TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/10 W155 2181870-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.09.2020
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Entscheidungsdatum

10.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W155 2181870-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KRASA über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX (alias XXXX ), Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan, vertreten durch RA XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. XXXX wird eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 10.09.2021 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF), reiste gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern aus dem Iran aus und nach Aufenthalten in der Türkei, Griechenland und anderen europäischen Ländern unter Umgehung der Einreisebestimmungen in die Republik Österreich ein und stellte am 20.01.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Eltern des BF stellten am 10.01.2015 bzw. 23.05. 2015 für sich und die 5 minderjährigen Geschwister einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der polizeilichen Erstbefragung am Tag der Antragstellung gab der BF an, im Iran geboren und aufgewachsen zu sein. Die Familie wäre im Iran schlecht behandelt worden und sei deshalb nach Europa geflüchtet, um ein neues Leben zu beginnen. Zu seinem Herkunftsstaat Afghanistan könne er keine Angaben machen.

Am 13.10.2017 wurde der BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen. Der BF wiederholte im Wesentlichen die Angaben zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache und zum Herkunftsstaat. Ergänzend verwies er bezüglich Afghanistan auf die Fluchtgründe seiner Eltern und die zugrundeliegende Geschichte, die die Eltern erzählt hätten. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre sein Leben als junger Mann in Gefahr, es könne jederzeit eine Bombe explodieren. Im Übrigen führte er über die Lebenssituation im Iran aus. Seine Integrationsbemühungen belegte er mit verschiedenen Unterlagen.

Mit dem im Spruch genannten Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Sie erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ eine Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde.

Am 18.12.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in Anwesenheit der ausgewiesenen Rechtsvertreterin, eines Dolmetschers für die Sprache Dari/Farsi und einer Vertrauensperson der Familie eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer sein Beschwerdeverfahren mit den Beschwerdeverfahren seiner Eltern und seiner Geschwister zur gemeinsamen Verhandlung verbunden wurden. Der BF wurde zu seinen Familien- und Lebensverhältnissen im Iran, in Afghanistan und Österreich befragt, sowie zu den Beweggründen zur Ausreise aus Afghanistan bzw. dem Iran und allfälligen Rückkehrbefürchtungen. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht teil.

Als Beilage wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen, Zeugnissen, Schulbesuchsbestätigungen (Beilage /F) und weitere Empfehlungsschreiben für die gesamte Familie zu den Akten genommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen und das genannt Geburtsdatum. Er ist Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan, seine Identität steht mangels Dokumenten nicht fest. Er ist Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zum schiitischen islamischen Glauben, den er nicht regelmäßig praktiziert. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er spricht auch Farsi. Seine Eltern stammen aus der afghanischen Provinz XXXX . Er wurde im Iran, XXXX geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern auf. Er besuchte die Volks- und Hauptschule, hat aber keinen Schulnachweis. Er erlernte keinen Beruf. In Afghanistan hat er sich vorübergehend (ca. 11 Monate) aufgehalten. Sein Vater hat auf Baustellen gearbeitet.

Der BF ist im Iran nach der afghanischen Kultur sozialisiert und mit afghanischen Gepflogenheiten vertraut. Er hat keine Familienangehörige in Afghanistan. Dem Beschwerdeführer kann keine „Heimatprovinz“ im eigentlichen Sinn zugewiesen werden.

Zur Situation in Österreich

Der BF lebt seit 5 ½ Jahren im Bundesgebiet mit seiner Kernfamilie, seit seiner Lehrausbildung nicht mehr im gemeinsamen Haushalt. Er hat Deutschkenntnisse auf dem Niveau ÖSD B1 und konnte sich in der Beschwerdeverhandlung sehr gut auf Deutsch verständlich machen. Er hat die 9. Schulstufe der Polytechnischen Schule (Fachbereich Metall) iS des § 25 SchUG nicht erfolgreich abgeschlossen. Er befindet sich seit 11.06.2018 in einem Lehrverhältnis (Ausbildung zum Schalungsbauer), das voraussichtlich bis 10.06.2021 dauert. Sein Berufswunsch ist allerdings Polizist zu sein. In seiner Freizeit bzw. am Wochenende trifft er sich BF mit seinen Freunden bzw. seiner Freundin zu gemeinsamen Unternehmungen (Kino, Billard spielen, Schwimmen). Der BF betreibt Sport (Thaiboxen). Er hat an verschiedenen Integrationsveranstaltungen teilgenommen (ua. Orientierungs- und Wertekurs, Junior Basic Company ua).

Der BF ist ledig, arbeitsfähig und gesund und gehört keiner Risikogruppe gemäß COVID-19 an.

Er ist strafrechtlich unbescholten.

Mit Erkenntnissen des BVwG vom heutigen Tage zu W155 2182028-1/ XXXX , W155 2181868-1/ XXXX , W155 2181869-1/ XXXX , W155 2182029-1/ XXXX , W1552181871-1/ XXXX , W155 2182020-1/ XXXX , W155 2182025-1/ XXXX , wurden den Beschwerden seiner Eltern und Geschwister gegen die Abweisung ihrer Anträge auf internationalen Schutz stattgegeben und ihnen der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers und seinen Rückkehrbefürchtungen

Der BF war im Alter von ungefähr 9 oder 10 Jahren für ungefähr ein Jahr in Afghanistan aufhältig. Die Fluchtgründe seiner Familie aus Afghanistan kennt der BF nicht oder nur aus Erzählungen seiner Eltern.

Weder der BF noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von Taliban oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht.

Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Der BF war in seinem Herkunftsstaat keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle ihrer/seiner Rückkehr, zu befürchten.

Der BF wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht oder angegriffen, es droht ihm auch künftig keine psychische und/oder physische Gewalt von staatlicher Seite, und/oder von Aufständischen, und/oder von sonstigen privaten Verfolgern in seinem Herkunftsstaat.

Der BF verließ den Iran mit seinen Eltern auf Grund der schwierigen Lebensbedingungen für dort lebende Afghanen.

Zur Rückkehrmöglichkeit

Dem BF könnte bei einer Rückkehr in die Heimatprovinz seiner Eltern XXXX aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Dem BF ist eine Rückkehr bzw. (Neu-)Ansiedlung in Afghanistans aufgrund seiner individuellen Umstände in Zusammenschau mit den COVID-19 Pandemie bedingten wirtschaftlichen Situation und den damit für Rückkehrer verbundenen Einschränkungen in den Städten Mazar-e Sharif und Herat aktuell nicht zumutbar.

Im Falle einer Rückkehr wird der Beschwerdeführer zu Beginn nur Gelegenheits- oder Hilfsarbeiten annehmen können. Durch die COVID-19 bedingten Lock-downs in den Städten Herat und Mazar-e Sharif ist es gerade für Gelegenheitsarbeiter besonders schwierig, Arbeit und Unterkunft zu finden. Die Nahrungsmittelpreise sind in den letzten Monaten massiv gestiegen.

Der Beschwerdeführer lebte seit seiner Geburt bis auf einen einjährigen Aufenthalt in Afghanistan bis zu seiner Ausreise im Iran und verfügt in Afghanistan über kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Er hat insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat keine unterstützungswilligen Verwandten, dabei wird nicht verkannt, dass der BF möglicherweise Unterstützung von seiner Familie aus Österreich erhalten könnte. Der BF hat zwar eine Schulbildung, aber keine Berufserfahrung, er befindet sich in Österreich aktuell in einer Lehrausbildung.

Aufgrund der individuellen Umstände kann nicht davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan insbesondere bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren ua. auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, unter Berücksichtigung der Entwicklungen zur COVID 19 Pandemie,

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2018 und 2019 (EASO)

Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).

Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 22.1).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 17.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 17.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 17.3).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 16.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 16.1).

Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Haqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).

Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz:

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).

Al-Qaida:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 2).

Provinzen und Städte

Herkunftsprovinz Kunduz

Kunduz liegt im Norden Afghanistans. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara, Aymaq und Pashai. Die Provinz hat 1.113.676 Einwohner (LIB, Kapitel 3.19).

Die Sicherheitslage der Provinz hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Einige Distrikte stehen weitgehend oder vollständig unter der Kontrolle der Taliban. In den vergangenen Monaten sind Zellen der Islamischen Staates in der nördlichen Provinz Kunduz aufgetaucht. In Kunduz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Bei diesen werden unter anderem auch Aufständische getötet und Luftangriffe durchgeführt. Es kam auch zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den Sicherheitskräften. Im Jahr 2018 gab es 337 zivile Opfer (105 Tote und 232 Verletzte) in der Provinz Kunduz. Dies entspricht einem Rückgang von 11% gegenüber 2017. Die Hauptursachen für Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und IEDs (LIB, Kapitel 3.19).

In der Provinz Kunduz reicht eine „bloße Präsenz“ in dem Gebiet nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 22).

Situation für Rückkehrer/innen

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 23).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 23).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 23).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 23).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 23).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 23).

Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 23).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 23).

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF in der Erstbefragung und vor der belangten Behörde, in den bekämpften Bescheid und den Beschwerdeschriftsatz sowie durch Abhaltung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Herkunft, Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, den Sprachkenntnissen des BF, seiner Schulbildung, seinem Lebenslauf im Iran und seinem Aufenthalt in Afghanistan ergeben sich aus den im gesamten Verfahren gleichbleibenden und plausiblen Angaben des BF. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des BF gelten ausschließlich zur Identifizierung seiner Person im Asylverfahren.

Der BF konnte sein Geburtsdatum bei der Ersteinvernahme mangels Dokumenten nicht belegen. Die Erstaufnahmestelle ist zunächst von einem Alter von 16 Jahren ausgegangen und setzte das Geburtsdatum mit XXXX fest. Auf Grund des geringen Abstandes zum Geburtsdatum 14.05.1999 seines Bruders Mahdi, das sich aus dessen Reisepass ergibt, wurde von der belangten Behörde das aktuelle Geburtsdatum XXXX festgelegt. Dieses ergibt sich aus der Aktenlage und den Aussagen des Vaters im behördlichen Verfahren, wonach er 1373 geheiratet habe und der Aussage der Mutter, wonach sie 2 Jahre nach der Hochzeit den BF geboren habe (AS 158, Verfahrensakt Vater, AS 56, Verfahrensakt Mutter) sowie den geschilderten Lebenslauf des BF in seinen Einvernahmen. Die in der Beschwerdeverhandlung vorgelegte eidesstattliche Erklärung, dass der BF zu Neujahr 1376 (= 21.03.1997) im Iran auf die Welt gekommen und daher zum Zeitpunkt seiner Einreise in Österreich am 20.01.2015 noch minderjährig gewesen sei, ist für das Gericht in keiner Weise nachvollziehbar. Da die Mutter des BF schon bei seiner Erstbefragung anwesend war, hätte sie schon damals das Datum der Geburt des BF - das ja sehr konkret ist (Neujahr 1376) - angeben können. Auch im weiteren Verfahrensverlauf haben die Eltern des BF keine bestimmten Angaben zum Geburtsdatum gemacht. Auch konnte die Mutter des BF in ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde das genaue Datum ihrer Heirat nicht nennen („Als ich 19 Jahre alt war, habe ich geheiratet. Genaues Datum weiß ich nicht mehr“, AS 56). Wieso sie sich 3 Jahre später erinnern kann, dass sie Ende 1373 geheiratet hat, ist nicht plausibel und schlüssig. Es wird daher den Ausführungen der belangten Behörde gefolgt und das Geburtsdatum des BF mit XXXX angenommen.

Die Feststellung zur Sozialisierung des BF nach den afghanischen Gepflogenheiten im Iran, ergibt sich daraus, dass er nahezu sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise nach Europa im Iran innerhalb mit seiner afghanischen Familie aufgewachsen ist.

Zur Situation in Österreich

Die Feststellungen zum Leben des BF in Österreich, insbesondere zur Aufenthaltsdauer, seinen Deutschkenntnissen, seiner Integration in Österreich, seinem Gesundheitszustand, stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie auf die von ihm in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

Zum Fluchtvorbringen und zu den Rückkehrbefürchtungen

Der BF brachte keine eigenen Fluchtgründe vor, er ist im Iran geboren und aufgewachsen und mit seinen Eltern und Geschwistern nach Europa geflüchtet, weil sie dort als Afghanen Anfeindungen bzw. Diskriminierungen durch die iranische Bevölkerung gegenübergestanden sind. Warum seine Familie nach einem ca. einjährigen Aufenthalt Afghanistan verlassen und sich wieder im Iran angesiedelt hat, konnte der BF jedoch nicht substantiiert und konkret darlegen. Er war zu diesem Zeitpunkt noch im Kindesalter und verfügte über keine eigenen Wahrnehmungen zu den Ausreisegründen, sondern bezog sich auf Erzählungen seiner Eltern. Er erwähnte, dass sein Onkel gestorben und Afghanistan gefährlich sei. Der BF legte im Verfahren keine konkreten Verfolgungsgründe seiner Familie oder seiner Person in Afghanistan dar. Es wurden auch keine Probleme von Familienangehörigen oder sonstigen Personen aus dem Umfeld des BF in Afghanistan von ihm geltend gemacht, woraus sich bei einer weiteren Prüfung eventuell eine Verfolgung des BF ableiten hätte lassen können. Im Übrigen wurde im oben genannten Erkenntnis des BVwG dem Fluchtvorbringen seiner Eltern kein Glaube geschenkt.

Ebenso wenig vermochte der Beschwerdeführer eine individuelle Gefährdungslage in Bezug auf seine Zugehörigkeit als Hazara und Schiit aufzuzeigen. Seine Antworten waren nur allgemein gehalten („wenn man Pech hat, explodiert eine Bombe“, „als junger Mann hätte ich kein gutes Leben“ udgl., AS 63). Eine allgemeine systematische Verfolgung aller Hazara oder aller Rückkehrer durch die Taliban kann auf Basis der Berichtslage nicht erkannt werden.

Die Feststellungen, wonach dem BF auf Grund seines mehrjährigen Aufenthaltes in Europa keine konkret gegen ihn gerichtete physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan droht, gehen ebenso aus den Länderberichten hervor.

Zur Situation im Herkunftsstaat und Rückkehrmöglichkeiten

Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz XXXX ergeben sich aus den oben angeführten Länderberichten.

Die Länderfeststellungen beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten, insbesondere dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, das basierend auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger unbedenklicher Quellen einen in den Kernaussagen schlüssigen Überblick über die aktuelle Lage in Afghanistan gewährleistet.

Zur Seriosität des beweiswürdigend herangezogenen und teilweise wiedergegebenen Berichtsmaterials ist auszuführen, dass diese länderkundlichen Informationen (Länderinformationsblatt, UNHCR-Richtlinien, Country Guidance), einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat durchliefen. Die Staatendokumentation der belangten Behörde ist insbesondere nach § 5 Abs. 2 BFA-G verpflichtet, die gesammelten Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten (allgemeine Analyse) und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Auch das European Asylum Support Office (EASO) ist nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgenden Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet. Weiter ist nach der schon zitierten Rechtsprechung des VwGH den UNHCR-Richtlinien besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“; zuletzt VwGH 23.01.2019, Ra 2018/18/0521 mwN). Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Feststellungen daher auf die bereits zitierten Quellen, wobei anzumerken ist, dass diese zu den fallrelevanten Gesichtspunkten ein insgesamt übereinstimmendes Bild zur Situation im Herkunftsstaat zeichnen, mögen sie auch im Detailgrad – wie oben im Einzelfall berücksichtigt – eine unterschiedliche Tiefe aufweisen.

Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde gelegt wurden, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung von anderen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichten aktuelleren Datums – insbesondere in Bezug auf die COVID-19 Pandemie – für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

Die Feststellung, dass der BF in Afghanistan über kein unterstützungsfähiges und -williges familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, entspricht seinen eigenen Angaben und der Tatsache, dass sich seine Eltern und Geschwister in Österreich aufhalten.

Die Feststellung zu den Folgen einer Niederlassung des BF in Mazar-e Sharif und Herat ergibt sich insbesondere aus einer Zusammenschau der individuellen Umstände und Merkmale, die der BF in seiner Person vereint.

Maßgebliche Faktoren für die Frage, ob sich der Beschwerdeführer im Fall einer Rückführung nach Herat (Stadt) Lebensgrundlage wird aufbauen können, sind insbesondere Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten, sozialer und ökonomischer Hintergrund, Bildungshintergrund, Zugang zu einem sozialen Unterstützungsnetz-werk und Religion (EASO Country Guidance, Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapi-tel V. Internal protection alternative, Unterabschnitt Reasonableness to settle, S. 105) .

Im gegenständlichen Verfahren nahm das erkennende Gericht eine individuelle Einzelfallprüfung vor, wie sie sowohl von EASO als auch von UNHCR für die Annahme einer Rückkehr-möglichkeit oder einer innerstaatlichen Flucht- und Schutzalternative gefordert wird. Zweifellos handelt es sich beim BF um einen „young, abled man“ mit Schulbildung und Auslandserfahrung, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann.

Der Beschwerdeführer wurde jedoch im Iran geboren und hat vergleichsweise nur eine kurze Zeit in Afghanistan gelebt, weswegen in seinem Fall nicht davon ausgegangen werden kann, dass er mit den dortigen örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten sowie den Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuchen vertraut ist. Dadurch, dass er die die Sozialisation prägenden Jahre seines Lebens im Iran verbracht hat und folglich dort sozialisiert wurde, kann davon ausgegangen werden, dass der BF im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan gezwungen wäre, sich als Fremder im eigenen Land niederzulassen. Durch den langen Aufenthalt im Iran entspricht es der Erfahrung und ist davon auszugehen, dass der BF eine entsprechende Sprachfärbung aufweist, die ihn mit den im Iran aufhältigen Afghanen in Zusammenhang bringt. Bedingt dadurch ist der BF als Rückkehrer nach langer Abwesenheit erkennbar, wobei sich aus den vorliegenden Informationen ergibt, dass der BF deshalb mit Diskriminierungserfahrungen wird rechnen müssen (EASO Country Guidance, Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel II. Refugee sta-tus, Unterkapitel 17. 21. Individuals who were born in Iran or Pakistan and/or who lived the-re for a long period of time, S. 66 f.) Diese erreichen freilich nicht jene Dichte, dass der BF im Fall einer Rückkehr mit gravierenden Übergriffen zu rechnen hätte, stellen aber den vorliegenden Informationen zufolge eine Erschwernis etwa bei der Unterkunfts- und Arbeitssuche dar. Weiters stellt das „soziales Kapital“ die wichtigste Ressource für Rückkehrer dar, wobei die Großfamilie als die zentrale Institution in Afghanistan bezeichnet wird. Sie gewähre Schutz, Betreuung und Versorgung und bilde eine wirtschaftliche Einheit. Die Männer der Familie treffe die Pflicht, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen. Ein solches Netzwerk sei für das Überleben in Afghanistan wichtig und sein Fehlen stelle die größte Herausforderung für Rückkehrer dar. Insbesondere lässt sich aus dem EASO Bericht Afghanistan Netzwerke von Jänner 2018 entnehmen, dass der Zugang zu sozialen Netzen als zentrale Voraussetzung für die Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens und insbesondere die Teilnahme am Arbeitsmarkt im Fall einer Niederlassung im Herkunftsstaat bedeutsam ist. Auf ein solches Netzwerk kann der BF, im Herkunftsstaat nicht zurückgreifen. Insbesondere besteht kein Hinweis auf etwaige in Afghanistan aufhältige Angehörige des BF

Im Bericht von ACCORD, Afghanistan: Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif (Provinz Balkh) und Kabul 2010-2018 vom 07.12.2018 wird berichtet, dass der Zugang zu Arbeitsplätzen auf dem schrumpfenden Arbeitsmarkt von Kontakten abhängt und dass insbesondere Rückkehrende aus Europa und dem Iran keine Arbeit finden würden, wenn sie keine soliden sozialen Kontakte hätten. Wichtigster Faktor bei der Personalauswahl sei Vertrauen (siehe Kapitel 2.5. Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktzugang, S. 123 ff.).

Demnach ist der Zugang des BF zum Arbeitsmarkt bedingt dadurch, dass er über kein soziales Netzwerk verfügt, stark erschwert. Durch die Inanspruchnahme der nach den vorliegenden Länderinformationen grundsätzlich verfügbaren Rückkehrhilfe (Länderinformationsblatt, Kapitel Rückkehr) könnte der BF höchstens sehr kurzfristig das Auslangen finden und wird insbesondere nur für Kabul berichtet, dass etwa Unterkünfte speziell für Rückkehrer verfügbar sind. Hinzu kommt die allgemein prekäre – die alle afghanischen Staatsangehörigen, aber in besonderem Maße jene ohne familiären Rückhalt trifft – Versorgungslage vor allem im Hinblick auf den Zugang zu Arbeit und Wohnraum. Das Länderinformationsblatt berichtet von hoher Arbeitslosigkeit (über 40 % Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung) und Armutsgefährdung. Nach den vorliegenden Informationen sind auch die Aufnahmekapazitäten der afghanischen Städte bereits überlastet. 72,4 % der städtischen Bevölkerung leben in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen (siehe dazu etwa UNHCR-Richtlinien, Kapitel III. Internationaler Schutzbedarf, Unterkapitel C. Interne Flucht-, Neuansiedelungs- oder Schutzalternative, Unterkapitel 3. Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative in afghanischen Städten [S. 125 f.]). Der Anteil der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze liegt bei 55 % (ebd.). Nachdem der BF allein und ohne soziales Netzwerk sowie örtliche Kenntnisse erstmals in den Herkunftsstaat „zurückkehren“ würde, erscheint eine besondere Betroffenheit dieser prekären Lebensverhältnisse im Fall des BF als höchst wahrscheinlich.

Für den BF, der tüchtig und in der Lage ist, sein Leben auch ohne familiäre und soziale Unterstützung selbst zu meistern - wie er dies während seines Aufenthaltes in Österreich in einem ganz anderen Kulturkreis durchaus unter Beweis stellen konnte -, wird es als Rückkehrer bedingt durch die COVID-19 Pandemie jedoch ungleich schwieriger werden, Arbeit und Unterkunft zu finden. In dieser Situation sind derzeit auch in den genannten Städten Gelegenheitsarbeiten nur sehr eingeschränkt zu finden, weswegen nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass der BF dort in der Lage sein wird, sich ein Leben aufzubauen ohne in eine existenzbedrohende Lage zu kommen.

In einer Zusammenschau der erwähnten aus den spezifischen individuellen Merkmalen (sofortige Erkennbarkeit als Rückkehrer, fehlendes soziales Netzwerk, Covid-19) des BF resultierenden Erschwernissen und unter Berücksichtigung auch der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat, ist in seinem Fall als Rückkehrer - anders als bei jenen, die ihr ganzes Leben in Afghanistan verbracht haben und dort zur Gänze sozialisiert wurden und über ein tragfähiges soziales Netzwerk verfügen – nicht davon auszugehen, dass er in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) Fuß fassen und ein Leben ohne unbillige Härte wird führen können. Das erkennende Gericht kommt in einer Gesamtbetrachtung zu dem Schluss, dass dem BF aufgrund seiner individuellen Umstände eine Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich und zumutbar ist

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist "Familienangehöriger", wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder im Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.

Stellt ein Familienangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser gemäß § 34 Abs. 1 AsylG 2005 als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes. Die Behörde hat gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3) und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.

Im vorliegenden Fall liegt kein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 liegt vor, da der BF zum Zeitpunkt der Antragstellungen auf internationalen Schutz schon volljährig war.

Zu Spruchpunkt A) I. - Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

§ 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat. [….]“

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem oder mehreren der in der GFK genannten Gründe haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein.

Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Nach der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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