Entscheidungsdatum
22.06.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W255 2197837-2/10E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Ronald EPPEL, MA über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.09.2018, Zl. 1143297010-180781945, beschlossen:
A)
Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 17.02.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Am 17.02.2017 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion XXXX die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF an, aus Afghanistan geflohen zu sein, da seine Familie Feindschaften habe und sein Onkel einen von den Feinden umgebracht habe. Seitdem wären die Feinde hinter ihm her.
1.3. Am 07.08.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) statt, in welcher der BF, zu seinen Fluchtgründen befragt, im Wesentlichen angab, Afghanistan wegen der Feindschaft, der Taliban und der Arbeitslosigkeit verlassen zu haben.
1.4. Mit Bescheid des BFA vom 18.04.2018, Zl. 1143297010-180781945, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.). Dieser Bescheid erwuchs mit 22.05.2018 in Rechtskraft.
1.5. Am 08.06.2018 beantragte der BF die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zwecks Wahrung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den unter Punkt 1.4. genannten Bescheid und reichte unter einem die Beschwerde nach.
1.6. Zwischen 10.07.2018 und 13.07.2018 reiste der BF aus dem österreichischen Bundesgebiet aus und in das deutsche Bundesgebiet ein.
1.7. Mit Bescheid des BFA vom 16.07.2018, Zl. 1143297010, wurde der Antrag des BF auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.
1.8. Am 16.08.2018 wurde der BF von Deutschland nach Österreich überstellt.
1.9. Am 16.08.2018 stellte der BF den zweiten, gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
1.10. Am 18.08.2018 fand die niederschriftliche Erstbefragung des BF vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion XXXX statt. Dabei gab der BF an, dass er nicht nach Afghanistan zurückkönne. Er habe Feinde und seine Familie Blutracheprobleme. Die Familie des BF sei in Pakistan, da sie auch wegen der Blutrache geflüchtet sei. Die Lage für Flüchtlinge in Pakistan sei schlecht. Die Feinde des BF hätten vor ca. fünf Monaten erfahren, dass der BF nach Europa geflüchtet sei.
1.11. Am 28.08.2018 wurde der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er Österreich verlassen habe und nach Deutschland gereist sei, weil er in Österreich eine negative Entscheidung erhalten habe. Er wolle auf keinen Fall zurück nach Afghanistan. Befragt, ob sich seit 22.05.2018 etwas an seinen Problemen geändert habe, gab der BF an, dass seine Feinde erfahren hätten, dass er sich in Europa aufhalte. Er habe damals nicht erzählt, dass seine Familie anfangs bereits nach Pakistan gereist gewesen wäre, als der BF noch nicht geboren gewesen sei. Die Feindschaft seiner Familie habe schon vor der Geburt des BF bestanden. Der BF sei in Pakistan geboren worden. Er habe dort längere Zeit gelebt und sei dann mit seiner Familie nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2016 habe seine Familie gesagt, dass es zu gefährlich für den BF wäre und er nach Pakistan zurückkehren solle. Seit 1,5 Jahren sei seine Familie wieder in Pakistan. Der BF habe im ersten Asylverfahren angegeben, dass sein Vater jemanden im Zuge der Auseinandersetzungen wegen Blutfehde umgebracht habe; in Wahrheit habe aber der BF jemanden getötet. Der BF stelle deshalb einen neuen Antrag auf internationalen Schutz, da er nicht nach Afghanistan zurückkehren wolle. Die Probleme betreffend die Blutfehden würden schon sehr lange existieren und dem BF seit langem bekannt sein. Eine Änderung habe sich seit 22.05.2018 ergeben: der Vater des BF habe einen Freund besucht. Dieser Freund habe wiederum Besuch eines Afghanen gehabt, der nach Pakistan gereist sei. Dieser habe gesagt, dass der BF noch immer gesucht werde.
Der BF habe 2016 – wann genau, wisse er nicht mehr – jemanden erschossen. 20 Tage später habe er Afghanistan verlassen. Die Familie des Opfers würde noch immer nach dem BF suchen.
1.12. Am 04.09.2018 wurde der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass seine Familie erst seit fünf oder sechs Monaten in Pakistan leben würde. Er wisse nicht mehr genau, wann er den Mord in Afghanistan begangen habe. Wenn der BF nach Afghanistan zurückkehren würde, würden ihn seine Feinde oder die Taliban töten. Von Seiten der Regierung fürchte der BF nichts.
Der Rechtsvertreter des BF brachte vor, dass ein neuer Sachverhalt vorliege, da der BF keine Familie mehr in Afghanistan habe, die ihn bei einer Rückkehr unterstützen können würde. Darüber hinaus habe der BF fast sein ganzes Leben in Pakistan verbracht und bestehe deshalb für ihn keine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul.
1.13. Mit Bescheid des BFA vom 13.09.2018, Zl. 1143297010-180781945, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.), bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des BF aus Österreich mit 0 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
1.14. Gegen den unter Punkt 1.13. genannten Bescheid des BFA erhob der BF fristgerecht Beschwerde und beantragte, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
1.15. Am 01.10.2018 wurde der Akt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
1.16. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.10.2018, GZ W266 2197837-2/3E, wurde der Beschwerde gemäß § 17 Abs. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
1.17. Am 05.11.2018 übermittelte der BF dem Bundesverwaltungsgericht eine Kopie eines pakistanischen oder afghanischen Polizeiberichts samt Übersetzung in deutscher Sprache.
1.18. Am 04.06.2020 wurde das Verfahren der Gerichtsabteilung W255 des Bundesverwaltungsgerichts neu zugewiesen.
2. Feststellungen:
2.1. Zur Person des BF:
2.1.1. Der BF führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren.
2.1.2. Der BF ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Die Muttersprache des BF ist Paschto.
2.1.3. Der BF stellte am 17.02.2017 den ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Mit Bescheid des BFA vom 18.04.2018, Zl. 1143297010-180781945, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 17.02.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.). Dieser Bescheid erwuchs mit 22.05.2018 in Rechtskraft.
2.2.4. Der BF stellte am 16.08.2018 den zweiten, gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Mit Bescheid des BFA vom 13.09.2018, Zl. 1143297010-180781945, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 16.08.2018 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.), bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des BF aus Österreich mit 0 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
2.2. Zur Mangelhaftigkeit des Verfahrens und des Bescheides des BFA:
2.2.1. Im Verwaltungsakt des BFA, der dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt wurde, finden sich ua folgende Dokumente:
? „Tenant acknowledgement receipt“ in englischer Sprache, ohne Datum;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „Pachtvertrag“ vermerkt wurde;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „Mietvertrag“ vermerkt wurde;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „FamKarte“ vermerkt wurde;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „FamRegistrierung“ vermerkt wurde;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „Registerauszug / Pakistan“ vermerkt wurde;
? Afghani Registration Card lautend auf XXXX , in englischer Sprache;
? Afghan Citizen Card lautend auf XXXX ;
? Afghan Citizen Card lautend auf XXXX ;
? Afghan Citizen Card lautend auf XXXX ;
? Drei weitere Ausweise in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung;
? Afghanischer Reisepass lautend auf XXXX mit pakistanischem Visum und Einreisestempel;
? Afghanische oder Pakistanische Ausweise ohne Übersetzung, auf denen in deutscher Sprache mit Handschrift „FamKarte Vermieter / Pakistan“ vermerkt wurde.
Es ist nicht nachvollziehbar, wie diese Dokumente wann vorgelegt bzw. von wem diese Dokumente wann zum Akt genommen wurden und woher sie stammen. Es ist nicht nachvollziehbar ob und gegebenenfalls in welchem Verhältnis die auf den Dokumenten genannten Personen zum BF stehen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum keine Übersetzungen dieser Dokumente veranlasst wurden.
Im angefochtenen Bescheid wird vom BFA auf diese Dokumente ausschließlich und abschließend durch die Aufnahme des folgenden Absatzes Bezug genommen bzw. darauf eingegangen:
„A) Beweismittel
Die Behörde zog die folgenden Beweismittel heran:
Von Ihnen vorgelegte Beweismittel:
- Div. Kopien (Pachtvertrag, Registrierung – Pakistan etc.)“
2.2.2. Dem angefochtenen Bescheid ist zu entnehmen, dass der BF aus Sicht des BFA im gegenständlichen Verfahren keine neuen Fluchtgründe vorgebracht hat. Den Feststellungen und der Beweiswürdigung ist jedoch nicht einmal ansatzweise zu entnehmen, welche Fluchtgründe der BF im ersten und/oder zweiten, gegenständlichen Asylverfahren vorgebracht hat. Das BFA setzt sich im angefochtenen Bescheid nicht mit dem Vorbringen des BF auseinander, demzufolge sich seine Situation insbesondere deshalb verändert habe, als seine Familie aus Afghanistan ausgereist sei und nunmehr in Pakistan lebe.
2.2.3. Im angefochtenen Bescheid findet sich die Feststellung, dass der BF über keine verwandtschaftlichen oder familiären Anknüpfungspunkte in Österreich verfüge und er auch sonst keine besonders intensiven privaten Interessen oder Abhängigkeitsverhältnisse mit seinem Aufenthalt in Österreich verbinde. Diese (äußerst vagen) Feststellungen würden sich – so das BFA beweiswürdigend – „aufgrund Ihrer niederschriftlichen Einvernahmen“ ergeben. Ein näherer Blick auf die Einvernahmen des BF im zweiten, gegenständlichen Asylverfahren zeigt, dass der BF nicht näher zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt wurde.
2.2.4. Dem Bescheid ist nicht zu entnehmen, auf welche konkreten Länderfeststellungen betreffend Afghanistan von welchem Datum sich das BFA stützt.
2.2.5. Im angefochtenen Bescheid werden nur unzureichende Feststellungen zur Person des BF getroffen. Diese lauten abschließend:
„Sie sind Staatsangehöriger von Afghanistan.
Sie sind volljährig und handlungsfähig.
Sie leiden an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung.“
2.2.6. Im angefochtenen Bescheid sind keine Feststellungen enthalten, denen nachvollziehbar zu entnehmen wäre, warum das BFA eine Abschiebung des BF nach Afghanistan für zulässig (oder nicht zulässig) erachtet.
3. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen ergeben sich zweifelsfrei aus den Akten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des Bundesverwaltungsgerichtes.
4. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
4.1. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Nach § 28 Abs. 2 leg.cit. hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11).
§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.
4.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet (vgl. auch VwGH 30.06.2015, Ra 2014/03/0054):
? Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht kommt nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.
? Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I Nr. 51/2012, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.
? Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz leg.cit. bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 leg.cit. verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 leg.cit. insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).
4.3. Der angefochtene Bescheid und das Verfahren des BFA erweisen sich vor diesem Hintergrund in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:
4.3.1. Im Verwaltungsakt des BFA, der dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt wurde, finden sich ua folgende Dokumente:
? „Tenant acknowledgement receipt“ in englischer Sprache, ohne Datum;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „Pachtvertrag“ vermerkt wurde;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „Mietvertrag“ vermerkt wurde;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „FamKarte“ vermerkt wurde;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „FamRegistrierung“ vermerkt wurde;
? Dokument in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung, auf dem in deutscher Sprache mit Handschrift „Registerauszug / Pakistan“ vermerkt wurde;
? Afghani Registration Card lautend auf XXXX , in englischer Sprache;
? Afghan Citizen Card lautend auf XXXX ;
? Afghan Citizen Card lautend auf XXXX ;
? Afghan Citizen Card lautend auf XXXX ;
? Drei weitere Ausweise in der Sprache Paschto oder Urdu ohne Übersetzung;
? Afghanischer Reisepass lautend auf XXXX mit pakistanischem Visum und Einreisestempel;
? Afghanische oder Pakistanische Ausweise ohne Übersetzung, auf denen in deutscher Sprache mit Handschrift „FamKarte Vermieter / Pakistan“ vermerkt wurde.
Es ist nicht nachvollziehbar, wie diese Dokumente wann vorgelegt bzw. von wem diese Dokumente wann zum Akt genommen wurden und woher sie stammen. Es ist nicht nachvollziehbar ob und gegebenenfalls in welchem Verhältnis die auf den Dokumenten genannten Personen zum BF stehen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum keine Übersetzungen dieser Dokumente veranlasst wurden.
Im angefochtenen Bescheid wird vom BFA auf diese Dokumente ausschließlich und abschließend durch die Aufnahme des folgenden Absatzes Bezug genommen bzw. darauf eingegangen:
„A) Beweismittel
Die Behörde zog die folgenden Beweismittel heran:
Von Ihnen vorgelegte Beweismittel:
- Div. Kopien (Pachtvertrag, Registrierung – Pakistan etc.)“
4.3.2.D em angefochtenen Bescheid ist zu entnehmen, dass der BF aus Sicht des BFA im gegenständlichen Verfahren keine neuen Fluchtgründe vorgebracht hat. Den Feststellungen und der Beweiswürdigung ist jedoch nicht einmal ansatzweise zu entnehmen, welche Fluchtgründe der BF im ersten und/oder zweiten, gegenständlichen Asylverfahren vorgebracht hat. Das BFA setzt sich im angefochtenen Bescheid nicht mit dem Vorbringen des BF auseinander, demzufolge sich seine Situation insbesondere deshalb verändert habe, als seine Familie aus Afghanistan ausgereist sei und nunmehr in Pakistan lebe.
4.3.3. Im angefochtenen Bescheid findet sich die Feststellung, dass der BF über keine verwandtschaftlichen oder familiären Anknüpfungspunkte in Österreich verfüge und er auch sonst keine besonders intensiven privaten Interessen oder Abhängigkeitsverhältnisse mit seinem Aufenthalt in Österreich verbinde. Diese (äußerst vagen) Feststellungen würden sich – so das BFA beweiswürdigend – „aufgrund Ihrer niederschriftlichen Einvernahmen“ ergeben. Ein näherer Blick auf die Einvernahmen des BF im zweiten, gegenständlichen Asylverfahren zeigt, dass der BF nicht näher zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt wurde.
4.3.4. Dem Bescheid ist nicht zu entnehmen, auf welche konkreten Länderfeststellungen betreffend Afghanistan von welchem Datum sich das BFA stützt.
4.3.5. Im angefochtenen Bescheid werden nur unzureichende Feststellungen zur Person des BF getroffen. Diese lauten abschließend:
„Sie sind Staatsangehöriger von Afghanistan.
Sie sind volljährig und handlungsfähig.
Sie leiden an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung.“
4.3.6. Im angefochtenen Bescheid sind keine Feststellungen enthalten, denen nachvollziehbar zu entnehmen wäre, warum das BFA eine Abschiebung des BF nach Afghanistan für zulässig (oder nicht zulässig) erachtet.
4.4. Der Bescheid des BFA ist somit mit gravierenden Mangeln behaftet, die seitens des BFA im Zuge der Erlassung eines neuen Bescheides zu beheben sein werden.
Das verwaltungsbehördliche Verfahren ist somit mit den aufgezeigten schwerwiegenden Ermittlungsmängeln belastet, weil das BFA den Sachverhalt in Bezug auf die angeführten maßgeblichen Fragen im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht ermittelt hat.
4.5. Im fortgesetzten Verfahren wird das BFA im Sinne der dargelegten Erwägungsgründe
1. Ermittlungen zur generellen Situation in Afghanistan führen,
2. Übersetzungen der im Akt befindlichen oben genannten Dokumente veranlassen und ggfalls eine Prüfung deren Authentizität durchführen,
3. eine Auseinandersetzung mit den oben genannten Dokumenten durchführen,
4. Ermittlungen zur konkreten Situation des BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan (etwaige Gefährdung) durchführen;
5. Ermittlungen zum allenfalls in Österreich bestehenden Privat- und Familienleben des BF durchführen,
6. eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des BF durchführen sowie
7. ausreichende Feststellungen im Bescheid treffen
und dabei das Recht des BF auf Parteiengehör wahren müssen.
4.6. Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des BFA gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 10/1985, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
aktuelle Länderfeststellungen Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht Kassation mangelnde SachverhaltsfeststellungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W255.2197837.2.00Im RIS seit
18.11.2020Zuletzt aktualisiert am
18.11.2020