TE OGH 2020/10/13 10ObS117/20h

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Veröffentlicht am 13.10.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 Z 2 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. S*****, vertreten durch Mag. Boris Knirsch, Mag. Michael Braun und Mag. Christian Fellner, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Juli 2020, GZ 9 Rs 56/20a-23, womit infolge Rekurses der beklagten Partei der Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 29. Mai 2020, GZ 59 Cgs 66/19y-19, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird in seinem Spruchpunkt I) aufgehoben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Beklagten aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

II. Aus Anlass des Revisionsrekurses der klagenden Partei wird die Entscheidung des Rekursgerichts im Umfang des Spruchpunkts II) dessen Entscheidung als nichtig aufgehoben.

Text

Begründung:

[1]            Mit Bescheid vom 9. 4. 2019 kürzte die Wiener Gebietskrankenkasse das der Klägerin für ihr am 9. 12. 2015 geborenes Kind zuerkannte Kinderbetreuungsgeld ab dem 9. 9. 2016 um 16,50 EUR täglich. Sie sprach aus, dass der Bezug von Kinderbetreuungsgeld in der Höhe von 49,16 EUR (täglich) für die Zeit von 9. 9. 2016 bis 8. 12. 2016 durch die Klägerin zu Unrecht erfolgt sei und trug der Klägerin die Rückzahlung des Kinderbetreuungsgeldes im Ausmaß von 1.501,50 EUR binnen 14 Tagen auf.

[2]       Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 9. 9. 2016 bis 8. 12. 2016 im vollen gesetzlichen Ausmaß und die Feststellung, dass die Rückersatzforderung in Höhe von 1.501,50 EUR nicht zu Recht bestehe.

[3]       Mit Urteil vom 7. 11. 2019, GZ 59 Cgs 66/19y-8, gab das Erstgericht dem Klagebegehren statt. Dieses Urteil wurde der Beklagten am 24. 1. 2020 zugestellt.

[4]            Am 22. 2. 2020 brachte die Beklagte elektronisch die Berufung gegen dieses Urteil ein.

[5]            Mit Beschluss vom 26. 3. 2020, GZ 9 Rs 30/20b (ON 12), wies das Berufungsgericht die Berufung als verspätet zurück, weil die Berufungsfrist am 21. 2. 2020 geendet habe. In der Begründung seiner Entscheidung führte das Berufungsgericht aus, dass gegen seinen Beschluss der Rekurs zulässig sei, ohne dass ein entsprechender Ausspruch zu treffen wäre. Die Entscheidung des Berufungsgerichts wurde der Beklagten am 21. 4. 2020 zugestellt.

[6]            Am 4. 5. 2020 stellte die Beklagte einen Antrag, der ausdrücklich als „Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ bezeichnet ist (ON 13). Sie begehrt darin die „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die Frist zur rechtzeitigen Einbringung der Berufung und beantragt weiters, den dazu ergangenen Beschluss des OLG Wien vom 26. 3. 2020 aufzuheben sowie die gegenständliche Berufung so zu behandeln, als wäre sie von Beginn an fristgerecht eingebracht worden“. Die Beklagte führte aus, sie sei durch ein unabwendbares bzw unvorhergesehenes Ereignis an der rechtzeitigen Einbringung ihrer Berufung gehindert worden. Sie habe infolge von Problemen bei der Übermittlung der Berufung im ERV am 21. 2. 2020 die Berufung auch per Telefax an das Erstgericht gesandt. Diese Eingabe habe jedoch entweder das Gericht nicht erreicht oder sei dort in Verstoß geraten. Der Umstand der etwaigen Verspätung des Rechtsmittels sei der Beklagten erst aus Anlass der Zustellung des Zurückweisungsbeschlusses des Berufungsgerichts am 21. 4. 2020 aufgefallen. Die unüblich lange Einbringungsdauer auf elektronischem Weg durch das Web-ERV-Programm sowie die offenbar übergangene Einbringung des Telefax stellten unvorhersehbare und unbeeinflussbare Ereignisse für die Beklagte dar. Unter Bezugnahme auf § 149 ZPO schloss die Beklagte diesem Antrag neuerlich die Berufung an.

[7]            Das Erstgericht wies den Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist ab. Eine Säumnis der Beklagten bei der Einbringung der Berufung liege nicht vor.

[8]            Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Beklagten Folge und fasste insgesamt folgenden Beschluss:

„I. Dem Rekurs wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluss ersatzlos behoben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer erfolglosen Rekursbeantwortung selbst zu tragen.

Der Revisionsrekurs ist nicht zulässig.

II. Dem als Rekurs gegen den Beschluss des Berufungsgerichtes vom 26. 3. 2020, 9 Rs 30/20b, zu behandelnden Antrag der beklagten Partei auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist wird Folge gegeben. Der Zurückweisungsbeschluss des Berufungsgerichtes vom 26. 3. 2020 wird aufgehoben und das gesetzmäßige Verfahren über die Berufung der beklagten Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund eingeleitet.“

[9]            Zu Punkt I) des Spruchs führte das Rekursgericht aus: Die Beklagte habe sich in ihrem Wiedereinsetzungsantrag inhaltlich und im Ergebnis gegen den Beschluss des Berufungsgerichts vom 26. 3. 2020 (ON 12) gewendet, mit dem die Berufung als verspätet zurückgewiesen worden sei. Dies wäre richtigerweise mit Rekurs geltend zu machen. Die unrichtige Bezeichnung des Rechtsmittels der Beklagten schade gemäß § 84 Abs 2 ZPO nicht. Da der Wiedereinsetzungsantrag als Rekurs zu behandeln sei und darüber das Rekursgericht zu entscheiden habe, sei der Beschluss des Erstgerichts ersatzlos zu beheben. Der Revisionsrekurs sei mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 528 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[10]           Zu Punkt II) des Spruchs führte das Rekursgericht aus: Infolge der bereits am 21. 2. 2020 per Telefax und am 22. 2. 2020 im Weg des ERV übermittelten Berufung sei diese fristgerecht erfolgt, sodass sie das Berufungsgericht zu Unrecht als verspätet zurückgewiesen habe. Dem Rekurs der Beklagten sei daher – unter Anwendung des § 522 Abs 1 ZPO – Folge zu geben und das Berufungsverfahren einzuleiten.

[11]     Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin mit dem Antrag, den Beschluss des Erstgerichts, sowie „den Beschluss des Gerichts zweiter Instanz vom 26. 3. 2020“ wiederherzustellen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[12]           In der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung beantragt die beklagte Österreichische Gesundheitskasse die Zurück-, hilfsweise die Abweisung des Revisionsrekurses.

Rechtliche Beurteilung

[13]           Der außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht die Bestimmung des § 84 Abs 2 Satz 2 ZPO unrichtig angewandt hat; er ist auch im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[14]     Zur Frage der „Umdeutung“ des Wiedereinsetzungsantrags in einen Rekurs:

[15]     § 84 Abs 2 Satz 2 ZPO ordnet an, dass die unrichtige Benennung eines Rechtsmittels, eines Rechtsbehelfs oder von Gründen unerheblich ist, wenn das Begehren deutlich erkennbar ist.

[16]           Nach der Rechtsprechung hindert die unrichtige Benennung eines Rechtsmittels nicht dessen Behandlung in einer dem Gesetz entsprechenden Weise (RS0036258), insbesondere wenn das Begehren deutlich erkennbar ist (RS0036410) und das Rechtsmittel sonst alle Inhaltserfordernisse eines statthaften Rechtsmittels aufweist (RS0036652). Auch eine unrichtige oder unvollständige Bezeichnung der Rechtsmittelgründe gereicht dem Rechtsmittelwerber nicht zum Schaden, wenn die Rechtsmittelausführungen die Beschwerdegründe deutlich erkennen lassen (RS0041851). Der Rechtsmittelantrag zur Abgrenzung des Anfechtungsumfangs bedarf keiner besonderen Formulierung; es genügt, wenn der Zusammenhang der Rechtsmittelschrift verlässlich erkennen lässt, was der Rechtsmittelwerber erreichen will. Rechtsmittelgründe und -antrag stehen in einem logischen Zusammenhang, sodass bei der Beurteilung des Umfangs der Anfechtung auch die Rechtsmittelgründe zu berücksichtigen sind. Ein Vergreifen im Ausdruck bei der Formulierung des Antrags schadet nicht (RS0042142). Die Frage, ob ein Rechtsmittel oder Rechtsbehelf nur falsch bezeichnet oder ein der Zivilprozessordnung widersprechender Verfahrensschritt beabsichtigt wurde, kann nur durch Auslegung des Vorbringens im Einzelfall beantwortet werden (RS0036258 [T12]).

[17]           Beim Wiedereinsetzungsantrag der – qualifiziert vertretenen, § 40 Abs 1 Z 3 ASGG – Beklagten vom 4. 5. 2020 (ON 13) handelt es sich nicht um einen Rekurs, weil keine bloße Falschbezeichnung eines Rechtsmittels vorliegt (2 Ob 90/20d).

[18]           Der Antrag weist, worauf die Revisionsrekurswerberin zutreffend hinweist, nicht die Inhaltserfordernisse eines Rekurses auf, sondern bezieht sich im Gegenteil ausdrücklich auf die für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß den §§ 146 ff ZPO erforderlichen Merkmale und Voraussetzungen. Dies gilt auch für das von der Beklagten formulierte Rechtsschutzbegehren, bei dem von einem „Vergreifen im Ausdruck bei der Formulierung des Antrags“ keine Rede sein kann. Im Einklang damit führt die Beklagte auch in ihrem Rekurs gegen die Entscheidung des Erstgerichts wörtlich aus (ON 20, AS 111): „Folglich war daher auch der oben genannte Beschluss des OLG Wien auch nicht mittels Rekurs zu bekämpfen, sondern war der hier einzig aussichtsreiche und von der beklagten Partei letztendlich herangezogene Rechtsbehelf in diesem Fall die gegenständlich eingebrachte Wiedereinsetzung.“

[19]           Zu Spruchpunkt I) der Entscheidung des Rekursgerichts:

[20]           Aus diesen Gründen ist der Antrag der Beklagten vom 4. 5. 2020 (ON 13) auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist nicht als
– bloß im Sinn des § 84 Abs 2 Satz 2 ZPO unrichtig bezeichneter – Rekurs gegen den Beschluss des Berufungsgerichts vom 26. 3. 2020, GZ 9 Rs 30/20b (ON 12), mit dem die Berufung der Beklagten als verspätet zurückgewiesen wurde, zu behandeln. Zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag war das Erstgericht berufen, weil die Berufung bei diesem Gericht einzubringen war (§ 148 Abs 1, § 465 ZPO). Die Begründung des Rekursgerichts trägt nicht die von ihm entschiedene ersatzlose Behebung des erstgerichtlichen Beschlusses.

[21]           Dem außerordentlichen Revisionsrekurs der Klägerin war daher im Sinn des Aufhebungsantrags Folge zu geben. Das Rekursgericht wird im fortgesetzten Verfahren über den Rekurs der Beklagten (neuerlich) zu entscheiden haben.

[22]           Zu Spruchpunkt II) der Entscheidung des Rekursgerichts:

[23]           Zur Wahrnehmung einer Nichtigkeit von Amts wegen genügt das Vorliegen eines zulässigen Rechtsmittels (RS0041942; RS0007095; RS0042973).

[24]           Das Rekursgericht war an den Gegenstand der angefochtenen Entscheidung des Erstgerichts sowie an den Anfechtungsgegenstand des Rekurses der Beklagten gebunden. Nach Maßgabe des Entscheidungsgegenstands hätte das Rekursgericht daher nur über den Rekurs der beklagten Partei gegen die Abweisung ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung der Berufung gegen das Urteil des Erstgerichts vom 7. 11. 2019 (ON 9) entscheiden dürfen. Zur Entscheidung über einen (nicht erhobenen) Rekurs gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts vom 26. 3. 2020, GZ 9 Rs 30/20b (ON 12), sowie über die Einleitung des Berufungsverfahrens war das Rekursgericht funktionell nicht zuständig. Die Missachtung des Entscheidungsgegenstands begründet Nichtigkeit (8 Ob 44/17d; 3 Ob 162/07f, 2. Entscheidung vom 19. 12. 2007; RS0042059 [T15]). Diese Nichtigkeit ist hier vom Obersten Gerichtshof aus Anlass des zulässigen Revisionsrekurses wegen des untrennbaren Konnexes dieses Entscheidungsteils der rekursgerichtlichen Entscheidung mit dem Entscheidungsgegenstand des Revisionsrekursverfahrens wahrzunehmen.

[25]     Der Vorbehalt der Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

Textnummer

E129803

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00117.20H.1013.000

Im RIS seit

23.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

23.11.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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