Entscheidungsdatum
10.09.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W239 2146949-1/25E
W239 2146943-1/26E
W239 2146950-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Theresa BAUMANN als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) mj. XXXX , geb. XXXX , und 3.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.01.2017 zu den Zahlen 1.) XXXX , 2.) XXXX , und 3.) XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.12.2019 zu Recht erkannt:
A)
Den Beschwerden wird stattgegeben und 1.) XXXX 2.) mj. XXXX und 3.) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1.) XXXX , 2.) mj. XXXX und 3.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die (damals noch minderjährige) Erstbeschwerdeführerin, die (nach wie vor) minderjährige Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer, alle afghanische Staatsangehörige, reisten gemeinsam als Geschwister illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten hier am 29.10.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 30.10.2015 gaben die Beschwerdeführer übereinstimmend an, sie seien aus der Provinz Ghazni in Afghanistan, seien Angehörige der Volksgruppe der Hazara und zugehörig zum schiitischen Islam. Vor etwa zwei Jahren seien sie im Familienverband von Afghanistan in den Iran geflüchtet. Vor etwa drei Wochen hätten sie nun gemeinsam als Geschwister auch den Iran verlassen und seien nach Europa gekommen. Die Eltern sowie die Schwester XXXX seien nach wie vor in Teheran im Iran aufhältig.
Die Erstbeschwerdeführerin brachte als Fluchtgrund vor: „Afghanistan haben wir aus Angst vor einer paschtunischen Familie verlassen, diese waren „Kuchis“ und somit Taliban. Diese Familie hat um meine Hand für ihren Sohn angehalten. Mein Vater war nicht damit einverstanden, deshalb wurde er von ihnen im Brustbereich geschlagen, sodass er heute noch nicht arbeiten kann. Aus Angst flüchteten wir in den Iran. Den Iran haben wir verlassen, weil wir dort keine Dokumente hatten und weil wir ein besseres Leben haben wollen.“
Die Zweitbeschwerdeführerin gab zum Fluchtgrund an: „Soviel ich von meiner Familie gehört habe, haben wir Afghanistan verlassen, weil jemand meine Schwester XXXX heiraten wollte und mein Vater damit nicht einverstanden war. Deshalb wurde mein Vater von diesen Menschen geschlagen und wir sind dann in den Iran gezogen. Im Iran war das Leben für uns schwer, weil wir keine Dokumente hatten. Wir hatten Angst, dass die iranischen Behörden meinen Bruder nach Afghanistan abschieben.“
Der Drittbeschwerdeführer führte zum Fluchtgrund aus: „Afghanistan haben wir aus Angst vor einer „Kuchi“-Familie verlassen, diese Familie hat vor ca. zwei Jahren um die Hand meiner Schwester XXXX angehalten. Mein Vater lehnte diese Bindung ab, weil diese Familie eine „Kuchi“-Familie ist und sie somit auch Taliban sind. Deshalb wurde mein Vater von dieser Familie geschlagen. Wir flüchteten dann in den Iran. Den Iran verließ ich, weil ich dort keine Dokumente hatte und die iranischen Behörden die Afghanen nach Syrien in den Krieg schicken.“
2. Mit Beschluss des zuständigen Bezirksgerichts vom 02.06.2016 (vgl. Akt BF2, AS 55) wurde dem Drittbeschwerdeführer die Obsorge für seine damals beide noch minderjährigen Schwestern übertragen. Hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin ist die übertragenen Obsorge zum Entscheidungszeitpunkt nach wie vor aufrecht.
3. Am 17.01.2017 wurde der Drittbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte er im Wesentlichen vor, dass die Familie vor etwa 14 Jahren Afghanistan verlassen habe, um anschließend etwa zehn Jahre im Iran zu leben. Es sei dies die Entscheidung des Vaters gewesen. Hätten sie im Iran Dokumente gehabt, wäre die Situation dort tatsächlich besser gewesen als in Afghanistan. Der Vater sei letztlich allerdings nach Afghanistan angeschoben worden, sodass auch der Rest der Familie wieder dorthin übersiedelt sei, um gemeinsam leben zu können. In Afghanistan hätten sie Probleme mit den Taliban bekommen, da ein Mann aus der Taliban-Gruppe für seinen Sohn um die Hand seiner Schwester angehalten habe. Der Vater habe das nicht gewollt und so sei es zu einem Konflikt gekommen. Im Zuge eines Streits habe ein Taliban mit dem Kolben seines Gewehrs den Vater auf die Brust geschlagen. Nach etwa eineinhalb Monaten, in denen sich der Vater erholen habe können, sei die Familie dann wieder in den Iran gegangen. Dort habe ein Arzt festgestellt, dass der Vater einen Knochenbruch erlitten habe. Den Iran habe der Drittbeschwerdeführer mit seinen beiden Schwestern Richtung Europa in der Hoffnung auf ein besseres Leben und eine Zukunft verlassen.
Vorgelegt wurden folgende Unterlagen:
- Bestätigung Institut für Talenteentwicklung, Deutschkurs A2 (07.11.2016-15.12.2016)
- Bestätigung Deutschkurs vom 11.01.2017
- Handschriftliches Unterstützungsschreiben vom 16.01.2017
- Bestätigung der Deutschlehrerin vom 10.01.2016
- Bestätigung der Vereinszugehörigkeit, außerordentliches Mitglied im Sportverein
4. Am 20.01.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem BFA statt.
Die Erstbeschwerdeführerin gab dabei zusammengefasst an, die Familie sei erstmals vor etwa 14 Jahren in den Iran gezogen, als sie selbst noch sehr jung gewesen sei. Dann seien sie nach Afghanistan zurückgegangen, weil der Vater vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden sei und die Familie dann nachgekommen sei; zuletzt hätten sie wieder in Iran gelebt. Im Iran habe sie viereinhalb Jahre die Grundschule besucht, habe bei einer Freundin das Handwerk der Schneiderin erlernt und habe im Iran zuhause als Schneiderin gearbeitet. In Afghanistan habe sie nicht gearbeitet, sondern im Haushalt mitgeholfen. Des Weiteren machte die Erstbeschwerdeführerin nähere Angaben zum Vorfall in Afghanistan, bei dem um ihre Hand angehalten worden sei und der die Familie dazu veranlasst habe, wieder in den Iran zu ziehen.
Vorgelegt wurden folgende Unterlagen:
- Kopie einer schlecht lesbaren Tazkira
- Bestätigung Vorbereitungslehrgang zum Pflichtschulabschluss vom 09.01.2017
- Bestätigung Deutschkurs (Jänner bis Dezember 2016) vom 14.01.2017
- Bestätigung der Deutschlehrerin vom 10.01.2016
Die Zweitbeschwerdeführerin gab über Nachfrage im Wesentlichen an, dass sie im Iran eine Schule besucht habe; in Afghanistan sei sie nur zuhause gewesen. Sie habe gehört, dass ein Mann ihre Schwester heiraten habe wollen, weshalb die Familie Afghanistan wieder verlassen habe. Sie wisse zu diesem Vorfall nichts Näheres, da sie damals noch sehr jung gewesen sei.
Vorgelegt wurde:
- Bestätigung über den Besuch einer neuen Mittelschule vom 12.01.2017
5. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des BFA vom 25.01.2017 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihnen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde verfügt, dass die Frist für ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
6. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer durch ihre Vertretung fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.
7. Am 16.12.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprachen Dari und Farsi und im Beisein der Vertretung der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung statt. Dabei wurden die Gründe für die Ausreise der Beschwerdeführer aus Afghanistan bzw. dem Iran ebenso erörtert wie die gegenwärtigen privaten und persönlichen Lebensverhältnisse in Österreich, insbesondere jene der Erstbeschwerdeführerin und der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin, sowie die umfassenden Integrationsbemühungen aller Beschwerdeführer.
Seitens des Bundesverwaltungsgerichts wurden folgende Berichte ins Verfahren eingebracht:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Gesamtaktualisierung: 13.11.2019)
- Analyse der Staatendokumentation vom 02.07.2014: Frauen in Afghanistan
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 18.09.2017: Afghanistan, Frauen in urbanen Zentren
- UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 30.08.2018
- EASO Country Guidance: Afghanistran, Juni 2019
Bereits in Vorbereitung zur mündlichen Verhandlung wurden dem Bundesverwaltungsgericht mit Eingaben vom 21.11.2019, vom 10.12.2019 und vom 11.12.2019 zahlreiche Integrationsunterlagen (Teilnahmebestätigungen, Deutschzertifikate, Schulzeugnisse etc.) und Unterstützungsschreiben übermittelt.
In der Verhandlung selbst wurden weitere Unterstützungsschreiben, ein Konvolut an Fotos zu diversen Freizeitaktivitäten mit österreichischen Freunden sowie ein Zertifikat Deutsch B2 und der Nachweis von Eigenleistungen sowie von ehrenamtlicher Tätigkeit beim österreichischen Alpenverein (beides betreffend den Drittbeschwerdeführer) vorgelegt.
Nach der Verhandlung bis zum Entscheidungszeitpunkt langten am 26.02.2020, am 22.07.2020 und am 27.08.2020 zahlreiche weitere Unterlagen zur Integration der Beschwerdeführer, insbesondere zu den schulischen Erfolgen (Semesterzeugnisse etc.), beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit Parteiengehör vom 19.08.2020 wurde den Beschwerdeführern seitens des Bundesverwaltungsgerichts die aktuellere Fassung des bereits ins Verfahren eingebrachten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan übermittelt (Gesamtaktualisierung: 13.11.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 21.07.2020). Dazu, insbesondere zur aktuellen Situation in Afghanistan in Zusammenhang mit COVID-19, wurde mit Eingabe vom 26.08.2020 Stellung bezogen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören zur Volksgruppe der Hazara und zur Untergruppe der Sadat und bekennen sich zum schiitischen Islam. Die Beschwerdeführer sind Geschwister; der Drittbeschwerdeführer hat die Obsorge für die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin inne.
Die Beschwerdeführer stammen aus der Provinz Ghazni, wo sie geboren wurden und die ersten Lebensjahre bzw. -monate verbrachten, bis sie im Jahr 1382 (2003) im Familienverband in den Iran übersiedelten und dort gemeinsam mit ihren Eltern und einer weiteren Schwester zunächst bis Ende 1390 (2011) lebten. Da der Vater vom Iran nach Afghanistan abgeschoben wurde, verließ auch die restliche Familie kurzzeitig wieder den Iran, um für einige Monate nach Afghanistan zurückzukehren. Letztlich verlegte die Familie ihren Wohnsitz wieder in den Iran. Im Jahr 1394 (2015) gelangten die Beschwerdeführer schlepperunterstützt gemeinsam nach Europa; die Eltern sowie eine weitere Schwester sind nach wie vor in Teheran im Iran aufhältig. Am 29.10.2015 stellten die Beschwerdeführer in Österreich die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari, sie verstehen auch Farsi, zusätzlich dazu sprechen die Beschwerdeführer alle sehr gut Deutsch. Die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer sprechen bzw. lernen in der Schule zudem Englisch, die Zweitbeschwerdeführerin lernt in der Schule als weitere Fremdsprache Französisch.
Die Erstbeschwerdeführerin hat im Iran fünf Jahre lang eine afghanische Grundschule besucht und in Österreich den Hauptschulabschluss gemacht. Danach bekam sie Angebote für Lehrstellen im Bereich Elektrotechnik bzw. als Zahnarztassistentin, die sie jedoch nicht antreten konnte. Derzeit besucht sie eine HTL, Fachrichtung Elektrotechnik, und möchte diese mit Matura abschließen, um sich danach als Zahnarztassistentin oder Augenoptikerin ausbilden zu lassen.
Die Zweitbeschwerdeführerin hat im Iran eine afghanische Grundschule besucht. Im Bundesgebiet besucht sie derzeit eine HAK, die sie mit Matura abschließen möchte, um danach studieren zu können.
Der Drittbeschwerdeführer hat in Afghanistan eine Koranschule besucht und dort Lesen und Schreiben gelernt. Ansonsten hat er weder in Afghanistan noch im Iran eine weitergehende Schul- oder Berufsausbildung gemacht. Er hat in der Landwirtschaft, auf Baustellen und als Teppichknüpfer gearbeitet. In Österreich hat der Drittbeschwerdeführer zuerst Deutsch gelernt und dann den Pflichtschulabschluss gemacht. Derzeit besucht er eine Abend-HTL, die er mit Matura abschließen möchte, um sich danach im Bereich Metalltechnik ausbilden zu lassen.
Die Beschwerdeführer sind gesund und in Östrreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zur Situation der Erstbeschwerdeführerin und der mj. Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:
Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine selbstständige junge Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise mittlerweile an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Die Erstbeschwerdeführerin hat den Hauptschulabschluss gemacht, spricht sehr gut Deutsch, besucht derzeit eine HTL und möchte diese mit Matura abschließen, um eine weitergehende Berufsausbildung absolvieren zu können. Sie strebt an, einen Beruf auszuüben, um in Österreich berufliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. In ihrer Freizeit trifft sie sich regelmäßig mit österreichischen Freundinnen und Freunden bzw. mit Bekannten. Sie geht gerne Schwimmen und Fahrrad fahren. Seit etwa zwei Jahren trägt sie kein Kopftuch mehr; ihr Kleidungsstil entspricht westlicher Mode. Die Erstbeschwerdeführerin bewältigt ihren Alltag in Österreich selbstständig und sieht sich als gleichberechtigt neben ihrem großen Bruder an. Gemeinsam mit diesem ist sie bestrebt, der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin unterstützend zur Seite zu stehen, ohne sie in ihren Entscheidungungen zu bevormunden. Die von der Erstbeschwerdeführerin angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie kann sich nicht mehr vorstellen, nach konservativ-afghanischen Traditionen zu leben. Die persönliche Haltung der Erstbeschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.
Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um ein junges selbstständiges Mädchen, das in seiner Wertehaltung und seiner Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie kleidet sich nach westlicher Mode, hat vor etwa zwei Jahren das Kopftuch abgelegt, um sich von ihren österreichischen Freundinnen nicht zu unterscheiden, spricht bereits sehr gut Deutsch, besucht derzeit eine HAK und möchte nach dem Schulabschluss studieren. Sie strebt an, einen Beruf auszuüben, um in Österreich berufliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. Zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zählen (jugendliche) Männer wie Frauen, mit denen sie sich in der Freizeit trifft, um beispielsweise Ausflüge zu unternehmen, Feste zu feiern oder sich auch ehrenamtlich zu engangieren. Die von der Zweitbeschwerdeführerin angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die persönliche Haltung der Zweitbeschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.
Der Drittbeschwerdeführer hat ebenso wie seine beiden Schwestern bereits beachtliche Integrationsschritte in Österreich gesetzt. Er hat hier die deutsche Sprache erlernt, um anschließend den Pflichtschulabschluss zu machen, und besucht derzeit eine Abend-HTL. In seiner Freizeit geht er gerne Wandern und treibt Sport; er ist Mitglied beim Alpenverein, wo er sich auch ehrenamtlich engagiert. Als Obsorgeberechtigter für die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin ist er darum bemüht, dass sie in Österreich eine gute Schul- und Berufsausbildung erhält, damit sie ein selbstbestimmtes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen kann. In dieser Hinsicht wird sie von ihm aktiv unterstützt.
Das Verhältnis der Geschwister ist von gegenseitigem Respekt geprägt und es besteht untereinander eine starke Bindung. Sie unterstützen sich gegenseitig, wobei dem Drittbeschwerdeführer als älterem Bruder und Obsorgeberechtigtem (mittlerweile nur mehr) für die Zweitbeschwerdeführerin - seinem Verständis nach - die besondere Rolle zukommt, sich um seine jüngeren Schwestern zu kümmern. Diese Rolle nimmt er auf verantwortungsvolle Weise wahr, ohne sie in ihren Entscheidungen zu bevormunden. Die Geschwister leben gemeinsam in einer Mietwohnung und beschreiben ihre Situation als gleichberechtigte, familiäre Wohngemeinschaft, wobei die Erstbeschwerdeführerin selbständig die Verwaltung der finanziellen Angelegenheiten und die Einkäufe übernimmt. Die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer helfen im Haushalt mit.
Der Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Wertehaltung eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen.
Vom afghanischen Staat können sie keinen effektiven Schutz erwarten.
Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat Afghanistan:
Die Feststellungen zur Lage in Afghanistan stützen sich (auszugsweise) auf das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020):
Politische Lage
(Letzte Änderung: 18.05.2020)
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern:
dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politischprogrammatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).
Das Abkommen mit den US-Amerikanern
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungsund Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).
Quellen:
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Sicherheitslage
(Letzte Änderung: 22.04.2020)
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und USAmerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RSMission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den USAmerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
(…)
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RSMission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide