Entscheidungsdatum
10.08.2020Norm
AsylG 2005 §54Spruch
W103 1302810-4/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX (alias XXXX geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Mag. XXXX , Rechtsanwalt in XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.11.2019, Zl. 750000405-190652409, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8, 57 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
II. In Stattgabe der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG 2005 idgF iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Verfahren über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten:
1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte infolge illegaler Einreise am 31.12.2004 einen Asylantrag im Bundesgebiet, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.06.2006, Zahl 05 00.004-BAT, in Spruchpunkt I. gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen wurde, in Spruchpunkt II. wurde ausgesprochen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Asylwerbers in die Russische Föderation gemäß
§ 8 Abs. 1 leg. cit. zulässig sei, in Spruchpunkt III. wurde der Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 leg. cit aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
1.2. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 09.02.2007, Zahl 302.810-C1/3E-IX/27/06, wurde in Erledigung einer gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.06.2006 eingebrachten Berufung der Bescheid des Bundesasylamtes behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG iVm § 38 Abs. 1 AsylG 1997 und § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.
1.3. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.10.2007, Zahl 05 00.004-BAT, wurde der Asylantrag gemäß § 7 AsylG 1997 in Spruchpunkt I. abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Asylwerbers in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 leg. cit. in Spruchpunkt II. des Bescheides für zulässig erklärt. Der Asylwerber wurde in Spruchpunkt III. des Bescheides gemäß § 8 Abs. 2 leg. cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
1.4. Mit rechtskräftigem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 12.02.2009, Zahl D7 302810-2/2008/9E, wurde der gegen diesen Bescheid eingebrachten Beschwerde stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit § 7 AsylG 1997, Asyl gewährt sowie gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Jener Entscheidung legte der Asylgerichtshof den folgenden entscheidungsmaßgeblichen individuellen Sachverhalt zugrunde:
„Von 1991 bis 1995 arbeitete der Beschwerdeführer bei einer Bewachungsabteilung der Miliz in XXXX . Im Jahr 1995 wurde der Beschwerdeführer verwundet in ein Krankenhaus eingeliefert. Er hatte damals Verwundete versorgt und war unter Beschuss geraten, als er dabei war drei Verletzte und drei Tote abzutransportieren. Seitdem hat der Beschwerdeführer eine Narbe am Kopf und es fehlt ihm ein Glied des linken Ringfingers. Nach der Genesung war es bis zum Jahr 1999 Aufgabe des Beschwerdeführers Kommunikationseinrichtungen im Bereich der Miliz in XXXX zu bewachen und zu schützen.
Ab dem Jahr 1999 fand der Beschwerdeführer auf Grund des Krieges und dessen Folgen keine Arbeit und ernährte seine Familie mit Hilfe einer kleinen Landwirtschaft.
Während der Tschetschenienkriege nahm der Beschwerdeführer nicht aktiv an Kampfhandlungen teil. Er nahm jedoch an politischen Versammlungen teil und hatte die Aufgabe als Chauffeur zu fungieren. Der Beschwerdeführer transportierte je nach Bedarf Lebensmittel, tschetschenische Kämpfer zu Objekten und Einsatzorten, verwundete Kämpfer aus den Kampfzonen und hochrangige tschetschenische Militärangehörige. Im zweiten Tschetschenienkrieg betreute die Schwiegermutter des Beschwerdeführers, sie war Ärztin, verwundete tschetschenische Kämpfer. Diese Tätigkeiten blieben für den Beschwerdeführer zunächst ohne Folgen. Er wurde zwar im Jahr 2001 kontrolliert, sein Name schien aber auf keiner Liste behördlich gesuchter Personen auf.
Im Jahr 2002 wurde der Beschwerdeführer jedoch von einem Bekannten, dieser ist Mitarbeiter des FSB, gewarnt, dass sein Name zwischenzeitlich auf einer Liste von gesuchten Personen aufscheinen würde. Der Beschwerdeführer geht davon aus, dass seine Unterstützung des tschetschenischen Widerstandes im Jahr 2002, aus ihm unbekannten Gründen, von jemandem aus der örtlichen Bevölkerung verraten wurde und russische Militärangehörige davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer Personen, die für den tschetschenischen Widerstand arbeiteten und die der Beschwerdeführer gefahren hatte, verraten könnte.
Nach dem Beschwerdeführer wurde mehrmals in seinem Haus gesucht. Der Beschwerdeführer konnte sich jedoch rechtzeitig vor Kontrollen, bei Säuberungsaktionen wurden regelmäßig ganze Straßenzüge besetzt und diese sprachen sich rasch herum, bei Freunden verstecken und lebte in ständiger Angst. Bei einer der Kontrollen im März 2002 wurden seine beiden Söhne XXXX mitgenommen, als man den Beschwerdeführer nicht zu Hause antraf. Nachdem die beiden Söhne des Beschwerdeführers, sie wurden während der Haft schwer misshandelt, konnten aber schließlich freigekauft werden, freigelassen wurden, hielten sie sich nicht länger zu Hause auf.
Am 22.11.2003 wurde wieder nach dem Beschwerdeführer gesucht. Weder der Beschwerdeführer noch seine beiden Söhne waren im Haus. Die Soldaten machten gegenüber der Ehegattin des Beschwerdeführers zweideutige sexuelle Anspielungen bezüglich der älteren Töchter des Beschwerdeführers und meinten, dass man diese statt dem Beschwerdeführer mitnehmen könne, wenn der Beschwerdeführer nicht anzutreffen sei. Die Ehegattin des Beschwerdeführers versuchte sich schützend vor ihre Töchter zu stellen und wurde deshalb brutal von den russischen Soldaten mit einem Gewehrkolben und Stiefeltritten misshandelt. Die Ehegattin des Beschwerdeführers begann laut zu schreien und war bereit ihr Leben für den Schutz ihrer Kinder zu opfern. Die heftige Reaktion der Ehegattin des Beschwerdeführers dürfte die Soldaten dazu bewegt haben, zu gehen, davor kündigten sie jedoch an, dass sie wieder kommen würden.
Unmittelbar nach dem Vorfall, packte die Ehegattin des Beschwerdeführers die nötigsten Sachen zusammen und übernachtete mit den Kindern im Haus ihrer Mutter. Am nächsten Tag fuhr sie zusammen mit den Kindern in das Nachbardorf, wo sich der Beschwerdeführer mit seinen beiden Söhnen aufhielt.
Zunächst hatte der Beschwerdeführer gehofft, dass sich die Lage beruhigen würde. Da dies aber nicht der Fall war reiste der Beschwerdeführer aus Angst um sein Leben und das Wohl seiner Familie, die wegen der Suche nach dem Beschwerdeführer in Gefahr war, am 23.11.2003 aus der Russischen Föderation aus. Die Familie reist über die Ukraine in die Slowakei. Schließlich reiste der Beschwerdeführer am 31.12.2004 nach Österreich.
Im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat fürchtet der Beschwerdeführer von russischen Soldaten und Mitarbeitern Kadyrows wegen seines Engagements für tschetschenische Kämpfer und seiner Kenntnis militärischer Verantwortlicher verhört und misshandelt, wenn nicht gar getötet, zu werden.“
In rechtlicher Hinsicht wurde gefolgert, dass auf Grund der festgestellten aktuellen Lage in der Russischen Föderation derzeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen sei, dass der Beschwerdeführer wegen seiner Unterstützung tschetschenischer Widerstandskämpfer in beiden Tschetschenienkriegen im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat, ebenso wie seine beiden Söhne, zumindest schwersten körperlichen Misshandlungen von russischen Soldaten und Mitarbeitern Kadyrows ausgesetzt wäre. Wegen der konkreten Gefährdung des Beschwerdeführers in Verbindung mit den Länderfeststellungen habe in seinem Fall keine innerstaatliche Fluchtalternative im Herkunftsstaat ermittelt werden können. Der Beschwerdeführer habe somit glaubhaft machen können, dass ihm in seinem Herkunftssaat Verfolgung wegen seiner zumindest unterstellten politischen Gesinnung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Es seien keine Hinweise hervorgekommen, wonach einer der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlusstatbestände eingetreten sein könnte.
2. Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten:
2.1. Mit Aktenvermerk vom 28.06.2019 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten wegen geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat ein und führte am 23.08.2019 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen des Parteiengehörs durch.
Der Beschwerdeführer gab im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache zusammengefasst zu Protokoll, er sei gesund und könnte jederzeit arbeiten. Er nehme zwei näher bezeichnete Medikamente für das Nervensystem aufgrund der bereits im Herkunftsstaat gestellten Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung ein. Der Beschwerdeführer sei im Jahr 1960 im Gebiet des heutigen Kasachstans geboren worden und sei im Alter von 13 Jahren infolge des Todes seines Vaters gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Tschetschenien übersiedelt, wo er die Schule besucht und eine Ausbildung zum Fließenleger absolviert hätte. Im Jahr 2003 sei er mit seiner Frau und seinen sechs Kindern nach Österreich geflohen. Im Herkunftsstaat habe er keine Angehörigen mehr, all seine Verwandten – seine Kinder und 12 Enkelkinder – seien hier. Drei Schwestern seiner Frau würden in Russland leben. Zu seiner Frau habe er jedoch keinen Kontakt mehr; als sie hierherkamen, hätte sich herausgestellt, dass sie ihn nicht mehr brauche. Sie würden sich zwar sehen, aber nicht im gemeinsamen Haushalt leben und keine Ehe führen. Zu seinen Kindern habe er natürlich Kontakt. Auf die Frage, welche aktuellen Befürchtungen er für den Fall einer Rückkehr in sein Heimatland hätte, erklärte der Beschwerdeführer (vgl. Verwaltungsakt, Seiten 23 f): „Ich fahre nicht zurück.“ Auf Wiederholung der Frage antwortete der Beschwerdeführer: „Meine Kinder sind alle hier.“ Nochmals gefragt, ob er Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr hätte, gab der Beschwerdeführer an, er wolle sich dies nicht einmal vorstellen. Er wisse ganz einfach, dass er dorthin nicht zurückkehre. Abermals gefragt, welche Befürchtungen er hätte, wenn er zurückkehren müsste, meinte der Beschwerdeführer „Ich bin ja hierhergefahren, weil es einen Grund gegeben hat.“ Nochmals nach seinen aktuellen Befürchtungen gefragt, antwortete der Beschwerdeführer, er sei zu einer Million Prozent sicher, dass er im Falle einer Rückkehr keine Woche überleben würde. Nach den diesbezüglichem Gründen gefragt, erklärte der Beschwerdeführer, er sei davon überzeugt, dass die Leute, die hier gewesen und abgeschoben worden wären, auch nicht mehr am Leben seien. Befragt, weshalb er dort nicht überleben würde, gab der Beschwerdeführer an, es habe ja bereits eine Asyleinvernahme gegeben, an welche er sich nicht mehr erinnern wolle. Auf nochmalige Wiederholung der Frage meinte der Beschwerdeführer, er könne nicht erraten, was genau passieren würde, er wisse nur, dass Leute dort verschwinden. Er sei zu hundert Prozent sicher, dass ihn niemand mehr lebend sehen würde. Auf die Frage, welche Befürchtungen er aktuell in Bezug auf die Niederlassung in einen anderen Teil seines Heimatlandes aufweisen würde, gab der Beschwerdeführer an, er wolle weder nach Russland, noch nach Tschetschenien. Auf Vorhalt, dass es nicht darum ginge, was er wolle, sondern, welche Befürchtungen er hätte, gab der Beschwerdeführer an, er sei zu 90 Prozent sicher, dass ihn niemand mehr lebendig sehen würde, weil Leute dort verschwinden. Warum genau er verschwinden würde, wisse er nicht; er könne dies nicht vorhersehen.
Zu seinem bisherigen Aufenthalt in Österreich gab der Beschwerdeführer an, er habe ein halbes Jahr gearbeitet und würde jede Arbeit annehmen. Seine Familie – sechs Kinder und zwölf Enkelkinder – sei hier. Seinen Lebensunterhalt bestreite er von Sozialhilfe. Er sei kein Mitglied in einem Verein, er sitze nur zu Hause. Manchmal bleibe er einen ganzen Monat zu Hause, manchmal ginge er raus. Während seines Aufenthalts habe er keine strafbaren Handlungen begangen. Auf Vorhalt der beiden dokumentierten Verurteilungen gab der Beschwerdeführer an, er sei nie im Gefängnis gewesen. Er habe eine Strafe bezahlt, da er mit einem jungen Tschetschenen gerauft hätte, welcher seine Mutter beleidigt hätte. Weiter Angaben habe er nicht zu machen.
2.2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 11.11.2019 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchteil I. der ihm mit Erkenntnis vom 12.02.2009 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 idgF aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchteil II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Die Entscheidung über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland keine Gefährdungs- oder Bedrohungslage zu befürchten hätte und er eine aktuelle Furcht vor Verfolgung in der Russischen Föderation nicht habe glaubhaft machen können. Anlässlich seiner Einvernahme vom 23.08.2019 habe er keine konkreten Befürchtungen vorgebracht. Den Länderberichten sei zu entnehmen, dass ehemalige Unterstützer keiner Verfolgung ausgesetzt seien, zudem lägen die vorgebrachten Fluchtgründe bereits 15 Jahre zurück und wiesen demnach keine Aktualität auf. Da der Beschwerdeführer keine aktuelle Gefährdungslage vorgebracht hätte und die objektive Lage in seiner Heimat eine Besserung erfahren hätte, sei eine aktuelle Gefährdungslage nicht glaubhaft gemacht worden. Da der Beschwerdeführer zwei strafgerichtliche Verurteilung wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhender Taten aufweise, stehe der Umstand, dass die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten bereits mehr als fünf Jahre zurückliege, einer Aberkennung des Status gemäß § 7 Abs. 1 AsylG 2005 nicht entgegen.
Der Beschwerdeführer habe keine glaubhaften Gründe vorgebracht, die ein Leben in der Russischen Föderation für ihn unzumutbar darstellen würden. Dieser könnte seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation als gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Der Beschwerdeführer habe Berufserfahrung, spreche Russisch und Tschetschenisch und sei mit den Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut, sodass ihm eine Wiedereingliederung möglich sein werde. Dieser leide an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen und sei arbeitsfähig. Es hätten seitens der Behörde keine exzeptionellen Umstände erkannt werden können, die einer in Art. 2 und/oder Art. 3 EMRK genannten Gefährdung gleichzuhalten wären und es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sein werde.
Gründe für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG hätten sich im Verfahren nicht ergeben.
Der Beschwerdeführer spreche nur wenig Deutsch und ginge zum Entscheidungszeitpunkt keiner Arbeit nach. Der Eingriff in das Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers erweise sich insofern als gerechtfertigt, als der Beschwerdeführer wegen gefährlicher Drohung und Körperverletzung verurteilt worden sei und durch die rasche Rückfälligkeit habe erkennen lassen, dass er den österreichischen Rechtsstaat nicht anerkenne. Bei einer Abwägung der privaten Interessen des Beschwerdeführers mit jenen der Öffentlichkeit bleibe somit nichts zu erkennen, das im Sinne des Beschwerdeführers zu bewerten wäre und gegen eine Rückkehrentscheidung spreche. Aufgrund der rechtskräftigen Verurteilungen stelle eine Fortsetzung des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit dar. Unrichtig sei, dass der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt im Herkunftsland bestreiten könnte. Dieser werde in den nächsten Monaten sein 60. Lebensjahr abschließen, sodass altersbedingt in Zusammenschau mit dessen gesundheitlichen Problemen nicht davon ausgegangen können werde, der Beschwerdeführer werde im Heimatland ins Arbeitsleben eintreten können.
Der dargestellte Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 15.11.2019 durch Hinterlegung zugestellt.
2.3. Mit am 09.12.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch den nunmehr bevollmächtigten Rechtsanwalt fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, es könne bei den vorliegenden Verurteilungen wegen Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Drohung nicht von der gleichen schädlichen Neigung ausgegangen werden. Tatsächlich wäre der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation einer Gefährdungs- bzw. Bedrohungslage ausgesetzt. Die Kombination aus kasachischer in Verbindung mit tschetschenischer Herkunft indiziere eine unverändert gegebene Bedrohungslage. Der Beschwerdeführer sei bereits vor seiner Flucht nach Österreich als von Kasachstan Vertriebener weder in Tschetschenien noch sonst wo in der Russischen Föderation anerkannt und integriert gewesen und er hätte bei den derzeitigen wirtschaftlichen Gegebenheiten und der weitreichenden Arbeitslosigkeit in Tschetschenien tatsächlich keine Chance, in ein Arbeitsverhältnis einzutreten. Der angefochtene Bescheid ginge auf die zugrunde gelegten Länderfeststellungen, demnach Menschrechtsverletzungen in Tschetschenien weiterhin an der Tagesordnung stünden, nicht ein. Unrichtig sei, dass die Gründe für die Zuerkennung des Asylstatus nicht mehr vorliegen würden. Da der Beschwerdeführer aufgrund seines fortgeschrittenen Alters seinen Unterhalt nicht durch eigene Arbeitstätigkeit bestreiten könne und aufgrund seiner langjährigen Abwesenheit keinen familiären Anschluss und keine Wohnmöglichkeit haben würde, sei die Situation für ihn als schlechter zu werten als für sonstige Bewohner der Russischen Föderation, sodass ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen wäre. Der Beschwerdeführer befände sich seit nahezu 16 Jahren rechtmäßig in Österreich, vor seinem ersten Fehlverhalten wären bereits die zeitlichen Voraussetzungen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft vorgelegen. Seine Ehegattin, seine sechs Kinder, deren Partner sowie zwölf Enkelkinder seien in Österreich aufhältig, wohingegen er in der Russischen Föderation keine näheren Verwandten hätte. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre dem Beschwerdeführer daher eine Aufenthaltsberechtigung „besonderer Schutz“ zu erteilen gewesen. Bei der Abwägung der privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers mit den Interessen der Öffentlichkeit hätte die Behörde zum Ergebnis gelangen müssen, dass die bereits drei bzw. vier Jahre zurückliegenden Verurteilungen wegen Körperverletzung zu einer zweiwöchigen bedingten Freiheitsstrafe sowie wegen gefährlicher Drohung zu einer Geldstrafe nicht geeignet seien, eine aktuelle Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit durch die Person des Beschwerdeführers zu begründen. Der Beschwerdeführer sei zwei Mal wegen geringfügigster Bagatelldelikte, die drei bis vier Jahre zurückliegen würden, verurteilt worden, sodass der durch die Rückkehrentscheidung begründete Eingriff jedenfalls als unverhältnismäßig hätte angesehen werden müssen.
2.4. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 16.12.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der Beschwerdeführer stellte infolge illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 31.12.2004 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit rechtskräftigem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 12.02.2009, Zahl D7 302810-2/2008/9E, wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt sowie gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, es könne aufgrund der aktuellen Lage in der Russischen Föderation derzeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer wegen seiner Unterstützung tschetschenischer Widerstandskämpfer in beiden Tschetschenienkriegen im Fall seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat zumindest schwersten körperlichen Misshandlungen von russischen Soldaten und Mitarbeitern Kadyrows ausgesetzt sein würde.
1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation zum Entscheidungszeitpunkt weiterhin aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Die objektive Lage im Herkunftsstaat hat sich seit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten maßgeblich verbessert.
Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Alter 44 Jahren verlassen hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist zu einer eigenständigen Bestreitung seines Lebensunterhaltes in der Lage. Der Beschwerdeführer befindet sich aufgrund einer Posttraumatischen Belastungsstörung in medikamentöser Behandlung.
1.3. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX Zahl XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Monaten verurteilt, welche ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden ist. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer eine Person gefährlich bedroht hatte, um diese in Furcht und Unruhe zu versetzen.
Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX Zahl XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagsätzen zu je EUR 4,-, im Fall der Uneinbringlichkeit, 50 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer ein nicht namentlich bekanntes Opfer vorsätzlich am Körper verletzt hatte, indem er dieses ins Gesicht schlug bzw. stieß, wodurch das Opfer starkes Nasenbluten erlitten hat.
Lt. Strafregisteranfrage ist das Datum der Auskunftsbeschränkung mit 03.02.2017 festgelegt.
1.4. In Österreich leben die ehemalige Lebensgefährtin des Beschwerdeführers sowie deren sechs gemeinsame (im Zeitraum zwischen 1985 und 2000 geborene) Kinder und zwölf Enkelkinder. Der Beschwerdeführer hat sich lediglich für einen kurzfristigen Zeitraum von rund zwei Monaten in einem Beschäftigungsverhältnis befunden und hat seinen Lebensunterhalt im Übrigen durch den Bezug staatlicher Unterstützungsleistungen bestritten. Er ist aktuell nicht selbsterhaltungsfähig, hat sich keine nachgewiesenen Deutschkenntnisse angeeignet und ist in keinen Vereinen Mitglied. Seinen Angaben zufolge verbringt er den Großteil seiner Zeit zu Hause.
Es kann nicht erkannt werden, dass durch einen weiteren Aufenthalt des Beschwerdeführers eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit entstehen würde.
1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:
…
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019
- BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
1.
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft. Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in Kabardino-Balkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 3.9.2019
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019
- DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 3.9.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).
Quellen:
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019
- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 6.8.2019
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019
- US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 6.8.2019
2.
Tschetschenien und Dagestan
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).
Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).
Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019
- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019
- AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 23.9.2019
- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 7.8.2019
- EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019
-
- HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 7.8.2019
- ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 7.8.2019
- US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019
Sicherheitsbehörden
Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl es Mechanismen zur Untersuchung von Misshandlungen gibt, werden Misshandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamte nur selten untersucht und bestraft. Straffreiheit ist weit verbreitet (US DOS 13.3.2018), ebenso wie die Anwendung übermäßiger Gewalt durch die Polizei (FH 4.2.2019).
Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 13.3.2019).
Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).
Die zivilen Behörden auf nat