TE Vwgh Beschluss 2020/10/21 Ra 2020/19/0288

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Veröffentlicht am 21.10.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
MRK Art2
MRK Art3
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des M H, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. April 2020, W260 2170287-1/22E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 9. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er sei im Iran von einer unbekannten Person beauftragt worden, nach Syrien zu gehen, um dort zu kämpfen. Im Laufe des Verfahrens brachte der Revisionswerber darüber hinaus unter anderem vor, dass er als Rückkehrer als „verwestlicht“ wahrgenommen würde und aufgrund seiner Volkszugehörigkeit zu den Hazara als Flüchtling anzuerkennen sei.

2        Mit Bescheid vom 9. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27. März 2018 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4        Mit Beschluss vom 3. Juli 2020, E 1449/2020-8, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        In ihrer Zulässigkeitsbegründung bringt die Revision zunächst zusammengefasst vor, dass der Revisionswerber während seines fast fünfjährigen Aufenthaltes in Österreich die hier geltenden westlichen Werte übernommen habe und sich vollständig mit diesen identifiziere. Das BVwG hätte sich auf der Grundlage der aktuellsten Länderberichte damit auseinandersetzen müssen, ob und bejahendenfalls mit welchen Sanktionen der Revisionswerber sowohl von staatlicher als auch nicht-staatlicher Seite aufgrund seiner Zugehörigkeit zur ethnisch-religiösen Minderheit der schiitischen Hazara und aufgrund seines in Österreich gelebten, westlich orientierten Lebensstils bei Rückführung nach Afghanistan rechnen müsse, ob diese Reaktionen nach ihrer Schwere als Verfolgung angesehen werden könnten und ob ihm - im Falle einer von nicht-staatlichen Akteuren ausgehenden Verfolgung - effektiver Schutz durch den afghanischen Staat gewährt werden würde.

9        Dazu ist festzuhalten, dass das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung feststellte, dass der Revisionswerber sich in Österreich keine westliche Lebenseinstellung angeeignet habe, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden sei und die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würden (vgl. dazu VwGH 26.2.2020, Ra 2020/18/0059, Rz 11). Dem Revisionswerber gelingt es nicht, diese Einschätzung des BVwG in Zweifel zu ziehen. Zudem wurde das Vorbringen, der Revisionswerber sei mittlerweile der islamischen Religion gegenüber gleichgültig eingestellt, trinke Alkohol, esse Schweinefleisch und müsse dieses von westlichen Werten geprägte Verhalten in Afghanistan unterdrücken, erstmals in der Revision erstattet, sodass der Berücksichtigung dieses Vorbringens im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof das aus § 41 VwGG abzuleitende Neuerungsverbot entgegensteht.

10       Darüber hinaus setzte sich das BVwG mit der Situation der schiitischen Minderheit der Hazara in Afghanistan und der Frage einer drohenden Verfolgung des Revisionswerbers aufgrund seiner Volks- und Religionsgruppenzugehörigkeit näher auseinander und kam - unter Bezugnahme auf aktuelle Länderberichte - zu dem Schluss, dass das Vorliegen einer Gruppenverfolgung in Hinblick auf die Volksgruppe der Hazara oder von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Schiiten in Afghanistan zu verneinen sei. Mit den allgemeinen Ausführungen zur Situation von Angehörigen der schiitischen Minderheit der Hazara wird vor diesem Hintergrund nicht aufgezeigt, dass das BVwG von den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Leitlinien (vgl. zur Gruppenverfolgung etwa VwGH vom 17.12.2015, Ra 2015/20/0048, mwN) abgewichen wäre.

11       Darüber hinaus bemängelt die Revision ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative und bringt dazu unter anderem vor, das BVwG habe sich nicht mit den Auswirkungen des Covid-19-Virus auf den Revisionswerber im Falle einer Außerlandesbringung nach Afghanistan auseinandergesetzt, sondern sich vielmehr auf die Feststellungen beschränkt, dass in Afghanistan mit Stand vom 9. April 2020 444 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 14 Todesfälle registriert worden seien, und der Revisionswerber keine Vorerkrankung aufweise bzw. gesund sei. Zu diesem Zeitpunkt sei aber schon absehbar gewesen, dass sich die Verbreitung von Covid-19 verheerend auf die sozioökonomischen Gegebenheiten und das Gesundheitssystem in Afghanistan auswirken und somit zu einer Gefährdung des Revisionswerbers im Falle von dessen Außerlandesbringung nach Afghanistan führen würde.

12       Werden Verfahrensmängel - wie hier Feststellungs- und Ermittlungsmängel - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt (in Bezug auf Feststellungsmängel) voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten. Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn die Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0188, mwN). Eine dem Genüge tuende Relevanzdarlegung ist der Revision jedoch nicht zu entnehmen.

13       Bei der Prüfung, ob dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht, berücksichtigte das BVwG Länderberichte, die EASO-Guidelines zu Afghanistan aus 2018 und 2019 wie auch die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018. Dabei ging das BVwG davon aus, dass der Revisionswerber, ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der über eine gute Ausbildung verfüge und mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei, in der Stadt Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative vorfinde, deren Inanspruchnahme ihm auch ohne soziales Netz bzw. familiäre Anknüpfungspunkte zumutbar sei (vgl. zum Prüfmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; 26.3.2020, Ra 2019/14/0079, jeweils mwN).

14       Auf Grundlage dieser Feststellungen vermag die Revision nicht aufzuzeigen, dass die Beurteilung des BVwG unvertretbar wäre. Es entspricht nämlich der auf vergleichbarer Sachverhaltsgrundlage ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass es einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrsche, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei und die Möglichkeit habe, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden könne, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren worden sei, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan habe, sondern im Iran aufgewachsen sei (vgl. VwGH 18.7.2019, Ra 2019/19/0197, mwN).

15       Das BVwG traf im Rahmen dieser Prüfung auch Feststellungen zur Situation in Bezug auf Covid-19 mit Stand vom 9. April 2020 (dem Datum des Erkenntnisses) zu den bestätigten Krankheitsfällen in Österreich (12.969) und Afghanistan (444) und beschrieb den Verlauf einer solchen Viruserkrankung, vor allem im Hinblick auf Risikogruppen. Weiters führte es aus, dass der Revisionswerber gesund sei.

16       Die Revision tritt den dazu getroffenen Feststellungen nicht entgegen, beruft sich aber zur wirtschaftlichen Situation in Afghanistan auf einen „aktuellen Situationsbericht in Bezug auf Covid-19“ von F. S. vom 27. März 2020 hinsichtlich der Auswirkungen der Pandemie auf die Situation der Menschen vor Ort und von Rückkehrern.

17       Es mag - abgesehen davon, dass ein Ermittlungsmangel nicht erkennbar ist - zutreffen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan aufgrund der Maßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19 verschlechtert haben. Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es aber nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen -wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. erneut VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0188, mwN)

18       Die Revision vermag mit den pauschalen, auf die allgemeine Situation in Afghanistan bezogenen Ausführungen nicht darzutun, dass das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Beurteilung von diesen Leitlinien abgewichen wäre. Zum Einen zeigt sie nicht fallbezogen und konkret den Revisionswerber betreffend auf, welche individuellen Feststellungen zur Person des Revisionswerbers mit Blick auf die „Covid-19 Situation“ zu treffen gewesen wären. Zum Anderen legt die Revision mit ihrem Hinweis auf den oben genannten „Situationsbericht in Bezug auf Covid-19“ weder dar, dass in der Stadt Mazar-e Sharif solche exzeptionellen Umstände vorlägen, die eine Verletzung der nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte des Revisionswerbers darstellten, noch dass dem - ungeachtet der schwierigeren wirtschaftlichen Lage - gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerber eine Ansiedlung unter Berücksichtigung der aktuellen Lage - auch in Bezug auf die Sicherheitslage - dort nicht zumutbar wäre (vgl. zum Ganzen erneut VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0188, mwN).

19       Unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung wendet sich die Revision weiters gegen die Rückkehrentscheidung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. VwGH 16.6.2020, Ra 2020/19/0046, mwN). Eine vom Verwaltungsgerichtshof als Zulässigkeitsgrund aufzugreifende Mangelhaftigkeit des Verfahrens des BVwG bzw. eine Unvertretbarkeit der Interessenabwägung vermag die Revision im vorliegenden Fall jedoch nicht darzulegen.

20       Soweit die Zulässigkeitsbegründung schließlich das Unterbleiben einer weiteren Verhandlung rügt, gelingt es ihr nicht, die Relevanz des behaupteten Verfahrensmangels darzutun (vgl. VwGH 28.11.2019, Ra 2019/19/0328, mwN).

21       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 21. Oktober 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190288.L00

Im RIS seit

24.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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