Entscheidungsdatum
22.06.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W204 2202375-1/17E
W204 2202371-1/17E
W204 2202373-1/16E
W204 2202363-1/13E
W204 2202367-1/10E
W204 2202368-1/10E
W204 2202364-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
1.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von W XXXX Q XXXX , geb. XXXX 1986, StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2018, Zl. 1100648305 – 152082120/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und W XXXX Q XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird W XXXX Q XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
III. Der Beschwerde wird hinsichtlich den Spruchpunkten III. bis VI. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und diese werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von S XXXX , geb. XXXX 1987, StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2018, Zl. 1100648207 – 152082154/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und S XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird S XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.
III. Der Beschwerde wird hinsichtlich den Spruchpunkten III. bis VI. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und diese werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
3.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX Q XXXX , geb. XXXX 2001, StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2018, Zl. 1100648806 – 152082197/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX Q XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX Q XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.
Der Beschwerde wird hinsichtlich den Spruchpunkten III. bis VI. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und diese werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
4.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von H XXXX , geb. XXXX 2003, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter S XXXX , geb. XXXX 1987, StA. Afghanistan, diese vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2018, Zl. 1100648610 – 152082308/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und H XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird H XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
III. Der Beschwerde wird hinsichtlich den Spruchpunkten III. bis VI. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und diese gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
5.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX 2007, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter S XXXX , geb. XXXX 1987, StA. Afghanistan, diese vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2018, Zl. 1100648708 – 152082260/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte erteilt.
III. Der Beschwerde wird hinsichtlich den Spruchpunkten III. bis VI. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und diese werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
6.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX 2008, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter S XXXX , geb. XXXX 1987, StA. Afghanistan, diese vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2018, Zl. 1100648501 - 152082359/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
III. Der Beschwerde wird hinsichtlich den Spruchpunkten III. bis VI. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und diese werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
7.) Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER als Einzelrichterin über die Beschwerde von M XXXX , geb. XXXX 2013, StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter S XXXX , geb. XXXX 1987, StA. Afghanistan, diese vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2018, Zl. 1100648403 - 152082383/BMI-BFA_STM_AST_01_TEAM_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und M XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird M XXXX eine auf ein Jahr ab dem Tag der Zustellung dieses Erkenntnisses befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.
III. Der Beschwerde wird hinsichtlich den Spruchpunkten III. bis VI. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und diese werden gemäß § 28 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die BeschwerdeführerInnen (im Folgenden: BF1 bis BF7), eine Familie afghanischer Staatsangehörigkeit, reisten gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 30.12.2015 Anträge auf internationalen Schutz.
I.2. Im Rahmen ihrer niederschriftlichen Erstbefragung vom selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Steiermark gaben der BF1, die BF2 und die BF3 nach ihren Fluchtgründen befragt an, der BF1 sei aufgrund seiner Tätigkeit als Taxifahrer mehrmals von den Taliban entführt worden und nur auf Intervention der Dorfältesten wieder freigekommen. Anlässlich der letzten Entführung sei ihm mit dem Tod gedroht worden.
I.3. Am 22.05.2018 wurden der BF1 und die BF2 von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Die BF wurden dabei u.a. zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität, ihren Lebensumständen in Afghanistan, ihren Familienangehörigen und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gab der BF1 im Wesentlichen an, er sei von den Taliban aufgrund seiner Tätigkeit als Taxifahrer der Spionage verdächtigt worden. Er sei deshalb auch festgenommen und mit dem Umbringen bedroht worden.
Die BF2 gab an, keine eigenen Fluchtgründe zu haben und verwies auf die ihres Mannes. Als gesetzliche Vertreterin für ihre minderjährigen Kinder gab sie an, dass auch diese keine eigenen Fluchtgründe hätten.
I.4. Mit den im jeweiligen Rubrum genannten Bescheiden, den BF am 29.06.2018 zugestellt, wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkte II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF nicht erteilt (Spruchpunkte III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkte IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte VI.).
Dazu führte das BFA mit näherer Begründung aus, dass der BF1 sein Vorbringen nicht glaubhaft habe machen können und die übrigen BF kein Vorbringen erstattet hätten, das eine Asylgewährung rechtfertigen könnte. Aus dem Vorbringen der BF und der allgemeinen Situation lasse sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine unmenschliche Behandlung oder eine im gesamten Herkunftsstaat vorliegende extreme Gefährdungslage erkennen. Sie könnten zwar nicht in ihre Herkunftsprovinz zurückkehren, ihnen stehe allerdings eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Großstädten, etwa Kabul, zur Verfügung. Mangels Vorliegens der Voraussetzungen sei auch kein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG zu erteilen. Nach Durchführung einer Interessensabwägung kam das BFA zum Schluss, dass die öffentlichen die privaten Interessen überwiegen und erließ eine Rückkehrentscheidung.
I.5. Mit Verfahrensanordnungen vom 26.06.2018 wurde den BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
I.6. Gegen die unter I.4. genannten Bescheide richtet sich die Beschwerde vom 25.07.2018 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der Beweiswürdigung. Es wurde beantragt, den BF den Status der Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung vorlägen und ihnen ein Aufenthaltstitel zu erteilen sei, in eventu die Bescheide an das BFA zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen und eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Begründend wurde in der Beschwerde vorgebracht, das BFA habe mangelhafte Länderfeststellungen getroffen. Hätte es die in der Beschwerde zitierten Berichte beachtet, wäre es zur Ansicht gekommen, dass den BF eine Rückkehr weder möglich noch zumutbar sei. Im Gegensatz zur Ansicht des BFA seien darüber hinaus die Aussagen des BF1 glaubhaft und die BF2 „westlich“ orientiert.
I.7. Die Beschwerde und die Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 01.08.2018 vorgelegt.
I.8. Am 17.09.2018 übermittelte das BFA einen Bericht der LPD Oberösterreich, wonach es sich bei dem vom BF1 im Verfahren vorgelegten Führerschein um eine Totalfälschung handle.
I.9. Am 01.08.2019 legten die BF mehrere Integrationsunterlagen vor.
I.10. Am 01.04.2020 erstatteten die BF eine Stellungnahme zu den zuvor übermittelten aktuellen Länderinformationen und führten insbesondere aus, aus diesen ergebe sich eine asylrelevante Verfolgung, zumal die BF2 „westlich“ orientiert sei. Des Weiteren wurden unter Verweis auf UNHCR- und EASO-Berichte die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative bekämpft.
I.11. Am 22.05.2020 gab der bisherige Vertreter die Auflösung der Vertretungsvollmacht bekannt.
I.12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 03.06.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die BF und ihr nunmehr neu bevollmächtigter Vertreter teilnahmen. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an einer Verhandlung. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurden die BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu ihrer Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, ihren Familienangehörigen, ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.
I.13. Am 09.06.2020 nahmen die BF Stellung zu den aktualisierten Länderberichten und legten medizinische Befunde vor.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
- Einsicht in die die BF betreffenden und dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakte des BFA, insbesondere in die Befragungsprotokolle;
- Befragung der BF im Rahmen einer öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 03.06.2020;
- Einsicht in die in das Verfahren eingeführte Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat und in die von den BF vorgelegten Stellungnahmen und Unterlagen;
- Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.
II. Feststellungen:
II.1. Zu den BF:
Die Identität der BF steht nicht fest, sie führen die im Spruch angeführten Namen und Geburtsdaten. Die BF sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitische Moslems.
Der BF1 und die BF2 sind traditionell miteinander verheiratet. Es handelt sich dabei um eine Zwangs- und Kinderheirat. Die BF2 war zum Zeitpunkt der Heirat dreizehn, der BF1 14 Jahre alt. Die BF3 bis BF7 sind die zum Zeitpunkt der Einreise minderjährigen Kinder des BF1 und der BF2.
Die BF stammen alle aus K XXXX im Distrikt JXXXX in der Provinz Maidan Wardak, wo sie gemeinsam aufgewachsen sind. Sie verfügten über ein eigenes Haus am Familienhof, wo außerdem noch die Eltern und die Geschwister des BF1 mit deren Familien leben. Die BF besuchten regelmäßig ihre Verwandten und die BF3 bis BF7 spielten mit ihren Cousins und Cousinen im Hof, als sie noch in Afghanistan waren.
Der BF1 und die BF2 sind Analphabeten. Sie besuchten keine Schule. Die BF3 hat auf Wunsch des BF1 und der BF2 für vier Jahre eine Koranschule in ihrem Heimatdorf besucht und dort das Schreiben und Lesen gelernt. Sie hat den Schulweg teils alleine, teils mit ihrer Mutter zurückgelegt.
Der BF1 war auf der familieneigenen Landwirtschaft tätig. Er hat nicht als Taxifahrer gearbeitet. Die BF2 war in Afghanistan Hausfrau und hat gelegentlich auf den Feldern der Familie mitgeholfen.
Die BF sind nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Die BF2 leidet an Migräne und stand deswegen auch bereits in Afghanistan in ärztlicher Behandlung. Außerdem leidet sie an einer rheumatoiden Arthritis.
Die BF3 leidet an einer hämorrhagische Corpusgastritis und es besteht der Verdacht auf eine psychogene Essstörung. Sie war deswegen im Juli 2019 drei Tage in stationärer Krankenhausbehandlung.
Der BF4 leidet an einer Thorax-Deformität (Q67.7. Angeborene Kielbrust) und wurde am 30.12.2019 operiert. Er erhält Schmerzmittel und ist in regelmäßiger Kontrolle. Am 24.08.2016 war ihm bereits ein Tumor submandibulär rechts operativ ohne Komplikationen entfernt worden.
Die BF5 ist gesund; der BF6 ebenfalls, benötigt jedoch eine Brille.
Der BF7 leidet an retardiertem Wachstum, stand diesbezüglich in Behandlung, erhält aktuell keine Medikamente, ist jedoch halbjährlich in ärztlicher Kontrolle.
II.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Der BF1 wurde in Afghanistan nicht aufgrund seiner angeblichen Tätigkeit als Taxifahrer von den Taliban der Spionage beschuldigt. Der BF wurde von den Taliban nicht entführt, es gab auch keine versuchte Entführung.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen den BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht den BF auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen.
Die BF2 besuchte Deutschkurse. Ansonsten verbringt sie ihren Tag im Wesentlichen im Kreis ihrer Familie und hilft fallweise bei Vereinsveranstaltungen in ihrem Wohnort mit, indem sie dafür kocht. Sie hat in Österreich das Radfahren erlernt. Von Mai 2017 bis September 2019 war sie 16 Stunden in ihrer Wohngemeinde ehrenamtlich tätig.
Die BF3 hat in Österreich Schulen und Deutschkurse bis zum Niveau B1 besucht und verfügt über gute passive Deutschkenntnisse. Sie hat Freundschaften zu Schulkolleginnen geschlossen. Ihre Freizeit verbringt sie entweder im Kreis ihrer Familie, betreibt alleine Sport oder trinkt mit ihren Freundinnen Tee. Sie bekommt die ihr zustehende Grundversorgung nicht selbst ausgezahlt. Sie lernt derzeit zu Hause für die Führerscheinprüfung, ist jedoch in keinem Kurs angemeldet und war auch noch nicht in einer Fahrschule. Die BF3 hat keine konkreten Pläne hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft. Sie hat ein kleines Piercing am rechten Nasenflügel.
Die BF5 hat in Österreich seit ihrer Ankunft Schulen besucht und zeigt sich als sehr fleißige und gute Schülerin. Sie war als Klassensprecherin tätig. Sie ist im örtlichen Turnverein aktiv und nimmt mit diesen auch an Wettkämpfen teil. Während der Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie hat sie ihre Übungen zu Hause verrichtet. Sie hat im Jahr 2017 die Frühschwimmer-Prüfung erfolgreich abgelegt. Ihr Alltag gestaltet sich derartig, dass sie am Vormittag die Schule besucht, danach nach Hause geht, dort ihrer Mutter im Haushalt und ihren Geschwistern bei den Schulaufgaben hilft, teilweise, etwa ein- bis zweimal wöchentlich zum Sport geht und fallweise danach mit ihren Freundinnen noch Eis essen geht.
Die weiblichen BF haben während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise verinnerlicht, die für sie zu einem bedeutenden Bestandteil ihrer Identität wurde und aufgrund derer sie einer Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wären, wenn sie diese auch in Afghanistan auslebten.
Den minderjährigen, schulpflichtigen BF ist ein Schulbesuch in Afghanistan möglich. Den weiblichen unverheirateten BF droht in Afghanistan keine Zwangsverheiratung.
II.3. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:
Die Geschwister des BF1 leben in Maidan Wardak. Der Bruder des BF1 lebt auf dem Familienhof. Er ist Gelegenheitsarbeiter und betreibt die familieneigene Landwirtschaft. Die Eltern des BF1 sind nach der Ausreise der BF verstorben. Diese wurden zuvor vom Bruder des BF1 versorgt. Die Schwestern des BF1 wohnen ebenfalls in der Heimatprovinz des BF in anderen Dörfern, sind verheiratet und haben Kinder. Die Mutter, drei Schwestern und drei Brüder der BF2 leben ebenfalls in Maidan Wardak. Die BF haben Kontakt zu ihren Angehörigen in Afghanistan.
Bei der Herkunftsprovinz der BF handelt es sich um eine unsichere Provinz Afghanistans, in der die Taliban aktiv sind. Den BF würde im Falle einer Rückkehr in ihre Heimatprovinz die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohen.
Die BF liefen auch bei einer Ansiedelung außerhalb ihrer Herkunftsprovinz, etwa in der Stadt Kabul oder ähnlichen sicheren Gebieten Afghanistans, mangels sozialer und familiärer Anknüpfungspunkte sowie mangels ausreichender Unterkunftsmöglichkeiten und mangels der notwendigen Versorgung der minderjährigen BF Gefahr, grundlegende Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich und ihre Familie nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Ihnen wäre es mangels ausreichender finanzieller Unterstützung durch ihre Familie nicht möglich, ein Leben wie ihre Landsleute zu führen.
II.4. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit letzter Information vom 18.05.2020 (LIB),
- Kurzinformation der Staatendokumentation: COVID-19 Afghanistan; Stand 9.4.2020 (BFA KI 09.04.2020),
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO),
- Arbeitsübersetzung EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke),
- ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 02.10.2019 (ECOI) und
- EASO: Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (EASO Indikatoren).
II.4.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).
Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).
II.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es laut Johns Hopkins University mit Stand 16.06.2020, 14:33 Uhr, 17.189 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen mit 681 Todesfällen; in Afghanistan wurden zu diesem Zeitpunkt 26.310 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 491 diesbezügliche Todesfälle bestätigt wurden (coronavirus.jhu.edu).
Die Wahrscheinlichkeit von schweren Erkrankungen und Todesfällen steigt bei Personen über 65 Jahren und bei Personen mit definierten Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen, geschwächtem Immunstatus, Krebs und Fettleibigkeit deutlich an. Diese Risikogruppen sind bis heute für die Mehrheit der schweren Erkrankungen und Todesfälle verantwortlich. Nach der Infektion gibt es aktuell (noch) keine spezifische Behandlung für COVID-19, jedoch kann eine frühzeitige unterstützende Therapie, sofern die Gesundheitsfürsorge dazu in der Lage ist, die Ergebnisse verbessern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Krankheitsverlauf des COVID-19, sofern es durch das Coronavirus ausgelöst wurde, für die Allgemeinbevölkerung als mild bis moderate Atemwegserkrankung, für ältere Menschen mit definierten Risikofaktoren jedoch als gravierend bis tödlich eingeschätzt wird (s. www.who.int/health topics/coronavirus).
Für die relativ geringe Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle werden von afghanisches Seite Kapazitätsprobleme bei COVID-19 Verdachtsfällen eingeräumt, die nicht getestet werden können, was die relativ niedrige Anzahl bestätigter Fälle erklärt. Aller Voraussicht nach, wird COVID-19 Afghanistan insbesondere aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung besonders hart treffen. Unter Berufung auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO), prognostiziert das afghanische Gesundheitsministerium: 16 Millionen von mehr als 30 Millionen Einwohnern könnten an COVID-19 erkranken. Im schlimmsten Fall müssten 700.000 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert werden; 220.000 davon müssten möglicherweise auf Intensivstationen behandelt werden – von diesen könnten 110.000 Menschen an den Folgen von COVID-19 sterben. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. In der Provinz Herat, die die höchste Anzahl an bestätigten COVID-19-Fällen zu verzeichnen hat, wird die Zahl der Beatmungsgeräte auf nur 10-12 Stück geschätzt (BFA KI 09.04.2020).
In der an den Iran angrenzenden Provinz Herat hat sich die Anzahl positiver Fälle des COVID-19 unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dieses Vorbringen und erklärte dies mit langwierigen Beschaffungsprozessen. In Kabul wurden nach dem Tod eines Arztes eine Klinik geschlossen. Auch in Kabul wurden mehrere Personen aus dem Gesundheitssektor positiv getestet und befinden sich in Quarantäne (BFA KI 09.04.2020).
Sowohl in Kabul als auch in der nah der iranischen Grenze gelegenen Stadt Herat gelten inzwischen Ausgangssperren, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. In der Stadt Kabul dürfen sich nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler-Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (BFA KI 09.04.2020).
An dem Islam Qala Grenzübergang vom Iran nach Afghanistan gibt es auf beiden Seiten keine Quarantänestation. Zwar führen die Provinzbehörden von Herat grundlegende Gesundheitskontrollen durch, jedoch sind sie von der Anzahl an Rückkehrer/innen überfordert. Auch existiert in Herat ein Mangel an COVID-19-Testskits; Ergebnisse dauern für diejenigen, die sich testen lassen, vier oder fünf Tage, bis dahin sind die meisten schon in ihre Dörfer zurückgekehrt. Wie viele Rückkehrer/innen sich mit dem Virus infiziert haben, ist völlig unklar, da sie weder untersucht noch isoliert wurden. Die Internationale Organisation für Migration (IOM), hat Zentren errichtet, um besonders vulnerablen Rückkehrer/innen, humanitäre Hilfe zu gewähren. Personen mit COVID-19-Symptomen werden an die örtlichen Krankenhäuser überstellt – bisher sind zehn bis 15 Personen positiv getestet worden (BFA KI 09.04.2020).
II.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig, um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).
Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
II.4.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 22.1).
II.4.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt.
II.4.5. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel 16).
II.4.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
II.4.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).
II.4.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Haqani-Netzwerk:
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).
Islamischer Staat (IS/Daesh) – Islamischer Staat Khorasan Provinz:
Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).
Al-Qaida:
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB, Kapitel 2).
II.4.9 Provinzen und Städte
II.4.9.1. Herkunftsprovinz (Maidan) Wardak
Die Provinz Wardak (auch Maidan Wardak) liegt im zentralen Teil Afghanistans. Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara. Die Provinz hat 648.866 Einwohner (LIB, Kapitel 3.33).
Die Sicherheitslage in der Provinz Maidan Wardak hat sich in den letzten Monaten verschlechtert. Aufständische der Taliban sind in gewissen Distrikten aktiv und führen terroristische Aktivitäten aus. In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen. Bei diesen werden manchmal Aufständische getötet oder Gefangene der Taliban befreit. Die Taliban griffen Kontrollpunkte der Sicherheitskräfte an und es kam zu Gefechten mit den Regierungstruppen. Bei manchen sicherheitsrelevanten Vorfällen kamen auch Zivilisten zu Schaden. Im Jahr 2018 gab es 224 zivile Opfer (88 Tote und 136 Verletzte) in der Provinz Wardak. Dies entspricht einer Steigerung von 170% gegenüber 2017. Die Hauptursachen für zivile Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Selbstmordanschlägen und Sprengstoffanschlägen (LIB, Kapitel 3.33).
In der Provinz (Maidan) Wardak kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
II.4.9.2. Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB, Kapitel 3.1 und Kapitel 3.35).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.1).
Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 3.1).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 21).
Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Kabul ist das wichtigste Drehkreuz für Handel und Beschäftigung in Afghanistan, das auch als „Magnet“ für Hilfsarbeiter aus einem größeren Gebiet bis hin zu den Provinzen Parwan, Logar oder Wardak fungiert. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu handeln oder als Wachpersonal, Haushaltspersonal oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Kabul ist im Wesentlichen eine urban geprägte Provinz, deren wirtschaftlich aktive Bevölkerung Berufen in den Bereichen Handel und Dienstleistungen angehört und als Hilfsarbeitskräfte tätig ist. In der Hauptstadt gibt es einen hohen Anteil an Angestellten, während Selbstständigkeit, anders als in den ländlichen Gebieten des Landes, weniger häufig ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehören kommunale, soziale und persönliche Dienstleistungen sowie die öffentliche Verwaltung (EASO Indikatoren, 4.2.1).
Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
II.4.9.3. Balkh
Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Die Provinz hat 1.475.649 Einwohner (LIB, Kapitel 3.5).
Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2018 gab es 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.5).
In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
II.4.9.4. Herat
Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 3.13).
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2018 gab es 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.13).
In der Provinz Herat - mit Ausnahme in der Stadt Herat - kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
II.4.9.5. Mazar-e Sharif/Herat Stadt
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Masar-e Scharif ist als wirtschaftliche Drehscheibe des Nordens bekannt, die Wirtschaftsmigranten aus ländlichen Gebieten mit seinen Beschäftigungsmöglichkeiten und seiner relativen Sicherheit anzieht (EASO Indikatoren, 1.2.3).
Masar-e Scharif gehört ferner zu den Städten in Afghanistan, in denen das Afghanistan-Projekt zur Erschließung neuer Märkte (ANMDP) durchgeführt wird. Das Projekt, das sich auch auf Herat, Kabul und Jalalabad erstreckt, unterstützt kleine und mittlere Unternehmen sowie Unternehmensverbände durch die Vermittlung von Dienstleistungen für die Unternehmensentwicklung. Von seinem Start im Jahr 2013 bis zum September 2016 betreute es 145 Unternehmen in der Provinz Balkh, darunter eine lokale Pasteurisierungsfabrik in Masar-e Scharif (EASO Indikatoren, 4.2.1).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhä