Entscheidungsdatum
15.09.2020Norm
BFA-VG §9Spruch
I408 2232752-1/11E
SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 14.09.2020 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Harald NEUSCHMID als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, gegen den Bescheid des BFA, XXXX vom 05.06.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.09.2020 zu Recht erkannt:
A)
In Stattgabe der Beschwerde wird der verfahrensgegenständliche Bescheid behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 05.06.2020 erließ die belangte Behörde gegen den in Haft befindlichen Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 6 ½ Jahren befristetes Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I), erteilte ihm keinen Durchsetzungsaufschub (Spruchpunkt II.) und aberkannte einer Beschwerde gegen dieses Aufenthaltsverbot die aufschiebende Wirkung (III.).
Mit ho. Erkenntnis vom 10.07.2020 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Am 14.09.2020 fand im Beisein beider Parteien eine mündliche Verhandlung statt, in der das Erkenntnis mündlich verkündet wurde.
Noch in der mündlichen Verhandlung beantragte der Vertreter der belangten Behörde die schriftliche Ausfertigung der Entscheidung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der 20igjährige Beschwerdeführer ist deutscher Staatsbürger, nach der Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter 2010 von Deutschland nach Österreich gezogen und weist im Bundesgebiet seit 20.07.2020 einen gemeldeten Wohnsitz auf. In Österreich leben Familienangehörige seiner Mutter, das sind seine Großmutter und die Stiefgeschwister seiner Mutter samt Familien. Seit Vater lebt weiterhin in Deutschland, zu dem er nach seiner Haftentlassung am 29.09.2020 ziehen und dort ein neues Leben beginnen möchte.
In Österreich schaffte er den Hauptschulabschluss nicht, war 2015 und 2016 bei der Caritas immer wieder geringfügig beschäftigt, scheiterte bei einer Arbeitslehre (08.05.2017 bis 30.04.2018) und war im Anschluss daran bei zwei Firmen im Baugewerbe (01.02.2018 bis 12.04.2019 sowie 02.05.2019 bis 30.08.2019) angestellt. Seit 14.10.2019 ist er in Haft und wird demnächst entlassen.
Er wurde schon früh, im Alter von 14 Jahren straffällig. 6 Mal wurde er als Jugendstraftäter verurteilt und 2 Mal als junger Erwachsener.
Die ersten Straftaten des Beschwerdeführers im März 2014, einem Diebstahl, ein Leergutbetrug im Mai 2014, eine Körperverletzung im Juni 2014 und Sachbeschädigungen im Juli 2014, wurden alle strafgerichtlich nicht verfolgt bzw. eingestellt.
1. Erstmalig wurde er mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 11.03.2015, XXXX nach einem Diebstahl eines Touchpen im Wert von € 9,99 am 01.12.2014 wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15,127 StGB zu einer bedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen, in Summe € 160, --, verurteilt und u.e. wurde die Bewährungshilfe angeordnet.
2. Am 07.08.2015 brach er einen Zigarettenautomaten auf, entwendete eine Stange Zigaretten im Wert von € 46, -- und versuchte M.B. mit der Drohung „Nimm die Anzeige zurück, da ich ansonsten meine Kollegen auf dich hetzen werde und du dann tot bist“ zur Zurücknahme der Anzeige zu bewegen. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 16.11.2015, XXXX wurde er deshalb wegen des Verbrechens des Einbruchsiebstahls nach §§ 127, 129 Z 2 StGB und des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe von 300 Tagessätzen, in Summe € 1.200, --, verurteilt.
3. Im Zeitraum September und Oktober 2015 beging er 9 Diebstählen im A1-Shop, Media-Markt, Interspar, Fa H&M, Müller und Sutterlüty, beschädigte am 09.09.2015 mehrere Autos und am Bahnhof XXXX eine Lärmschutzverglasung und den Touchscreen eines Fahrkartenautomaten, versetzte am 08.09.2015 seiner Mutter einen Faustschlages gegen den linken Oberarm, bedrohte sie am 13.09.2015 mit einer Jalousiestange und entwendete am 29.09.2015 ihre Bankomatkarte und eignete sich am 05.10.2015 widerrechtlich ein Fahrrad an. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 20.01.2016, XXXX , wurde über ihn wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 erster Fall, 15 StGB und der Vergehen der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs 1 Z 7 StGB, der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB, der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs 1 erster Fall StGB und der dauernden Sachentziehung nach § 135 StGB eine Zusatzfreiheitsstrafe von 5 Monaten, die bedingt unter Bestimmung einer Probezeit von 3 Jahren nachgesehen wurde, und eine unbedingten Zusatzgeldstrafe von 200 Tagessätzen, in Summe € 800,-- , verhängt.
4. Mit Urteil des Bezirksgerichte XXXX vom 28.09.2016, XXXX , wurde er wegen der Vergehen nach §§ 125, 135 Abs 1 und 83 Abs 1 StGB, die letzte Straftat erfolgte am 27.05.2016, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 2 Monaten verurteilt.
5. Wegen des unbefugten Gebrauches eines fremden Mopeds am 15.03.2017 wurde er mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 14.06.2017 nach § 136 Abs 1 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen, in Summe € 160, -- verurteilt.
6. Wegen des Besitzes von ca. 10 bis 15 Gramm Marihuana zum Eigengebrauch im Zeitraum Feber bis September 2018 wurde er mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 08.03.2019, XXXX , wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs 2 SMG zu einer unbedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt.
7. Am 12.04.2019 äußerte er gegenüber S.N. und einer gemeinsamen Arbeitskollegin, dass er ihn umbringen werde. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 07.05.2019, XXXX , wurde er wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt.
8. Vier Monate später, am 01.08.2019 versuchte er A.W. mit der Drohung, er werde ihm alle Knochen brechen und ihn umbringen sowie J.V. durch Gewalt, indem er sie mit Händen am Hals würgte und aus dem Auto zerrte, wodurch sie mit dem Kopf zu Boden fiel, zur Übergabe deren Mobiltelefone zwecks Löschung eines Videos zu nötigen und fügte dabei A.W. durch einen Stoß Hautabschürfungen im Bereich des Brustkorbs und eine Hautabschürfung im Bereich des linken Oberarms zu. J.V. erlitt Hautabschürfungen im Bereich des Brustkorbs, des Rückens, des Oberarms und des Kopfes sowie Prellungen am Oberkörper und Kopf. Am 24.08.2019 verletzte er M.K., wenn auch nur fahrlässig, durch mehrere Faustschläge ins Gesicht schwer. Dieser erlitt dadurch eine Wunde an der Bindehaut, eine Fraktur des rechten Nasenbeins ohne wesentliche Dislokation, eine leichtgradige imprimierte Fraktur des Orbitabodens, eine Fraktur der lateralen Orbitawand rechts, eine imprimierte Fraktur der Vorderwand der Kieferhöhle rechts, eine Fraktur der lateralen Wand der Kieferhöhle rechts, eine Einblutung im Bereich der Kieferhöhle, ein Monokelhämatom und mehrere ausgeschlagene bzw. abgebrochene Zähne. Nach dem letztgenannten Vorfall wurde der Beschwerdeführer in Haft genommen und mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 30.10.2019 wurde er wegen der Vergehen der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB und der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB sowie des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB zu einer unbedingten Haftstrafe von 12 Monaten verurteilt.
Zu diesen Straftaten kommen, beginnend mit 01.03.2014 noch 22 Verwaltungsübertretungen nach dem Jugendgesetz, dem Schulpflichtgesetz, dem Sittenpolizeigesetz, dem Gemeindegesetz, dem Landessicherheitsgesetz und dem Sicherheitspolizeigesetz hinzu.
2. Beweiswürdigung:
Der auch in der mündlichen Verhandlung unstrittig gebliebene Sachverhalt ergibt sich aus dem von der belangten Behörde erstellten Ausdruckes aus der Personeninformation des BMI (AS 11), den bis auf das Strafurteil des BG XXXX vom 28.09.2016, XXXX , eingeholten Strafurteilen (AS 77 – AS 151) und der über die BH XXXX erstellte Auflistung der verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen (AS 69).
Die Verurteilung durch das Bezirksgericht XXXX vom 28.09.2016 ist dem Strafregister entnommen und die eingestellten Straftaten 2014 dem von der belangten Behörde eingeholten kriminalpolizeilichen Aktenindex vom 27.01.2020 (AS 13).
Die Beschäftigungsverhältnisse des Beschwerdeführers finden im AJ-WEB Ausdruck vom 29.01.2020 ihre Deckung.
In der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer, der von sich aus auf die Unterstützung der ihm zugewiesenen Rechtsberatung verzichtet hatte, glaubhaft an, dass er nach seiner anstehenden Haftentlassung Österreich verlassen werde und bei seinem Vater in Deutschland ein neues Leben beginnen möchte.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Behebung des Aufenthaltsverbotes
Nach § 53a NAG erwerben EWR-Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52), unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt.
Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist gemäß § 61 Abs 1 FPG zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.
Wird durch ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist nach § 9 BFA-VG die Erlassung der Entscheidung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Dem Beschwerdeführer kommt als deutscher Bürger, der sich zumindest seit 20.07.2010 in Österreich aufhält, das Freizügigkeitsrecht der Union zu. Diesem Grundrecht der EU kommt ein hoher Stellenwert zu, sodass nach der europäischen Rechtsprechung eine Einschränkung im Sinne eines Aufenthaltsverbotes nur im Ausnahmefall zulässig ist. Da sich von der Aufenthaltsdauer auf die Integration eines Unionsbürgers schließen lässt, wird ein Recht auf Daueraufenthalt schon nach einem ununterbrochenen Aufenthalt von fünf Jahren erworben und Ausweisungsmaßnahmen dürfen nur mehr aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ergriffen werden. Dieser Schutz greift mit einem längeren Aufenthalt immer stärker und erreicht nach einem Aufenthalt von 10 Jahren einen Grad, der die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nur mehr zulässt, wenn das Verhalten des Fremden darauf schließen lässt, dass seinen Verbleib im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.
Dem Beschwerdeführer kommt aufgrund des unstrittigen Aufenthaltes seit 20.07.2010 als Bürger der Union dieser verstärkte Schutz zu, d.h. es muss durch seinen Verbleib im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich nachhaltig und maßgeblich gefährdet sein.
Es wird nicht verkannt, dass der 20jährige Beschwerdeführer seit 2010 wiederholt straffällig wurde und auch 22 Verwaltungsübertretungen aufweist. Die belangte Behörde hat bei ihrer Beurteilung diesem langjährigen Aufenthalt, dem jugendlichen Alter und dem Umstand, dass der Beschwerdeführer in dieser Zeit auch in Beschäftigung war zu wenig Beachtung geschenkt.
Hinzu kommt, dass er offenkundig auch die Trennung seiner Eltern und den damit verbundenen Wechsel nach Österreich nicht verkraftetet hat. Die zahlreichen Vermögensdelikte, der unerlaubte Umgang mit Marihuana und die Körperverletzungen verbunden mit gefährlichen Drohungen resultieren aus dem fehlenden familiären Halt, der Überforderung seiner Mutter, dem Nichterkennen der Folgen seiner strafbaren Handlungen und der sich daraus ergebenden Persönlichkeitsstruktur. Gerade bei den Körperverletzungen und seinen Drohungen zeigt es sich, dass er weder seine Emotionen noch seine Körperkraft im Griff hat. Erst die Haft seit 14.10.2019 hat ihm erstmals die Konsequenzen seines Verhaltens unmittelbar vor Augen geführt und ihn auch dazu bewegt, bei seinem Vater in Deutschland einen Neuanfang zu beginnen. Er wird sich dabei auch den finanziellen Folgen seiner Straftaten – er hat nach eigenen Angaben Schulden in Höhe von € 20.000, -- - auseinanderzusetzen haben.
Auch wenn nach der in der mündlichen Verhandlung vom Vertreter der belangten Behörde vertretenen Rechtsansicht zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung am 05.06.2020 die Aufenthaltsdauer von 10 Jahren knapp nicht gegeben war, wird mit dieser Argumentation übersehen, dass für ihn das unionsrechtliche Recht auf Daueraufenthalt besteht (vgl. Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG - Unionsbürgerrichtlinie sowie § 53a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG). So bestimmt Art. 28 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die das Recht auf Daueraufenthalt genießen, dass eine Ausweisung nur aus "schwerwiegenden" Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt werden darf, wobei dabei gemäß Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie auf das persönliche Verhalten abzustellen ist, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, insgesamt aber ein größeres Ausmaß an Gefährdung verlangt wird. Diese Vorgaben der Unionsbürgerrichtlinie wurden im FPG insofern umgesetzt, als nach dessen § 66 Abs. 1 die Ausweisung von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen, die bereits das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, nur dann zulässig ist, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. § 67 Abs. 1 FPG enthält zwar nur zwei Stufen für die Gefährdungsprognose, nämlich einerseits (nach dem ersten und zweiten Satz) die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, wobei eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr auf Grund eines persönlichen Verhaltens vorliegen muss, und andererseits (nach dem fünften Satz) die nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen mit mindestens zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet (bzw. im Fall von Minderjährigen). Es muss aber angenommen werden, dass hinsichtlich Personen, die das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, nicht nur bei der Ausweisung, sondern (arg. a minori ad maius) auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes der in Art. 28 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie und § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Maßstab - der im abgestuften System der Gefährdungsprognosen zwischen jenen nach dem ersten und dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG angesiedelt ist - heranzuziehen ist. Dies gebietet im Anwendungsbereich der Unionsbürgerrichtlinie eine unionsrechtskonforme Interpretation, weil das Aufenthaltsverbot eine Ausweisungsentscheidung im Sinn der Richtlinie beinhaltet. Zum gleichen Ergebnis führt eine verfassungskonforme Interpretation, weil die Anwendung eines weniger strengen Maßstabes für Aufenthaltsverbote als für bloße Ausweisungen sachlich nicht zu rechtfertigen wäre (vgl. VwGH vom 13.12.2012, 2012/21/0181).
Die belangte Behörde verkennt daher die Rechtslage, wenn sie ihre Gefährdungsprognose nur auf § 67 Abs. 1 erster (und zweiter) Satz FPG stützt. So hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 23. November 2010 in der Rechtssache C-145/09 (Panagiotis Tsakouridis) ausgesprochen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck "schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" im Sinn der Unionsbürgerrichtlinie fällt.
Diesen Schweregrad weisen die gegenständlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers nicht auf und es kann – auch nach dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung – nicht von einem völligen Missachten der staatlichen Ordnung und Werte ausgegangenen werden. Vielmehr besteht die berechtigte Hoffnung, dass es ihm gelingen kann, mit Unterstützung seines Vaters das Leben in den Griff zu bekommen und zumindest die finanzielle Verantwortung für sein Fehlvergalten zu tragen. Dieser Umdenkprozess findet auch im Verzicht des Beschwerdeführers auf die ihm zur Verfügung gestellte Rechtsvertretung und seinem Auftreten in der mündlichen Verhandlung seinen Niederschlag. Unabhängig davon verfügt er in Österreich über maßgebliche familiäre Anknüpfungspunkte.
Im Ergebnis war daher das Aufenthaltsverbot zu beheben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung in der Rechtsprechung der Höchstgerichte Deckung findet und nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Schlagworte
Aufenthalt im Bundesgebiet Aufenthaltsverbot Aufenthaltsverbot aufgehoben Behebung der Entscheidung Diebstahl Durchsetzungsaufschub EU-Bürger EWR-Bürger Gefährdung der Sicherheit Gefährdungsprognose gefährliche Drohung Gewalttätigkeit Gewerbsmäßigkeit Haft Haftstrafe Interessenabwägung Kassation Körperverletzung mündliche Verhandlung mündliche Verkündung Nötigung öffentliche Interessen öffentliche Ordnung öffentliche Sicherheit Privat- und Familienleben private Interessen Sachbeschädigung schriftliche Ausfertigung schwere Straftat Straffälligkeit strafgerichtliche Verurteilung Strafhaft strafrechtliche Verurteilung Straftat Suchtmitteldelikt Unionsbürger Verbrechen Vergehen WiederholungstatenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:I408.2232752.1.01Im RIS seit
23.11.2020Zuletzt aktualisiert am
23.11.2020