TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/18 G306 2221482-1

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Veröffentlicht am 18.09.2020
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Entscheidungsdatum

18.09.2020

Norm

AsylG 2005 §55 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch

G306 2221482-1/13E

Im namen der republik!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dietmar MAURER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA: Kosovo, vertreten durch RA Mag. Michael-Thomas REICHENVATER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.06.2019, Zahl XXXX , zu Recht erkannt:

A)       Der Beschwerde wird stattgegeben, eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Kosovo gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG für auf Dauer als unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte am 05.02.2015, gemeinsamen mit seinen Eltern und zwei weiteren Geschwistern, einen Antrag auf Zuerkennung des internationalen Schutzes.

1.2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Zl. XXXX , vom 16.10.2015 wurde der Antrag des BF abgewiesen, diesem ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG vorübergehend bis zum 30.04.2018 für unzulässig erklärt.

1.3. Am 22.08.2018 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF und seinen Angehörigen vor dem BFA statt.

1.4. Mit Aktenvermerk des BFA vom 01.03.2018 wurde die Aufenthalts-Duldung in Bezug auf den BF und dessen Familie bis 30.04.2019 verlängert.

2. Am 15.03.2019 fand neuerlich eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem BFA statt und gab der BF mit Schreiben vom 28.03.2019 eine Stellungnahme vor dem BFA ab.

3. Mit Schreiben vom 23.04.2019 wurde der BF zur Vorlage weiterer medizinischer Unterlagen binnen einer Woche seitens des BFA aufgefordert.

Eine Stellungnahme langte beim BFA nicht ein.

4. Mit oben im Spruch angeführten Bescheid wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm. § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Kosovo zulässig sei (Spruchpunkt III.) und festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist zur freiwilligen Ausreise 14 Tage betrage (Spruchpunkt IV.).

5. Mit per Post eingebrachtem und am 17.07.2019 beim BFA eingelangtem Schriftsatz erhob der BF durch seinen Rechtsvertreter (im Folgenden: RV) Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid.

Darin wurde die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung, Behebung des angefochtenen Bescheides, Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie die Feststellung der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung, in eventu die Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde beantragt.

6. Die Beschwerde samt den Verfahrensakten wurde vom BFA dem BVwG vorgelegt und lnagten am 19.07.2019 ein.

7. Am 19.05.2020 fand in der Grazer Außenstelle des BVwG eine mündliche Verhandlung statt, an jener der BF, seine Eltern sowie sein RV teilnahmen.

Die belangte Behörde wurde korrekt geladen, jedoch nahm ein/eine Vertreter/Vertreterin derselben an der Verhandlung nicht teil.

8. Mit am 03.07.2020 beim BVwG eingelangter schriftlicher Eingabe brachte der BF durch seinen RV weitere Unterlagen in Vorlage.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF trägt die im Spruch angeführte Identität (Name und Geburtsdatum) und ist Staatsangehöriger von Kosovo, ledig und kinderlos.

Der BF wurde in Kosovo geboren wo er auch die Pflichtschule besucht hat. Der BF reiste am 05.02.2015 gemeinsam mit seinen Eltern und zwei Geschwistern ins Bundesgebiet ein, wo er sich seither durchgehend aufhält.

Mit Bescheid des BFA, Zl. XXXX , vom 16.10.2015, wurde der Antrag des BF auf Zuerkennung des internationalen Schutzes vom 05.02.2015 abgewiesen. Eine Rückkehrentscheidung wurde jedoch aufgrund notwendiger im Kosovo nicht erhältlicher medizinscher Behandlungen bis zum 30.04.2018 für vorübergehend unzulässig erklärt. Der Aufenthalt des BF in Österreich war seither geduldet.

Die belangte Behörde hat die Duldung des BF am 01.03.2018 bis 30.04.2019 verlängert.

Der BF ist nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels und leidet seit seiner Geburt an Dysostosis otomandibularis (hemiaziele Mikrosomie) und wurde aufgrund dieser Erkrankung in den letzten Jahren wiederholt in Österreich operiert.

Der BF befindet sich nach wie vor in ärztlicher Behandlung. Die letzte Operation fand im Juli 2020 statt und sind noch weitere Operationen und Behandlungsmaßnahmen erforderlich und vorgesehen. Der konkrete Zeitpunkt des Abschlusses der notwendigen Behandlung des BF ist bis dato nicht feststellbar.

Aktuell leidet der BF zudem unter immer wieder auftretendem Schwindel mit erhöhter Sturzneigung.

Bis auf seine Familienangehörigen, deren Aufenthalt in Österreich ebenfalls bis zum 30.04.2019 geduldet war und die über keine Aufenthaltstitel verfügen, verfügt der BF über keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich. Jedoch bestehen soziale Bezugspunkte in Österreich.

Im Herkunftsstaat halten sich die Großeltern und mehrere Onkel und Tanten des BF auf.

Der BF hat die Integrationsprüfung auf dem Deutsch-Sprachniveaus A2 am XXXX .2018 bestanden, von 19.09.2017 bis 30.06.2018 an der Bildungsmaßnahme XXXX teilgenommen, von 16.10.2019 bis 19.02.2020 einen Deutschsprachkurs der Niveaustufe B1.1 besucht, und erweist sich in strafgerichtlicher Hinsicht als unbescholten.

Erwerbstätigkeiten ist der BF bis dato keine in Österreich nachgegangen, sondern lebt er überwiegend von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.

Kosovo gilt als sicherer Herkunftsstaat.

Zur allgemein medizinischen Lage im Herkunftsstaat Kosovo:

Die staatlich finanzierte medizinische Grundversorgung der Bevölkerung erfolgt in einem öffentlichen dreistufigen Gesundheitssystem. Es besteht aus Erstversorgungszentren, Krankenhäusern auf regionaler Ebene sowie einer spezialisierten medizinischen Versorgung durch die Universitätsklinik Pristina. Die Implementierung einer für alle Bürger des Kosovos obligatorischen Krankenversicherung ist für 2016 geplant. Zur primären Erstversorgung der Bevölkerung stehen 234 Ambulanzen für Familienmedizin, 166 Zentren für Familienmedizin und 29 medizinische Hauptzentren zur Verfügung. Bei den Ambulanzen handelt es sich um Gesundheitsstationen in den ländlichen Gebieten, die eine eingeschränkte Basisversorgung bieten und nur zu bestimmten Zeiten mit einem Arzt besetzt sind. In 28 regionalen Gesundheitshäusern werden Patienten durch Ärzte für Allgemeinmedizin sowie durch weitere Fachärzte, wie Ärzte für Pädiatrie, Dermatologie, Ophthalmologen, Gynäkologen und Zahnärzte behandelt. Die staatliche sekundäre Versorgung beinhaltet die ambulante und stationäre Gesundheitsversorgung in den Regionalkrankenhäusern in Ferizaj/Urosevac, Gjakova/Djakovica, Gjilan/Gnjilane, Mitrovica-Nord, Peja/Pec, Prizren und Vushtrri/Vucitrn. Die tertiäre Gesundheitsversorgung wird durch die Universitätsklinik Pristina gewährleistet, die umfassenden, auch komplexen medizinischen Dienstleistungen, verbunden mit hohen Kosten anbietet. Die Bettenkapazität zur stationären Behandlung von Patienten in den Krankenhäusern ist ausreichend. Problematisch bleiben der schlechte bauliche Zustand von Krankenhäusern und Gesundheitsstationen mit teilweise veralteter Ausstattung. Die Krankenhäuser wurden in den letzten Jahren mit einigen modernen medizinisch-technischen Diagnosegeräten ausgestattet. Abgesehen von Notfällen müssen Patienten wegen der Auslastung der wenigen Geräte mit Wartezeiten rechnen. Es herrscht weiterhin ein Mangel an ausgebildeten Fachärzten und medizinischem Personal für herz- und neurochirurgische sowie orthopädische Operationen, ebenso sind Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für Ärzte und Pflegepersonal weiterhin begrenzt. Über einen Antrag auf Behandlung im Ausland entscheidet eine ärztliche Kommission des Gesundheitsministeriums. Die Wartezeit kann bis zu zwei Jahre betragen. Das Gesundheitsministerium verfügt über einen Fonds, um medizinische Behandlungen, vor allem von Kindern mit Herz- oder Tumorerkrankungen, im Ausland zu ermöglichen und trifft mit Drittstaaten Unterstützungsvereinbarungen. Auch Nichtregierungsorganisationen wie Nena Theresa und Initiativen von Privatpersonen führen für schwerkranke Kinder regelmäßig Spendensammlungen durch (AA 9.12.2015, vgl. BIO 6.6.2016).

Das Gesundheitssystem im Kosovo ist auf drei Ebenen organisiert. Die medizinische Infrastruktur im Kosovo bleibt trotz erheblicher Investitionen lückenhaft. Trotz kontinuierlicher Verbesserungen der meisten Gesundheitsindikatoren bleibt die Situation hinsichtlich Morbidität und Mortalität alarmierend. Die Säuglings- und Müttersterblichkeit gehört jeweils zu den höchsten in ganz Europa. Die Doppelfunktion von medizinischem Personal, welches gleichzeitig in öffentlichen und privaten Institutionen beschäftigt ist, führt zu substantiellen Interessenskonflikten. Entscheidungen über die Budgetverteilung scheinen zuweilen klar politisch motiviert zu sein und sind kaum evidenzbasiert (GIZ 6.2016).

Die Gesundheitsversorgung bei psychischen Erkrankungen sieht sich im Kosovo noch immer mit Schwierigkeiten konfrontiert. Die Herausforderungen sind groß: die Zahl der Fachleute ist sehr begrenzt (1 Psychiater pro 90.000 Einwohner; 5 klinische Psychologen und eine geringe Anzahl Sozialarbeiter) und das gegenwärtige Ausbildungssystem auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit ist unterentwickelt. Die Wiederherstellung der psychischen Gesundheitsversorgung zählt zu den Prioritäten des Gesundheitsministeriums. Im Allgemeinen stützt sich die Behandlung psychisch Kranker zu großen Teilen auf eine Krankenhausbetreuung und die Verabreichung von Medikamenten. Mithilfe internationaler Kooperationen sind neue Einrichtungen, „Häuser der Integration“ genannt, in Gjakovë/Djakovica, Gjilan/Gnjilane, Prizren, Mitrovicë/a und Drenas/Gllogovac eröffnet worden. Diese Häuser bieten betreutes Wohnen für Personen mit schwächer ausgeprägten psychischen Störungen. Gemeindezentren für psychische Gesundheit bieten ambulante Dienste an, neuro-psychiatrische Abteilungen in Krankenhäusern befinden sich in allen größeren Städten. In Prishtina ist die neuropsychiatrische Abteilung in der neurologischen Klinik des Universitäts-Klinikzentrums untergebracht und umfasst ca. 75 Betten (IOM 6.2014, vgl. AA 9.12.2015).

Die Medikamentenversorgung und -beschaffung im staatlichen Gesundheitssystem wird zentral vom Gesundheitsministerium gesteuert; Der Etat für den Einkauf von Medikamenten beträgt im Jahr 2015 voraussichtlich EUR 12 Mio., zuzüglich des Anteils der Krankenversicherungsbeiträge. Auf seiner Homepage veröffentlicht das Gesundheitsministerium die aktuellen "Essential Drug Lists", in denen alle staatlich finanzierten Basismedikamente und -wirkstoffe, Verbrauchsmaterialien sowie Zytostatika aufgelistet werden. Für medizinische Leistungen sowie für Basismedikamente aus der „Essential Drug List“ zahlen Patienten Eigenbeteiligungen, die nach vorgegebenen Sätzen pauschal erhoben werden. Von der Zuzahlungspflicht befreit sind Invalide und Empfänger von Sozialhilfeleistungen, Rentner, Schwangere, chronisch Kranke, Kinder bis zum 15. Lebensjahr, Schüler und Studenten bis zum Ende der Regelausbildungszeit, Kriegsveteranen und Personen über 65 Jahre. Das Gesundheitsministerium verfügt über ein Budget, um Personen ohne ausreichende finanzielle Mittel Medikamente zur Verfügung stellen zu können, die nicht in der „Essential Drug List“ aufgeführt sind. Die Bewilligung erfolgt nur, wenn der Patient ansonsten in eine lebensbedrohliche Situation geraten würde. Es gibt auch Krankenhausärzte, die Medikamentenvorräte angelegt haben, mit denen sie sozial schwache Patienten kostenlos behandeln.

Gemessen am Durchschnittsverdienst in Kosovo liegen die Gehälter des medizinischen Personals im unteren Bereich. Dies erklärt Korruptionsfälle im öffentlichen Gesundheitswesen. Gegen Geldzahlungen an medizinisches Personal bewirken Patienten z.B. eine vorrangige Behandlung. Im Rahmen der Durchführung des Programms ALAC (Advocacy and Legal Advice Center) gehen kosovarische NRO (NGOs) Korruptionsvorwürfen aus der Bevölkerung nach und erstatten gegebenenfalls Anzeige (AA 9.12.2015, vgl. GIZ 6.2016).

Öffentliche oder private Gesundheitseinrichtungen in Kosovo sind verpflichtet, allen Bürgerinnen und Bürgern des Kosovo ihre Leistungen ohne Diskriminierung anzubieten. Die serbische Bevölkerung benutzt jedoch meist nur medizinische Dienstleistungen von serbischen Dienstleistungsanbietern (SFH 6.5.2013).

Der WHO in Pristina sind keine speziellen Fälle von Diskriminierungen von Roma im Gesundheitsbereich bekannt. Die schlechte Gesundheitssituation vieler Roma ist eher auf den Mangel an Ausbildung und auf deren schlechte sozio-ökonomische Lage zurückzuführen als auf eine diskriminierende Regierungspolitik. Ambulanzen wurden in der Nähe von Roma-Siedlungen errichtet, Krankenschwestern besuchten regelmäßig diese Siedlungen, um medizinische Aufklärungsarbeit zu leisten. Wenn Roma ihre serbische Krankenversicherungskarte besitzen, können diese eine medizinische Behandlung in Serbien in Anspruch nehmen. Die Behandlung in serbischen Spitälern wird aber auch von Albanern selbst gesucht (CEDOCA 27.2.2014).

Durch das österreichische Team der zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC) im Kosovo wurde dringend benötigte medizinische Geräte an die Abteilung für Hämatologie und Internistische Onkologie der Universitätsklinik in Pristina übergeben. Die Universitätsklinik Graz, welche die Geräte zur Verfügung stellte, spendet über die Abteilung von CIMIC-Austria des Österreichischen Bundesheeres immer wieder nicht mehr benötigte Ausrüstung an Spitäler im Kosovo (BH 24.4.2014).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (9.12.2015): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo / Bericht im Hinblick auf die Einstufung der Republik Kosovo als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29 a AsylVfG

-        BH - Bundesheer (24.4.2014): Medizinische Geräte für die Universitätsklinik Pristina, http://www.bundesheer.at/ausle/kfor/artikel.php?id=4132, Zugriff 5.7.2016

-        BIO - Belgian Immigration Office (6.6.2016): Accessibility of healthcare – Kosovo, Country Fact Sheet, Zugriff 6.7.2016

-        CEDOCA - Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (27.2.2014): FFM Mission Report Kosovo 16.-20.9.2013, abgelegt auf MedCOI-DB

-        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (6.2016): Kosovo - Gesellschaft, https://www.liportal.de/kosovo/gesellschaft/#c37429, Zugriff 5.7.2016

-        IOM - International Organization for Migration (6.2014): Länderinformationsblatt Kosovo

-        SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (6.5.2013): Kosovo: Situation für serbische Rückkehrende in die Region Prizren; https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/kosovo/kosovo-situation-fuer-serbische-rueckkehrende-in-die-region-prizren.pdf, Zugriff 5.7.2016

-        VB des BMI in Pristina (17.6.2014): Auskunft des VB, per Email

Diabetes/Dialyse

Die Dialyse im öffentlichen Gesundheitsbereich ist einer der am besten organisierten und funktionierenden Zweige des Gesundheitssystems. Jedes regionale Spital hat ein Dialysezentrum, welches komplett neu renoviert und ausgestattet wurde. Jede Gemeinde hat auch geeignete Transporteinrichtungen für Dialysepatienten zum Zentrum und retour. Auch die notwendigen Medikamente und Materialien sind grundsätzlich erhältlich. Auch für Diabetiker ist der Zugang in den speziellen Gesundheitsabteilungen ohne große Probleme möglich. Insulin ist in jedem regionalen Krankenhaus verfügbar und wird vom Gesundheitsministerium zur Verfügung gestellt (BIO 6.6.2016).

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums werden jährlich ca. EUR 5 bis 6 Mio. für Dialysebehandlungen in Kosovo ausgegeben. In sieben Dialysezentren in Pristina, Prizren, Peja/Pec, Gjilan/Gnjilane, Gjakova/Djakovica, Ferizaj/Urosevac und Mitrovica werden derzeit ca. 700 Patienten mit Hämodialyse behandelt. Patienten können auch Peritonealdialyse erhalten. Die Versorgung erfolgt unabhängig von der Herkunft des Patienten. In Pristina werden in der Universitätsklinik Pristina sowie im Zentrum Kodra e Trimave derzeit ca. 180 Dialysepatienten versorgt (AA 9.12.2015).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (9.12.2015): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo / Bericht im Hinblick auf die Einstufung der Republik Kosovo als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29 a AsylVfG

-        BIO - Belgian Immigration Office (6.6.2016): Accessibility of healthcare – Kosovo, Country Fact Sheet, Zugriff 6.7.2016

Hepatitis

Hepatitis B und C werden in den Abteilungen für Infektionen in den regionalen Krankenhäusern und im Universitätsklinikum in Pristina behandelt. Eine spezifische antivirale Therapie ist derzeit nicht vorhanden (BIO 6.6.2016).

Quelle:

-        BIO - Belgian Immigration Office (6.6.2016): Accessibility of healthcare – Kosovo, Country Fact Sheet, Zugriff 6.7.2016

HIV/Aids

Kosovo hat nur eine geringe Rate an HIV-Infizierten. Zur Verhinderung der Ausbreitung von HIV hat die Regierung ein sogenanntes Nationalen HIV Strategieplan beschlossen. Der Kampf gegen HIV/Aids wird durch das Komitee für HIV/Aids des Gesundheitsministeriums koordiniert. Die Behandlung und die Therapien werden durch das Gesundheitsministerium zur Verfügung gestellt und sind kostenlos. Zusätzlich gibt es einige NGOs und die Organisation Global Fund, die sich mit allen Aspekten des Kampfes gegen HIV beschäftigen. Eine antiretrovirale Therapie ist verfügbar. Personen mit HIV werden in den Abteilungen für Infektionen in den regionalen Hospitälern behandelt (BIO 6.6.2016). 

Quelle:

-        BIO - Belgian Immigration Office (6.6.2016): Accessibility of healthcare – Kosovo, Country Fact Sheet, Zugriff 6.7.2016

Zur konkreten medizinischen Lage im Herkunftsstaat Kosovo in Bezug auf die Behandlung von hemifaziale Mikrosomie:

Eine adäquate Behandlung dieses Krankheitsbildes ist nicht möglich, bzw. sind bisher keine diesbezüglichen Operationen im Kosovo durchgeführt worden.

Quellen:

-        VB des BM.I für Kosovo (7.7.2015): Auskunft des Vertrauensarztes, per E-Mail

-        VB des BM.I für Kosovo (7.7.2015): Auskunft des VB Büros, per Email.

2. Beweiswürdigung

2.1.Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

2.2. Die oben getroffenen Feststellungen beruhen auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht auf Grund der vorliegenden Akten sowie einer mündlichen Verhandlung durchgeführten Ermittlungsverfahrens und werden in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung als maßgeblicher Sachverhalt zugrunde gelegt:

2.2.1. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zu Identität, zur Staatsbürgerschaft, zum Familienstand, zur Kinderlosigkeit, zur Geburt im Kosovo und zum dortigen Grundschulbesuch, zur Einreise ins Bundesgebiet, zum durchgehenden Aufenthalt in demselben, zur Erkrankung des BF samt den bisherigen Operationen und der Behandlung in Österreich, sowie zu den familiären Anknüpfungspunkten des BF in Österreich und im Herkunftsstaat getroffen wurden, beruhen diese auf den Feststellungen im angefochtenen Bescheid, jenen weder in der gegenständlichen Beschwerde, noch in der mündlichen Verhandlung und der Stellungnahme entgegengetreten wurde.

Die gemeinsame Einreise des BF ins Bundesgebiet mit seinen Eltern und Geschwistern beruht auf dem unbestrittenen Akteninhalt sowie den Ausführungen im seinerzeitigen den Asylantrag des BF abweisenden Bescheid des BFA (siehe Aktenteil (im Folgenden: A) 1 AS 137ff). Auf einer Ausfertigung des besagten Bescheides beruht zudem auch die Duldung des Aufenthalts des BF in Österreich bis zum 30.04.2018 und ergibst sich die Verlängerung derselben bis zum 30.04.2019 aus einem Aktenvermerk des BFA vom 01.03.2018 (siehe A1 AS 251). Dem besagten Aktenvermerk kann zudem die Duldung des Aufenthaltes der Familienangehörigen des BF entnommen werden.

Durch Abfrage des Zentralen Fremdenregisters konnte ermittelt werden, dass weder der BF noch seine Familienangehörigen (Eltern und Geschwister) Aufenthaltstitel für Österreich besitzen.

Die letzte Operation konnte vom BF durch Vorlage entsprechender medizinischer Unterlagen nachgewiesen werden (siehe OZ 11 sowie Beilagen zum Verhandlungsprotokoll). Ebenfalls auf der Vorlage entsprechender medizinischer Unterlagen und einer ärztlichen Bestätigung (siehe OZ 11) ergibt sich die Feststellung, der Notwendigkeit weiterer Operationen und Behandlungsschritte in Bezug auf die Erkrankung des BF. Die besagten medizinischen Unterlagen geben jedoch keinen Aufschluss darüber, wie oft der BF noch operiert werden muss bzw. wie lange die Behandlung noch fortdauern wird. Nach näherem Studium aller bisher im Verfahren vorgelegter medizinischer Unterlagen ist zum Schluss zu kommen, dass aus Sicht der Mediziner/Medizinerinnen die konkrete Dauer der weiteren Behandlung des BF nicht abgeschätzt werden kann, zumal einzelne Behandlungsschritte immer erst nach und nach gesetzt und vom jeweiligen Heilungs- und Wachstumsverlauf des BF beeinflusst werden können. (sieh bspw. A2 AS 17; OZ 11)

Dem glaubwürdigen Vorbringen des BF und seiner Eltern in der mündlichen Verhandlung folgen die Feststellungen zum beim BF aktuell bestehendem wiederkehrenden Schwindel samt Sturzneigung, was sich aufgrund der medizinischen Vorgeschichte des BF zudem als durchaus als plausibel erweist. So ist den medizinischen Unterlagen zu entnehmen, dass operative Maßnahmen am Ohr und Innenohr des BF vorgenommen wurden (siehe A1 AS 75) und gab der BF an, auf dem linken Ohr aufgrund dessen Verschlusses nichts hören zu können. Da notorisch bekannt ist, dass das Innenohr für den Gleichgewichtssinn essentiell ist, erweist sich das besagte Vorbringen als glaubwürdig und nachvollziehbar. Ferner wurde dem BF bereits am 14.06.2019 eine Kreislaufinstabilität attestiert (siehe A2 AS 249).

Durch Vorlage einer entsprechenden Bestätigung vermochte der BF den Besuch und den erfolgreichen Abschluss der Integrationsprüfung auf dem Deutschsprachniveau A2 (siehe AS), den Besuch eines Deutschsprachkurses der Niveaustufe B1.1 (siehe A2 AS 93) sowie die Teilnahme an der oben genannten Bildungsmaßnahe (siehe A2 AS 39) nachweisen.

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des BF beruht ferner auf einer Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich und ergibt sich die Einstufung der Republik Kosovo als sicherer Herkunftsstaat aus § 1 Z 2 HStV.

Aus einem Sozialversicherungsauszug geht hervor, dass der BF keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und konnte durch Abfrage des GVS-Informationssystem der Bezug von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung seitens des BF festgestellt werden.

Die sozialen Bezugspunkte in Österreich beruhen auf in Vorlage gebrachte Empfehlungsschreiben und Unterschriftenlisten. (siehe OZ 5)

2.2. Zu den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die gegenständlich getroffenen Feststellungen zur allgemeinen medizinischen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den von der belangten Behörde in das Verfahren eingebrachten und angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Es wurden dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich im Wesentlichen mit dem Amtswissen des BVwG, das sich aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellenlage (Einsicht in aktuelle Berichte zur Lage im Herkunftsstaat) ergibt.

Die gegenständlich getroffenen Feststellungen zur konkreten medizinischen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich wiederum auf einer Staatendokumentationsanfrage der belangten Behörde im Zuge des seinerzeitigen Asylverfahrens des BF.

Insoweit zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde gelegt wurden, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der BF ist den getroffenen Feststellungen zur medizinischen Lage im Herkunftsstaat, die auf den in das Verfahren eingeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen beruhen, nicht substantiiert entgegengetreten.

Es wurden somit im gesamten Verfahren keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

3.1. Zur Stattgabe der Beschwerde:

3.1.1.  Gemäß § 2 Abs. 4 Z 1 FPG gilt als Fremder, wer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt, und gemäß Abs. 4 Z 10 leg cit, jeder Fremder der nicht EWR-Bürger oder Schweizer Bürger ist als Drittstaatsangehöriger.

Der BF als Staatsangehörige von Kosovo ist sohin Drittstaatsangehöriger iSd. § 2 Abs. 4 Z 10 FPG.

3.1.2. Staatsangehörige der Republik Kosovo benötigen nach Art. 3 Abs. 2 iVm Anlage I der Verordnung (EG) Nr. 539/2011 vom 15.03.2001, ABl. L 81 vom 21.03.2001, S. 1, (sowie auch nach aktuell gültigem Art 3 Abs. 1 Verordnung (EU) 2018/1806, vom 14.11.2018) zum Überschreiten der Außengrenzen ein Visum.

Gemäß § 31 Abs. 1 FPG halten sich Fremde rechtmäßig im Bundesgebiet auf, wenn sie rechtmäßig eingereist sind und während des Aufenthaltes im Bundesgebiet die Befristung oder Bedingungen des Einreisetitels oder des visumfreien Aufenthaltes oder die durch zwischenstaatliche Vereinbarungen, Bundesgesetz oder Verordnung bestimmte Aufenthaltsdauer nicht überschritten haben (Z 1), sie auf Grund einer Aufenthaltsberechtigung oder eine Dokumentation des Aufenthaltsrechtes nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zur Niederlassung oder zum Aufenthalt oder aufgrund einer Verordnung für Vertriebene zum Aufenthalt berechtigt sind (Z 2) oder wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind bis zu drei Monaten (Artikel 21 SDÜ gilt), sofern sie während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen (Z 3).

Der BF fällt nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG.

Der BF hält sich seit Februar 2015 durchgehend im Bundesgebiet auf und war dessen Aufenthalt bis zur negativen Erledigung seines Asylantrages gemäß § 13 Abs. 1 AsylG legitimiert sowie darüber hinaus bis zum 30.04.2019 bloß geduldet. In Ermangelung eines Aufenthaltstitels erweist sich der aktuelle Aufenthalt des BF im Bundesgebiet sohin gegenwärtig als unrechtmäßig.

3.1.4. Der mit „Aufenthaltstitel aus Gründen des Art 8 EMRK“ betitelte § 55 ASylG lautet:

„§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn

1.       dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2.       der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.“

Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ betitelte § 9 BFA-VG lautet:

„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“

3.1.5.  Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich:

3.1.5.1. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihres Briefverkehrs.

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit ein Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, wie sie eine Ausweisung eines Fremden darstellt, kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob die Ausweisung einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt:

Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt. Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine hinreichende Intensität für die Annahme einer familiären Beziehung iSd. Art. 8 EMRK erreichen. Der EGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung nicht zwischen einer ehelichen Familie (sog. „legitimate family“ bzw. „famille légitime“) oder einer unehelichen Familie („illegitimate family“ bzw. „famille naturelle“), sondern stellt auf das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens ab (siehe EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 454; 18.12.1986, Johnston u.a., EuGRZ 1987, 313; 26.05.1994, Keegan, EuGRZ 1995, 113; 12.07.2001 [GK], K. u. T., Zl. 25702/94; 20.01.2009, ?erife Yi?it, Zl. 03976/05). Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entspricht, kommen tatsächliche Anhaltspunkte in Frage, wie etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes, die Art und die Dauer der Beziehung sowie das Interesse und die Bindung der Partner aneinander, etwa durch gemeinsame Kinder, oder andere Umstände, wie etwa die Gewährung von Unterhaltsleistungen (EGMR 22.04.1997, X., Y. und Z., Zl. 21830/93; 22.12.2004, Merger u. Cros, Zl. 68864/01). So verlangt der EGMR auch das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff.). In der bisherigen Spruchpraxis des EGMR wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Europäischen Kommission für Menschenrechte auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Der Begriff des Privatlebens iSd Art. 8 EMRK ist weit zu verstehen und umfasst das persönliche und berufliche Umfeld eines Menschen, in dem er mit anderen interagiert. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR ist die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen einem ansässigen Migranten und der Gemeinschaft, in der er lebt, integraler Bestandteil des Begriffs des Privatlebens (EGMR 13.10.2011, 41548/06, Trabelsi/DE; EGMR [GK] 23.06.2008, 1638/03, Maslov/AT). Dazu zählen auch berufliche und geschäftliche Beziehungen. Wie stark das Privatleben ausgeprägt ist, hängt in erster Linie von der Dauer des Aufenthalts ab. Für die Annahme eines in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fallenden Privatlebens ist keine konkrete Mindestaufenthaltsdauer erforderlich. Die bereits in Österreich verbrachte Zeit und die dabei erfolgte Integration ist erst bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beachten (vgl. Peyerl/Czech in Abermann ua. (Hrsg), NAG § 11 Rz 38).

Wie der Verfassungsgerichtshof (VfGH) bereits in zwei Erkenntnissen vom 29.09.2007, Zl. B 328/07 und Zl. B 1150/07, dargelegt hat, sind die Behörden stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In den zitierten Entscheidungen wurden vom VfGH auch unterschiedliche – in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fallbezogen entwickelte – Kriterien aufgezeigt, die in jedem Einzelfall bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:

•        die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 16.09.2004, Ghiban, Zl. 11103/03, NVwZ 2005, 1046),

•        das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20.06.2002, Al-Nashif, Zl. 50963/99, ÖJZ 2003, 344; 22.04.1997, X, Y und Z, Zl. 21830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00),

•        die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

•        den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR 04.10.2001, Adam, Zl. 43359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Slivenko, Zl. 48321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Sisojeva, Zl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 05.07.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124),

•        die Bindungen zum Heimatstaat,

•        die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 11.04.2006, Useinov, Zl. 61292/00), sowie

•        auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 05.09.2000, Solomon, Zl. 44328/98; 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567; 21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99; 23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09).

Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u.a., Zl. 26940/10).

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in seiner ständigen Rechtsprechung, dass bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben des Fremden eingegriffen wird, eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist, die auf alle Umstände des Einzelfalles Bedacht nimmt. Bei dieser Abwägung kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird, die im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich führen kann (vgl. etwa VwGH vom 29.02.2012, 2010/21/0310 bis 0314 und 2010/21/0366, mwN).

Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK ist daher auch der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zu berücksichtigten (vgl. etwa EGMR, Bensaid/Vereinigtes Königreich, vom 06.02.2001, Zahl 44599/98, Rz 46f). Die Notwendigkeit der Behandlung einer Erkrankung (nur) in Österreich kann auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK im Sinne einer hierdurch bewirkten Verstärkung des Interesses an einem Verbleib im Bundesgebiet Bedeutung zukommen (vgl. VwGH vom 05.07.2011, 2008/21/0282 mwN; vom 29.02.2012, 2010/21/0310 und vom 24.08.2015, Ra 2014/18/0146). Die diesbezügliche Rechtsprechung des VwGH verwies in weiterer Folge auf die EGMR Judikatur zu N./Vereinigtes Königreich (EGMR vom 19.02.2009, Nr. 26565/05), wobei nunmehr die Kriterien des Erkenntnisses des EGMR vom 13.12.2016, Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien, heranzuziehen sind. Während bei einer Beurteilung der Auswirkung einer Krankheit bzw. einer Behandlungsnotwendigkeit in Österreich auf die privaten Interessen eines Betroffenen nicht die gleiche Eingriffsintensität wie nach Art. 3 EMRK gefordert ist, sind die Prüfungsparameter der Rechtsprechung des EGMR nunmehr nach Paposhvili/Belgien entsprechend mitzubedenken.

Bei einer Abwägung iSd. Art 8 EMRK kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird, die im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich führen kann (Hinweis Erkenntnisse vom 29. Februar 2012, 2010/21/0310 bis 0314 und 2010/21/0366, mwN). So muss das Verwaltungsgericht bei Vorliegen einer maßgeblichen Erkrankung, die eine jederzeitige medizinische Behandlung erforderlich und eine Rückkehr in den Herkunftsstaat für den Fremden gesundheits- oder lebensgefährdend machen kann, dieses besondere private Interesse am vorübergehenden Verbleib in Österreich gegen das öffentliche Interesse an einer sofortigen Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet abwägen. Im Allgemeinen hat zwar kein Fremder ein Recht, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet (Hinweis E vom 29. April 2010, 2009/21/0055). Das schließt aber nicht aus, dass im Falle einer maßgeblichen Erkrankung mit negativen Verlauf, ein beachtenswertes privates Interesse des Fremden (auch) im Sinne des Art. 8 MRK vorliegt, den Aufenthalt vorübergehend zu verlängern. (vgl. VwGH 28.04.2015, Ra 2014/18/0146).

„In Bezug auf die Behauptung der Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung haben die für die Beurteilung nach Art. 3 EMRK maßgeblichen Kriterien grundsätzlich auch in die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK einzufließen (vgl. nochmals das bereits erwähnte Erkenntnis vom 13. September 2011).“ (vgl. VwGH 15.10.2015, Ra 2015/20/0218)

Das persönliche Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. aus jüngerer Zeit etwa das hg. Erkenntnis vom 10. November 2015, Ro 2015/19/0001, mwN; zur Übertragbarkeit der zu früher geltenden Rechtslagen des FPG ergangenen Rechtsprechung zur Interessenabwägung bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf die seit 1. Jänner 2014 geltende Rechtslage nach dem BFA-VG vgl. das hg. Erkenntnis vom 12. November 2015, Ra 2015/21/0101). […] (vgl. 15.12.2015,
Zl. Ra 2015/19/0247)

3.2.4. Der BF verfügt nicht über zum Aufenthalt berechtigte familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich sodass gegenständlich von einem schützenswerten Privat-, nicht jedoch Familienleben iSd. Art 8 EMRK auszugehen ist. (vgl. Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerber und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860). Dieses muss jedoch aufgrund des Wissens des BF um anfängliche Unsicherheit und gegenwärtige Unrechtmäßigkeit seines Aufenthaltes in Österreich eine Schmälerung hinnehmen; konnte der BF keinesfalls ernsthaft von einem dauerhaften Verbleib im Bundesgebiet ausgehen.

Wenn der BF auch keine besonderen Integrationssachverhalte und rechtmäßige Erwerbstätigkeiten vorweisen kann, so ist gegenständlich in Anschlag zu bringen, dass er sich seit nunmehr 5 ½ Jahren durchgehend in Österreich aufhält und an einer schweren Erkrankung leidet, derentwegen er wiederholt Operationen über sich ergehen hat lassen müssen. Zudem stehen weitere Operationen bzw. Behandlungsschritte an und hat der BF dennoch Bemühungen hinsichtlich des Erlernens der Deutschen Sprache angestrengt und hat sich in strafgerichtlicher Hinsicht nichts zu Schulden kommen lassen.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in seiner ständigen Rechtsprechung, dass bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben des Fremden eingegriffen wird, eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist, die auf alle Umstände des Einzelfalles Bedacht nimmt. Bei dieser Abwägung kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird, die im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich führen kann (vgl. etwa VwGH vom 29.02.2012, 2010/21/0310 bis 0314 und 2010/21/0366, mwN).

Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK ist daher auch der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zu berücksichtigten (vgl. etwa EGMR, Bensaid/Vereinigtes Königreich, vom 06.02.2001, Zahl 44599/98, Rz 46f). Die Notwendigkeit der Behandlung einer Erkrankung (nur) in Österreich kann auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK im Sinne einer hierdurch bewirkten Verstärkung des Interesses an einem Verbleib im Bundesgebiet Bedeutung zukommen (vgl. VwGH vom 05.07.2011, 2008/21/0282 mwN; vom 29.02.2012, 2010/21/0310 und vom 24.08.2015, Ra 2014/18/0146). Die diesbezügliche Rechtsprechung des VwGH verwies in weiterer Folge auf die EGMR Judikatur zu N./Vereinigtes Königreich (EGMR vom 19.02.2009, Nr. 26565/05), wobei nunmehr die Kriterien des Erkenntnisses des EGMR vom 13.12.2016, Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien, heranzuziehen sind. Während bei einer Beurteilung der Auswirkung einer Krankheit bzw. einer Behandlungsnotwendigkeit in Österreich auf die privaten Interessen eines Betroffenen nicht die gleiche Eingriffsintensität wie nach Art. 3 EMRK gefordert ist, sind die Prüfungsparameter der Rechtsprechung des EGMR nunmehr nach Paposhvili/Belgien entsprechend mitzubedenken.

Mit Blick auf die Länderfeststellungen muss festgestellt werden, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass der BF in seinem Herkunftsstaat eine adäquate Behandlung seiner Erkrankung, insbesondere in einem angemessenem Zeitraum, erhalten wird können. Wenn sich auch die medizinische Versorgungslage im Kosovo seit 2015 weiter gebessert hat, so bestehen nach wie vor Mängel insbesondere in der orthopädischen und chirurgischen Versorgung kosovarischer Staatsbürger, aufgrund von Fach-Ärztemangel sowie veralteter medizinischer Ausstattung und begrenzter Ressourcen. Für eine allfällige Behandlung im Ausland sind jahrelange Wartezeiten hinzunehmen und steht im Kosovo im Übrigen nur eine medizinische Einrichtung für die Durchführung komplexerer Operationen zur Verfügung. Letztlich wurde auch seitens der den BF behandelnden Ärzteschaft die Möglichkeit der Vornahme adäquater Behandlungen im Kosovo angezweifelt. (siehe A2 AS 251)

In Anbetracht dessen erscheint der doch erhebliche notwendige – das Führen eines unabhängigen, schmerzfreien und unfallfreien Lebens bedingender – Behandlungsbedarf des BF nach Ansicht des erkennenden Gerichts im konkreten Fall als geeignet, die privaten Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet ausreichend zu verstärken.

Es wird nicht verkannt dass ein großes öffentliches Interesse an der Beachtung fremdenrechtlicher, die Einreise und den Aufenthalt in Österreich regelnden Normen, sowie an der Beendigung unrechtmäßiger Aufenthalte in Österreich (vgl. VwGH 09.03.2003, 2002/18/0293) besteht. Eine Abwägung all der sich widerstreitenden Interessen hat im gegenständlich konkreten Einzelfall dennoch ein Überwiegen der Interessen des BF gegenüber jenen der Republik Österreich zur Folge.

Insofern sohin eine Aufenthaltsbeendigung aufgrund des Überwiegens der privaten Interessen des BF einen unrechtmäßigen Eingriff in dessen geschützten Rechte iSd. Art 8 EMRK bedeuten würde und zudem ein Behandlungsende aus aktueller Sicht nicht abgesehen werden kann, erweist sich eine Rückkehrentscheidung für auf Dauer als unzulässig und liegen gegenständlich die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels iSd. § 55 AsylG an den BF vor. (vgl. Szymanski, AsylG § 55 Anm. 1, in Schrefler-König/Szymanski (Hrsg) Fremdenpolizei- und Asylrecht Teil II: wonach § 55 AsylG das Bleiberecht iSd. der Judikatur des VfGH um setzt, und hierfür Bedingung sei, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Hinblick auf Art 8 EMRK auf Dauer unzulässig ist; sowie Szymanski, BFA-VG § 9 Rz. 14, in Schrefler-König/Szymanski (Hrsg) Fremdenpolizei- und Asylrecht Teil I: wonach eine Ausweisung insbesondere dann auf Dauer unzulässig sei, wenn das Ende der Unzulässigkeit zwar denkbar aber nicht absehbar ist.)

Der mit „Modul 1 der Integrationsvereinbarung“ betitelte § 9 IntG lautet:

„§ 9. (1) Drittstaatsangehörige (§ 2 Abs. 1 Z 6 NAG) sind mit erstmaliger Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung verpflichtet. Diese Pflicht ist dem Drittstaatsangehörigen nachweislich zur Kenntnis zu bringen.

(2) Der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 1 haben Drittstaatsangehörige binnen zwei Jahren ab erstmaliger Erteilung des Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG nachzukommen. Unter Bedachtnahme auf die persönlichen Lebensumstände des Drittstaatsangehörigen kann der Zeitraum der Erfüllungspflicht auf Antrag mit Bescheid verlängert werden. Diese Verlängerung darf die Dauer von jeweils zwölf Monaten nicht überschreiten; sie hemmt den Lauf der Fristen nach § 14.

(2a) Fällt das Ende der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 1 in die Zeit von 22. März 2020 bis 30. Juni 2020, verlängert sich der Zeitraum der Erfüllungspflicht nach Abs. 2 bis zum 31. Oktober 2020; diese Verlängerung hemmt den Lauf der Fristen nach § 14.

(3) Für die Dauer von fünf Jahren ab Ablauf der Gültigkeit des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG werden bereits konsumierte Zeiten der Erfüllungspflicht auf den Zeitraum der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 2 angerechnet.

(4) Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige

1.       einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 vorlegt,

(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. III Z 15, BGBl. I Nr. 41/2019)

3.       über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 Universitätsgesetz 2002, BGBl. I Nr. 120/2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht,
4.         einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte“ gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt oder
5.         als Inhaber eines Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung – Künstler“ gemäß § 43a NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs. 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz, BGBl. I Nr. 146/1988, genannten Kunstsparte ausübt; bei Zweifeln über das Vorliegen einer solchen Tätigkeit ist eine diesbezügliche Stellungnahme des zuständigen Bundesministers einzuholen.

Die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10) beinhaltet das Modul 1.

(5) Ausgenommen von der Erfüllungspflicht gemäß Abs. 1 sind Drittstaatsangehörige,
1.         die zum Ende des Zeitraums der Erfüllungspflicht (Abs. 2) unmündig sein werden;
2.         denen auf Grund ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustands die Erfüllung nicht zugemutet werden kann; der Drittstaatsangehörige hat dies durch ein amtsärztliches Gutachten nachzuweisen;

3.       wenn sie schriftlich erklären, dass ihr Aufenthalt die Dauer von 24 Monaten innerhalb von drei Jahren nicht überschreiten soll; diese Erklärung enthält den unwiderruflichen Verzicht auf die Stellung eines weiteren Verlängerungsantrags im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 11 NAG nach dem ersten Verlängerungsantrag.

(6) Die Behörde kann von Amts wegen mit Bescheid feststellen, dass der Drittstaatsangehörige trotz Vorliegen eines Nachweises gemäß Abs. 4 Z 1 das Modul 1 der Integrationsvereinbarung mangels erforderlicher Kenntnisse gemäß § 7 Abs. 2 Z 1 nicht erfüllt hat.

(7) Der Nachweis über die Erfüllung des Moduls 1 gemäß Abs. 4 Z 1 oder Abs. 4 iVm. § 10 Abs. 2 Z 1 darf zum Zeitpunkt der Vorlage im Rahmen eines Verlängerungsverfahrens (§ 24 NAG) nicht älter als zwei Jahre sein.“

Da der BF durch die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung iSd. § 11 IntG den Tatbestand des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Abs. 4 Z 1 IntG erfüllt hat, war der Beschwerde stattzugeben und dem BF spruchgemäß ein Aufenthaltstitel gemäß § 55 Abs. 1 Z 1 iVm. 54 Abs. 2 AsylG „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten zu erteilen. Ausschlussgründe iSd. § 60 AsylG liegen nicht vor.

Demzufolge war spruchgemäß zu entscheiden.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. N

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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