind zu entlassen. Besonders augenfällig ist auch die Umstellung des Gerichtssystems von einem viergliedrigen zu einem dreigliedrigen System. Unter dem ebenfalls reformierten Obersten Gerichtshof als höchster Instanz, gibt es nun nur noch die Appellationsgerichte und unter diesen die lokalen Gerichte. Die zuvor existierenden verschiedensten Gerichtshöfe (zwischen Appellationsgerichten und Oberstem Gerichtshof) wurden abgeschafft. Außerdem wurde ein spezialisierter Antikorruptionsgerichtshof geschaffen, wenn auch dessen genaue Zuständigkeit noch durch Umsetzungsdekrete festzulegen ist. Die Kompetenz Gerichte zu schaffen oder umzuorganisieren etc., ging vom Präsidenten auf das Parlament über (BFA/OFPRA 5.2017).
Die andere große Baustelle des Justizsystems ist die Reform des Büros des Generalstaatsanwalts, der bislang mit weitreichenden, aus der Sowjetzeit herrührenden Kompetenzen ausgestattet war. Im April 2015 trat ein Gesetz zur Einschränkung dieser Kompetenzen bei gleichzeitiger Stärkung der Unabhängigkeit in Kraft, wurde in der Praxis aber nicht vollständig umgesetzt. Große Hoffnungen in diese Richtung werden in den im Mai 2016 ernannten neuen Generalstaatsanwalt Juri Lutsenko gesetzt. Eine neu geschaffene Generalinspektion soll die Legalität der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft überwachen. Die praktische Umsetzung all dieser Vorgaben erfordert allerdings die Verabschiedung einer Reihe begleitender Gesetze, die es abzuwarten gilt. Etwa 3.400 Posten in der Staatsanwaltschaft, die neu besetzt wurden, gingen überwiegend an Kandidaten, die bereits vorher in der Staatsanwaltschaft gewesen waren. Alle Kandidaten absolvierten eingehende und transparente Tests, aber am Ende waren unter den Ernannten nur 22 neue Gesichter, was in der Öffentlichkeit zu Kritik führte. Für die Generalinspektion ist aber neues Personal vorgesehen. Die schlechte Bezahlung der Staatsanwälte ist ein Einfallstor für Korruption. Der Antikorruptions-Staatsanwalt bekommt als einziger Staatsanwalt höhere Bezüge, obwohl gemäß Gesetz alle Staatsanwälte besser bezahlt werden müssten (BFA/OFPRA 5.2017; vgl. FH 29.3.2017).
Mit 1. Oktober 2016 hat die Generalstaatsanwaltschaft sechs Strafverfahren gegen Richter eingeleitet. Richter beschweren sich weiterhin über eine schwache Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative. Einige Richter berichten über Druckausübung durch hohe Politiker. Andere Faktoren behindern das Recht auf ein faires Verfahren, wie langwierige Gerichtsverfahren, vor allem in Verwaltungsgerichten, unzureichende Finanzierung und mangelnde Umsetzung von Gerichtsurteilen. Diese liegt bei nur 40% (USDOS 3.3.2017a).
Der unter der Präsidentschaft Janukowitschs zu beobachtende Missbrauch der Justiz als Hilfsmittel gegen politische Mitbewerber und kritische Mitglieder der Zivilgesellschaft ist im politischen Prozess der Ukraine heute nicht mehr zu finden. Es bestehen aber weiterhin strukturelle Defizite in der ukrainischen Justiz. Eine umfassende, an westeuropäischen Standards ausgerichtete Justizreform ist im September 2016 in Kraft getreten, deren vollständige Umsetzung wird jedoch noch einige Jahre in Anspruch nehmen (ÖB 4.2017).
Laut offizieller Statistik des EGMR befindet sich die Ukraine auf Platz 1 in Bezug auf die Anzahl an anhängigen Fällen in Strassburg (18.155, Stand 1.1.2017). 65% der anhängigen Fälle betreffen die nicht-Umsetzung von nationalen Urteilen. Wiederkehrende Vorwürfe des EGMR gegen die Ukraine kreisen auch um die überlange Dauer von Zivilprozessen und strafrechtlichen Voruntersuchungen ohne Möglichkeit, dagegen Rechtsmittel ergreifen zu können; Verstöße gegen Art. 5 der EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit); Unmenschliche Behandlung in Haft bzw. unzulängliche Untersuchung von derartig vorgebrachten Beschwerden; Unzureichende Haftbedingungen und medizinische Betreuung von Häftlingen (ÖB 4.2017).
Quellen:
- BFA/OFPRA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine
- FH - Freedom House (29.3.2017): Nations in Transit 2017 - Ukraine, http://www.ecoi.net/local_link/338537/481540_de.html, Zugriff 6.6.2017
- ÖB – Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine
- USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 31.5.2017
3. Sicherheitsbehörden
Die Sicherheitsbehörden unterstehen effektiver ziviler Kontrolle. Der ukrainischen Regierung gelingt es meist nicht Beamte strafzuverfolgen oder zu bestrafen, die Verfehlungen begangen haben. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen bemängeln aber die Maßnahmen angebliche Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsbehörden zu ermitteln bzw. zu bestrafen, insbesondere angebliche Fälle von Folter, Verschwindenlassen, willkürlichen Inhaftierungen etc. durch den ukrainischen Geheimdienst (SBU), speziell wenn das Opfer verdächtig war/ist „pro-separatistisch“ eingestellt zu sein. Straflosigkeit ist somit weiterhin ein Problem. Gelegentlich kam es zu Anklagen, oft aber blieb es bei Untersuchungen. Der Menschenrechtsombudsmann hat die rechtliche Möglichkeit, Ermittlungen innerhalb der Sicherheitsbehörden wegen Menschenrechtsverletzungen zu initiieren. Die Sicherheitsbehörden verhindern generell gesellschaftliche Gewalt oder reagieren darauf. In einigen Fällen kam es aber auch zu Fällen überschießender Gewaltanwendung gegen Demonstranten oder es wurde versäumt Personen vor Drangsale oder Gewalt zu schützen (USDOS 3.3.2017a).
Die Sicherheitsbehörden haben ihre sowjetische Tradition überwiegend noch nicht abgestreift. Reformen werden von Teilen des Staatsapparats abgelehnt. Staatsanwaltschaft und Sicherheitsdienst (SBU) waren jahrzehntelang Instrumente der Repression; im Bereich von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung gibt es weiterhin überlappende Kompetenzen. Die 2015 mit großem Vertrauensvorschuss neu geschaffene und allseits für ihre Integrität gelobte Nationalpolizei muss sich auseinandersetzen mit einer das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung beeinträchtigenden Zunahme der Kriminalität infolge der schlechten Wirtschaftslage und der Auseinandersetzung im Osten, einer noch im alten Denken verhafteten Staatsanwaltschaft und der aus sozialistischen Zeiten überkommenen Rechtslage. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse von UNHCHR, einige wenige Personen in der Konfliktregion (Ostukraine) unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlung wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen (AA 7.2.2017).
Nach einem Bericht über illegale Haft und Folter, sowohl durch den ukrainischen Geheimdienst SBU als auch durch prorussische Separatisten, reagierte im Juli 2016 der SBU mit der Entlassung von 13 Personen aus der Haft (die Illegalität der Haft wurde aber abgestritten). Bezüglich der Polizeigewalt gegen Maidan-Demonstranten im Jahre 2014 wurden vier Berkut-Beamte wegen der Tötung von drei Demonstranten und Verletzung 35 weiterer angeklagt (FH 1.2017; vgl. HRW 12.1.2017).
Da die alte ukrainische Polizei, die sogenannte Militsiya, seit Ende der Sowjetunion mit einem sehr schlechten Ruf als zutiefst korrupt zu kämpfen hatte und sie nach den Ereignissen des sogenannten Euromaidan zu sehr mit – zum Teil tödliche r- Gewalt gegen Demonstranten gleichgesetzt wurde, reagierte die neue Regierung in der post-Janukowitsch-Ära sehr schnell und präsentierte bereits Ende 2014 eine Strategie zur Einführung einer neuen Polizeieinheit, welche korruptionsfrei, weniger militaristisch und serviceorientierter sein sollte. Die relevante Gesetzgebung konnte schließlich im November 2015 in Kraft treten. Die neue Nationalpolizei nahm ihre Tätigkeit aber bereits Anfang Juli 2015 auf, als die ersten 2.000 neuen Beamten nach nur drei Monaten Ausbildung ihren Eid ablegten. Diese kurze Ausbildungszeit erklärt sich auch aus der Notwendigkeit heraus, die neuen Beamten rasch auf die Straße zu bekommen, wo sie wohlgemerkt ohne Anleitung durch erfahrene (Militsiya-)Beamte Dienst taten, sozusagen als Verkörperung des Wandels. Die etwa 12.000 Nationalpolizisten tun derzeit Dienst in den Großstädten, inklusive Odessa, Kharkiv, Kiew und Lemberg, sowie in 32 Oblast-Hauptstädten im ganzen Land, inklusive der ukrainisch kontrollierten Teile der Ostukraine. Es ist geplant, dass sie danach schrittweise auf den Autobahnen und im ganzen Land tätig werden sollen. Geplant und durchgeführt wurde die Polizeireform v.a. von georgischen Experten, die bereits in ihrer Heimat einschlägige und international beachtete Erfahrungen gesammelt hatten. Um die Trennung vom alten System zu verdeutlichen, wurde die Militsiya angewiesen nicht mehr auf den Straßen präsent zu sein. Dort patrouilliert nur noch die Nationalpolizei. In den Revieren jedoch wird Innendiensttätigkeit weiterhin von der Militsiya verrichtet, deren Ende praktisch besiegelt ist. Die Kooperation zwischen den beiden Wachkörpern ist folglich eher problembeladen. Die neuen Polizisten verrichten praktisch ausschließlich Patrouillentätigkeiit. Wenn sie jemanden festnehmen wird die weitere Ermittlungsarbeit – auch mangels Erfahrung der Nationalpolizisten – weiter von der Militsiya gemacht, bevor es zu einer Anklage kommen kann. Die Reform der Kriminalpolizei und weiterer Einheiten, mit ihren etwa 150.000 Beamten in der gesamten Ukraine, steht erst bevor und wird als der wahre Belastungstest für die Polizeireform gesehen. Mit dem Eintritt der ersten neuen Nationalpolizisten in den Kriminaldienst wird frühestens nach drei Jahren gerechnet. Bewerber für die Nationalpolizei müssen sich eingehender Fitness- und Persönlichkeitstest unterziehen. Angehörige der Militsiya können in den neuen Wachkörper wechseln, müssen aber die Vorgaben erfüllen und sich den Eignungstest unterziehen. Ende 2015 hatten sich 18.044 Milizionäre diesem Prozess gestellt und 62% davon haben die ersten zwei (von drei) Testrunden überstanden (General Skills Test, Professional Skills Test und kommissionelles Interview). An diesem Auswahlprozess sind Vertreter der Zivilgesellschaft beteiligt und die EU beobachtet diesen. Nationalpolizisten werden im Vergleich zur Militsiya sehr gut bezahlt, was Korruption vorbeugen soll. In den ersten zwei Monaten wurden 28 der neuen Beamten entlassen, zwei davon wegen Korruptionsvorwürfen. Trotz dem Mangel an Erfahrung der neuen Polizisten, der immer wieder kritisiert wurde, werden die ersten Monate in denen die neue Nationalpolizei Dienst tat, als Erfolg betrachtet. Im Vergleich zur Militsiya wurden die neuen Beamten öfter gerufen, reagierten aber trotzdem schneller. Die Zahl der Notrufe vervierfachte sich binnen kurzer Zeit, was als Beweis des Vertrauens der Bürger in die Polizei gewertet wird. 85% der Kiewer Bevölkerung halten die Polizei für glaubwürdig, aber nur 5% sagen dasselbe über die Militsiya. In anderen Großstädten sind die Werte ähnlich. Der Anstieg der Kriminalität (+20% in Kiew im Jahre 2015 gegenüber dem Jahr davor) wird von Kritikern in Zusammenhang mit der neuen Polizei gebracht. Jedoch werden auch der Konflikt im Osten des Landes, die allgemein schlechte ökonomische Lage, sowie die Anwesenheit zahlreicher Personen aus der Ostukraine, die aufgrund des Konflikts ihren Lebensmittelpunkt nach Kiew verlagert haben (IDPs und andere) als relevante Faktoren genannt. Auch angeführt wird, dass der Anstieg der Kriminalität eher damit zu tun haben könnte, dass in der Nationalpolizei die Statistiken nicht mehr frisiert und die neuen Polizisten aufgrund höheren Bürgervertrauens schlicht öfter zur Hilfe gerufen werden. Der Wandel der Polizei geht auch einher mit einem Wandel des Innenministeriums, das nach den Worten des Innenministers von einem „Milizministerium“ zu einem zivilen Innenministerium europäischer Prägung wurde. Der Rücktritt von Vize-Innenministerin Ekaterina Zguladze-Glucksmann und von Polizeichefin Khatia Dekanoidze, zwei der zahlreichen georgischen Experten, die zur Durchsetzung von Reformen engagiert worden waren, im November 2016, gab bei einigen Beobachtern Anlass zur Sorge über die Zukunft der ukrainischen Polizeireform. Dekanoidze beklagte bei ihrem Abgang, dass, trotzdem es ihr gelungen sei die Grundlagen für einen Polizeikörper westlichen Zuschnitts zu legen, man ihr nicht genug Kompetenzen für eine noch radikalere Reform in die Hand gegeben hätte (BFA/OFPRA 5.2017).
Das sichtbarste Ergebnis der Polizeireform der Ukraine, die am 2. Juli 2015 beschlossen wurde, ist sicherlich die (Neu-)Gründung der Nationalen Polizei, die im selben Monat noch in drei ausgewählten Regionen und insgesamt 32 Städten (darunter auch Kiew, Lemberg, Kharkiv, Kramatorsk, Slaviansk und Mariupol) ihre Tätigkeit aufnahm. Als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan, das anhand von europäischen Standards mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft aufgebaut wurde, stellt die neue Nationale Polizei jedenfalls einen wesentlichen Schritt vorwärts dar. Mit 7. November 2015 ersetzte die neue Nationale Polizei der Ukraine offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte Militsiya. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Struktur aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungs-Prozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritäts-Prüfungen durchlaufen. Mit 20 Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses. Im Zuge dessen wurden 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft. Allgemein wird der vorläufig große Erfolg dieser Reform oft als Aushängeschild der allgemeinen Reformvorhaben gesehen. Nach dem Rücktritt der ehemaligen georgischen Innenministerin Khatia Dekanoidze wurde, im Zuge eines offenen und transparenten Verfahrens, Serhii Knyazev als neuer Leiter der Nationalen Polizei ausgewählt und am 8. Februar 2017 ernannt. Eine gewisse Verlangsamung der Reformen im Polizeibereich ist zu bemerken (ÖB 4.2017).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (7.2.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, https://www.ecoi.net/file_upload/4598_1488455088_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-ukraine-stand-januar-2017-07-02-2017.pdf, Zugriff 6.6.2017
- BFA/OFPRA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Office français de protection des réfugiés et apatrides (5.2017): Fact Finding Mission Report Ukraine
- FH - Freedom House (1.2017): Freedom in the World 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/336975/479728_de.html, Zugriff 22.6.2017
- HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/334769/476523_de.html, Zugriff 6.6.2017
- ÖB – Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine
- USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 6.6.2017
4. Folter und unmenschliche Behandlung
Obwohl Folter laut Verfassung und Gesetzen verboten sind, gibt es Berichte, dass Sicherheitsbehörden solche Praktiken anwenden. Der ukrainischen Regierung gelingt es meist nicht Beamte strafzuverfolgen oder zu bestrafen, die Verfehlungen begangen haben, was zu einem Klima der Straflosigkeit beiträgt. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen bemängeln aber die Maßnahmen angebliche Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsbehörden zu ermitteln bzw. zu bestrafen, insbesondere angebliche Fälle von Folter, Verschwindenlassen, willkürlichen Inhaftierungen etc. durch den ukrainischen Geheimdienst (SBU), speziell wenn das Opfer verdächtig war/ist „pro-separatistisch“ eingestellt zu sein. Menschenrechtsorganisationen berichten von Todesfällen in Gefängnissen, u.a. wegen Folter. Während der ersten neun Monate 2016 eröffnete die Generalstaatsanwaltschaft 35 Verfahren wegen Vorwürfen von Folter oder erniedrigender Behandlung unter Beteiligung von staatlichen Sicherheitsorganen. Gemäß ukrainischem Innenministerium wurden im selben Zeitraum 133 Ermittlungen bezüglich verschiedener Vergehen gegen Polizisten aufgenommen, davon fünf wegen Folter. 20 Beamte wurden disziplinarisch bestraft und zehn weitere entlassen.
Aus der Ostukraine wird berichtet, dass Regierungstruppen und regierungstreue Gruppen dort im Zuge von militärischen Operationen Menschenrechtsverletzungen begehen, auch Folter (USDOS 3.3.2017a).
Der „Parliament commissioner for Human Rights“ (Ombudsmann) der Ukraine fungiert gleichzeitig als Nationaler Präventivmechanismus (NPM) des Optionalen Protokolls des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (ÖB 4.2017).
Im Februar 2016 wurde die neue Ermittlungsbehörde zur Untersuchung mutmaßlicher Straftaten von Ordnungskräften und Militär offiziell ins Leben gerufen. Der UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter brach seinen Besuch in der Ukraine am 25. Mai 2016 vorzeitig ab, nachdem der Inlandsgeheimdienst der Ukraine (Sluschba bespeky Ukrajiny - SBU) ihm den Zugang zu einigen seiner Einrichtungen in der Ostukraine verweigert hatte. Berichten zufolge werden dort Gefangene in geheimer Haft gehalten, gefoltert und anderweitig misshandelt. Der Unterausschuss setzte seinen Besuch schließlich im September 2016 fort und erstellte einen Bericht, dessen Veröffentlichung von den ukrainischen Behörden jedoch nicht genehmigt wurde (AI 22.2.2017).
Der Menschenrechtskommissar des Europarats besuchte die Ukraine im März 2016 und berichtet von Fällen von Misshandlung durch pro-ukrainische Freiwilligenbataillone und den SBU im Konfliktgebiet der Ostukraine. Im Falle des SBU geschahen diese Misshandlungen meist in Hafteinrichtungen in Kharkiv, Kramatorsk und am Flughafen Mariupol (CoE 11.7.2016).
Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe besuchte die Ukraine im November 2016 und berichtete, dass die Mehrheit der Personen, die kürzlich in Haft waren, darauf hinwies, dass die Polizei sie korrekt behandelt hat und es gab keine weiteren Berichte über Misshandlung durch SBU-Beamte oder durch Polizeibeamte in Polizeigefangenenhäusern. Die grundlegenden Rechte (auf einen Arzt, auf einen Anwalt, auf Information) werden vor allem von der Polizei nicht immer gewährt. Es gibt weiterhin Berichte über Gewaltanwendung durch Beamte bei Verhören, um Geständnisse zu erhalten. Obwohl seit 2013 die Schwere der Vorfälle abgenommen hat, ist die Zahl der Vorwürfe immer noch bedenklich. Die Situation in den Untersuchungsgefängnissen ist generell schlechter als in den Justizanstalten, sie sind immer noch stellenweise überbelegt und auch Gewalt unter den Häftlingen ist dort präsenter als in den Justizanstalten (CoE 19.6.2017).
Quellen:
- AI - Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/336532/479204_de.html, Zugriff 19.6.2017
- CoE – Europarat (11.7.2016): Report by Nils Muižnieks Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his Visit to Ukraine from 21 to 25 March 2016, https://www.ecoi.net/file_upload/1226_1468486683_commdh-2016-27-en.pdf, Zugriff 20.6.2017
- CoE - Council of Europe (19.6.2017): Report to the Ukrainian Government on the visit to Ukraine carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 21 to 30 November 2016, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1498028007_2017-15-inf-eng-docx.pdf, Zugriff 26.6.2017
- ÖB – Österreichische Botschaft Kiew (4.2017): Asylländerbericht Ukraine
- USDOS - US Department of State (3.3.2017a): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Ukraine, https://www.ecoi.net/local_link/337222/480033_de.html, Zugriff 19.6.2017
5. Korruption
Korruption ist in der Ukraine endemisch. Dies findet sich nicht zuletzt im Corruption Perception Index von Transparency International reflektiert, der die Ukraine im Jahr 2016 auf Platz 131 von 176 untersuchten Ländern einstuft. Im Jahr 2007 rangierte die Ukraine im selben Ranking noch auf Platz 118 von 179 untersuchten Ländern. Vor allem seit dem Sturz des Janukowitsch-Regimes zeigt der Trend aber wieder in eine positive Richtung. Die endemische Korruption war einer, wenn nicht der Grund für den Sturz des alten Regimes und vereint weiterhin große Teile der Bevölkerung und vor allem auch der Zivilgesellschaft hinter einem gemeinsamen Ziel. Am 14. Mai 2013 verabschiedete das ukrainische Parlament ein neues Antikorruptionsgesetz, nicht zuletzt aufgrund einer im Aktionsplan zur Liberalisierung des Visaregimes für die Ukraine vorgesehen Vorgabe. Das Gesetz fordert u.a. verstärkte Berichtspflichten für (Neben-)Einkünfte und Aufwendungen von öffentlich Bediensteten und von Bediensteten staatlicher Betriebe sowie ihrer Familien. Das Gesetz sieht außerdem den Schutz von Personen vor, die Korruption anzeigen. Als positiver Schritt wird die Verabschiedung eines neuen Gesetzes „Über öffentliche Auftragsvergaben“ am 10. April 2014 gewertet. Insbesondere die neuen Publizitätskriterien sollen den Vergabeprozess transparenter und damit kontrollierbarer machen. Vor dem Hintergrund der am 26 .Oktober 2014 abgehaltenen vorzeitigen Parlamentswahlen wurde am 14. Oktober 2014 ein neues umfassendes Reformpaket zur Bekämpfung der Korruption vorgelegt, durch das neue Institutionen geschaffen bzw. neue Verfahren zur Korruptionsverhütung und -bekämpfung eingeführt wurden. So wurde die Schaffung des Nationalen Anti-Korruptions-Büros (NABU) beschlossen und am 16. April 2015 eröffnet. Hauptziel des NABU ist es, v.a. Korruption auf höchster (politischer) Ebene zu bekämpfen. Besetzt wurde das Büro infolge eines strikten und offenen Auswahlverfahrens. Die Ausstattung des Büros mit vollwertigen Ermittlungsbefugnissen ist jedoch weiterhin ausständig und innenpolitisch sehr umstritten. Ende 2015 wurde ebenfalls eine gesonderte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft geschaffen, die alle Korruptions-Fälle von der Generalstaatsanwaltschaft übernehmen soll. Als drittes neues Element wurde auch die Nationale Behörde für die Korruptionsprävention (NAPC) ins Leben gerufen. Politisch oft heikle Korruptionsfälle sollen dadurch auf neue, unabhängige Strukturen ausgelagert werden. Vom Leiter des NABU, Artem Sytnyk, sowie zahlreichen im Bereich der Korruptionsbekämpfung tätigen NGOs, als auch von der EU und anderen internationalen Partnern, wird ebenfalls die Schaffung eigener Anti-Korruptionsgerichte gefordert, womit von Ermittlung über Anklage bis hin zum Urteil die Kette bei der Korruptionsbekämpfung durch neue, in der Theorie unabhängigere Institutionen geschlossen wäre. Die Schaffung eines solchen Antikorruptionsgerichtes ist grundsätzlich in der in Kraft getretenen Justizreform vorgesehen, die Vorstellung von Gesetzesentwürfen hierzu verläuft jedoch nur schleppend. Seitens des Präsidenten wird teils öffentlich an der Notwendigkeit zusätzlicher „Parallelstrukturen“ gezweifelt. Es kommt auch immer wieder, zuletzt im Herbst 2016 sehr öffentlich, zu Auseinandersetzung zwischen den traditionellen und den neu-geschaffenen Institutionen im Bereich Korruptionsbekämpfung, vor allem auch deshalb, da trotz der Gründung der neuen Institutionen die alten weiterhin viele ihrer Kompetenzen behalten haben. Ein großer Erfolg war nach mehrfacher Verschiebung und mit anfänglichen technischen Schwierigkeiten die Einführung eines umfassenden, der gesamten Öffentlichkeit zugänglichen elektronischen Vermögenserklärungssystems. Mit Stichtag 31. Oktober 2016 mussten alle Politiker und hohen Beamten der Ukraine verpflichtend ihre Vermögenserklärung online abgeben. Es wurden über 100.000 elektronische Vermögenserklärungen registriert. Das System gilt als Schlüsselelement im Kampf gegen die Korruption im Lande und wurde in erster Linie auf massiven internationalen Druck hin eingeführt. Die Veröffentlichung des enormen Reichtums vieler Politiker - die Gesamtsumme der deklarierten Bargeldbestände der 413 Parlamentsabgeordneten beläuft sich auf über €430 Mio. – löste aber auch breite Empörung innerhalb der Bevölkerung aus. Weiterhin problematisch bleibt, dass die mit der Überprüfung der Erklärung beauftragten Behörden nicht in