TE OGH 2020/11/17 33R109/20x

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Veröffentlicht am 17.11.2020
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Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden sowie die Richter Dr. Schober und Dr. Stiefsohn in der Rechtssache der klagenden Partei Ö*****, vertreten durch die Stix Rechtsanwälte Kommandit-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei A*****, vertreten durch Dr. Dieter-Leo Jedlicka, Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, wegen Unterlassung (EUR 19.620) und Löschung (EUR 8.720) über die Berufung der beklagten Partei gegen das Versäumungsurteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 15.9.2020, 56 Cg 10/19z-34, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben. Das angefochtene Versäumungsurteil wird aufgehoben.

Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Text

1. Die Klage wurde dem Beklagten mit Wirkung vom 6.3.2019 (Beginn der Abholfrist) zugestellt. Innerhalb der ihm gesetzten Frist für die Klagebeantwortung von vier Wochen brachte er am 8.4.2019 den Antrag auf Verfahrenshilfe ein.

Den Antrag des Klägers vom 11.4.2019, ein Versäumungsurteil zu erlassen, wies das Erstgericht mit Beschluss vom 30.4.2019 rechtskräftig (weil unbekämpft) ab. Mit demselben Beschluss bewilligte das Erstgericht dem Beklagten die Verfahrenshilfe, unter anderem auch durch Beigebung eines Verfahrenshelfers. Der mit Bescheid des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich vom 2.5.2019 nominierten Rechtsanwältin stellte das Erstgericht die Klage am 10.5.2019 zu.

Am 14.5.2019 langte der Rekurs des Klägers gegen die Bewilligung der Verfahrenshilfe beim Erstgericht ein.

Am 3.6.2019 erstattete die Verfahrenshelferin des Beklagten die Klagebeantwortung und wahrte dabei die Frist, die am 10.5.2019 begonnen hatte.

Mit Beschluss vom 9.7.2019 hob das Oberlandesgericht Wien die Bewilligung der Verfahrenshilfe mit der wesentlichen Begründung auf, dem Kläger sei keine Gelegenheit gegeben worden, zum Antrag Stellung zu nehmen (133 R 63/19s). In der Folge bewilligte das Erstgericht mit Beschluss vom 25.2.2020 neuerlich die Verfahrenshilfe, wiederum unter anderem durch Beigebung eines Verfahrenshelfers.

Am 31.8.2020 beantragte der Kläger die Erlassung eines Versäumungsurteiles, welches das Erstgericht am 15.9.2020 erließ.

2. Gegen dieses Versäumungsurteil richtet sich die Berufung des Beklagten, der unrichtige rechtliche Beurteilung und Nichtigkeit geltend macht. Er beantragt, das Berufungsgericht wolle in der Sache selbst entscheiden und das Klagebegehren abweisen; in eventu beantragt er die Aufhebung des Versäumungsurteils.

Der Kläger beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.

Der Beklagte verband mit der Berufung in eventu den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; in eventu den Widerspruch gegen das Versäumungsurteil. Der Reihenfolge im Schriftsatz ist zu entnehmen, dass er zuerst eine Entscheidung über die Berufung begehrt, sodann eine solche über den Wiedereinsetzungsantrag und zuletzt sich auf den Widerspruch gegen das Versäumungsurteil beruft.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

3. Als Ergebnis einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung nahm das Erstgericht bei der Erlassung des Versäumungsurteils an, der Beklagte sei mit der Erstattung der Klagebeantwortung säumig gewesen. Bei der Beurteilung der Säumigkeit des Beklagten stellt sich die Frage, ob die von der seinerzeitigen Verfahrenshelferin fristgerecht eingebrachte Klagebeantwortung dadurch ihre Wirksamkeit verloren hat, dass der Beschluss, mit dem dem Beklagten die Verfahrenshilfe bewilligt worden war, nachträglich vom Oberlandesgericht Wien aufgehoben wurde. In der seinerzeitigen Rekursentscheidung wurde diese Frage nicht thematisiert.

Das Berufungsgericht folgt nun der Rechtsansicht des Beklagten, dessen Hinweis auf die Regelung des § 68 Abs 4 ZPO als tragfähiges Argument dafür angesehen wird, dass die Rechtshandlung der seinerzeitigen Verfahrenshelferin wirksam war und wirksam bleibt. Dies erfordert ein Größenschluss, der sich daraus ziehen lässt, dass auch die – ex tunc wirkende – Entziehung der Verfahrenshilfe an der Berechtigung und Verpflichtung des Verfahrenshelfers, für die Partei zu handeln, bis die Entscheidung über die Entziehung rechtskräftig ist, nichts ändert. Aus dieser Anordnung folgt auch, dass die Prozesshandlungen, die während dieser Zeit gesetzt wurden, wirksam sind und wirksam bleiben. Im vorliegenden Fall hat das umso mehr zu gelten, als dem Beklagten in einer weiteren Entscheidung abermals die Verfahrenshilfe bewilligt wurde, nachdem das Formgebrechen behoben war, das das Oberlandesgericht Wien zur Aufhebung der ersten Bewilligung veranlasst hat.

Daran ändert auch die Anordnung des Gesetzes nichts, dass die Rechtskraft eines die Verfahrenshilfe entziehenden Beschlusses allfällige Fristen (etwa zur Klagebeantwortung) unterbricht und dass die volle Frist neu zu laufen beginnt; im vorliegenden Fall hatte der Beklagte die Frist zur Erstattung einer Klagebeantwortung bereits genutzt, sodass der neuerliche Fristbeginn nicht in Betracht kam.

Insgesamt wäre es auch widersinnig, dem Beklagten, der durch seine Verfahrenshelferin bereits einmal eine Frist gewahrt hat, eine abermalige Obliegenheit zuzurechnen, die Frist für die nämliche Prozesshandlung ein zweites Mal nützen zu müssen.

Da dem Versäumungsurteil durch das Fehlen einer Säumnis des Beklagten der Boden entzogen ist, war es aufzuheben. Das Erstgericht wird das ordentliche Verfahren durchzuführen haben.

4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Schlagworte

Zivilprozess; Verfahrenshilfe; Wirksamkeit von Prozesserklärungen des Verfahrenshelfers,

Textnummer

EW0001068

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2020:03300R00109.20X.1117.000

Im RIS seit

20.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

20.11.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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