Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 11. November 2020 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Setz-Hummel und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter in Gegenwart der Schriftführerin Trsek in der Strafsache gegen ***** P***** wegen Verbrechen der Erpressung nach §§ 15, 144 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 24 Hv 6/20v des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 23. September 2020, AZ 8 Bs 317/20h, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
***** P***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Text
Gründe:
***** P***** wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 25. Februar 2020, GZ 24 Hv 6/20v-49, zweier Verbrechen der Erpressung nach §§ 15, 144 Abs 1 StGB (I./) und eines Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach (richtig:) §§ 15, 12 zweiter Fall, 302 Abs 1 StGB (II./) schuldig erkannt, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB eingewiesen.
Danach hat er in S*****
I./ mit dem Vorsatz, sich durch das Verhalten der Genötigten unrechtmäßig zu bereichern, durch gefährliche Drohung mit einer Verletzung am Körper in nachgenannten, an das Bezirksgericht D***** zu AZ ***** gerichteten, per Fax übermittelten Schreiben mit nachfolgenden Inhalten, die zuständige Rechtspflegerin zu einer Handlung, nämlich zur „EO-widrigen Beendigung bzw Rückabwicklung“ der von der Republik Österreich gegen ihn zum angeführten Aktenzeichen betriebenen Forderungs- und Fahrnisexekution, zu nötigen versucht, welche die Republik Österreich mit 256,36 Euro am Vermögen schädigen sollte, und zwar
A./ am 25. August 2019 durch das als „Einspruch gegen AZ: *****“ bezeichnete Schreiben, in dem er unter anderem ausführte: „Ich erbitte daher aufgrund meines begründeten Einspruchs bis Ende August eine Bestätigung per email, dass dieser Einspruch zur Kenntnis genommen wurde und auch keine Pfändung stattfindet! Wenn dies nicht beachtet wird und trotzdem Geld gepfändet wird, sehe ich mich zum Schritt der Selbstjustiz gezwungen!“,
B./ am 14. November 2019 durch das als „Beschwerde gegen Beschluss *****“ bezeichnete Schreiben mit dem sinngemäßen Inhalt, dass ein Beschluss im genannten Verfahren nicht rechtmäßig sei, weil er nicht an die bekannt gegebene E-Mail-Adresse, sondern per Post übermittelt wurde, verbunden mit der Forderung: „Daher ist mir nun das gepfändete Geld [gemeint, das im genannten Exekutionsverfahren per Gehaltsexekution exequierte Geld] bis spätestens 01. 12. 19 zurückzuzahlen, ansonsten werde ich zur Selbstjustiz schreiten, da ich mich in einer Demokratie befinde und nicht in einem Nazistaat! […] ENTWEDER IST BIS 01. 12. 19 DAS GELD ZURÜCKBEZAHLT ODER ICH GEHE DAGEGEN VOR, DA ICH MIR DIESES NAZI- UND SS-TUN NICHT MEHR GEFALLEN LASSE!“;
II./ durch die zu I./ beschriebenen Handlungen mit dem Vorsatz, die Republik Österreich in ihrem „Recht auf Eigentum und auf gerichtliche Durchsetzung und Einbringlichmachung ihrer Forderungen“ (vgl ON 49 S 4 in AZ 24 Hv 6/20v: an ihrem Vermögen) zu schädigen, eine Beamtin, nämlich die für dieses Exekutionsverfahren des Bezirksgerichts D***** zuständige Rechtspflegerin, wissentlich zu bestimmen versucht, ihre Befugnis, im Namen des Bundes als dessen Organ in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte vorzunehmen, zu missbrauchen.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 29. September 2020, AZ 14 Os 49/20t, zurückgewiesen (§ 285d Abs 1 StPO). Über die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wurde noch nicht entschieden, das Rechtsmittelverfahren ist beim Oberlandesgericht Graz zur AZ 8 Bs 355/20x anhängig.
Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Graz der Beschwerde des ***** P***** gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 3. September 2020, GZ 24 Hv 6/20v-93, mit dem die über den Genannten am 29. November 2019 verhängte Untersuchungshaft neuerlich fortgesetzt worden war, nicht Folge und setzte diese aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO fort.
Der dagegen gerichteten Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten, die sich gegen die Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr wendet, kommt keine Berechtigung zu.
Das Beschwerdevorbringen, es lägen „keine wiederholten oder fortgesetzten Handlungen“ vor, weil zu I./B und II./ iVm I./B von einem „absolut untaugliche[n] Versuch iSd § 15 Abs 3 StGB“ auszugehen sei, richtet sich der Sache nach gegen die Annahme dringenden Tatverdachts und das erstinstanzliche Urteil. Es entzieht sich einer inhaltlichen Erwiderung, weil die Dringlichkeit des Tatverdachts ab Fällung des Urteils erster Instanz im Grundrechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr zu überprüfen ist und die Beurteilung, ob das angefochtene Urteil mit (hier) materiellen Mängeln behaftet ist, dem Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde obliegt (RIS-Justiz RS0108486, RS0061107).
Die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren überprüft der Oberste Gerichtshof nur dahin, ob sie aus den im angefochtenen Beschluss angeführten bestimmten Tatsachen (vgl § 174 Abs 3 Z 4 StPO) abgeleitet werden durften, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich, demnach als nicht oder als offenbar unzureichend begründet, angesehen werden müsste (RIS-Justiz RS0117806, RS0118185; Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 49).
„Bestimmt“ sind die Tatsachen, wenn sie sich aus dem konkreten Einzelfall ergeben; es darf sich nicht um bloß allgemeine Erfahrungstatsachen handeln (erneut RIS-Justiz RS0118185 [T3]; Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 173 Rz 28).
Tatbegehungsgefahr im Sinn des § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO setzt die Befürchtung voraus, der Angeklagte werde auf freiem Fuß eine strafbare Handlung mit nicht bloß leichten Folgen (vgl dazu Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 173 Rz 43, 46) begehen, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist wie die ihm angelastete strafbare Handlung, wenn – hier relevant – ihm nunmehr wiederholte oder fortgesetzte Handlungen (s dazu Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 173 Rz 48 f mwN) angelastet werden.
Vorliegend bejahte das Oberlandesgericht, das auf Basis des – wenn auch zum damaligen Zeitpunkt nicht rechtskräftigen – Schuldspruchs rechtsrichtig vom dringenden Verdacht wiederholter strafbarer Handlungen ausging (BS 2 f; Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 173 Rz 4), den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr in den Varianten der Z 3 lit a und b des § 173 Abs 2 StPO, weil beim Angeklagten der „dringende Verdacht einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad in Form eines paranoid-querulatorischen Verhaltens“ bestehe und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten sei, er werde „neue Straftaten nach Art der wiederholten Anlasstaten, dh Taten mit (im Einzelfall) schweren (somit auch nicht bloß leichten) Folgen“ begehen. Diese Erwägungen konkretisierte es dahin, der Angeklagte werde „auf jede andere vergleichbare alltägliche Situation“, etwa den Versuch einer Person, eine berechtigte Forderung gegen ihn durchzusetzen oder die Aufforderung zur Bezahlung einer Strafe, nach Art der ihm angelasteten Straftaten reagieren, nämlich durch „Androhung (zumindest) einer Körperverletzung, um den mit der Einbringlichmachung befassten Beamten zur pflichtwidrigen Einstellung eines Exekutions- oder (Verwaltungs-)Strafverfahrens zu zwingen“, dies mit dem Vorsatz, „den Anspruchsberechtigten durch das Unterbleiben der Einbringung der Forderung am Vermögen zu schädigen und sich selbst unrechtmäßig zu bereichern“ (BS 3 f).
Indem der Angeklagte behauptet, der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO sei unbegründet geblieben, lässt er diese Erwägungen des Beschwerdegerichts gänzlich außer Acht. Dass dessen Begründung gegen die Kriterien logischen Denkens oder grundlegende Erfahrungssätze verstoße (vgl RIS-Justiz RS0118317), zeigt die Grundrechtsbeschwerde nicht auf.
Ein Eingehen auf das gegen die Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO gerichtete Vorbringen erübrigt sich daher (vgl RIS-Justiz RS0061196).
Die Grundrechtsbeschwerde, die keine Verletzung des verfassungsmäßig geschützten Rechts auf persönliche Freiheit aufzeigt, war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.
Textnummer
E129797European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0140OS00116.20W.1111.000Im RIS seit
23.11.2020Zuletzt aktualisiert am
23.11.2020