Entscheidungsdatum
26.06.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W164 2179612-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , STA Afghanistan, vertreten durch den Magistrat XXXX als örtlich zuständiger Kinder- und Jugendhilfeträger, dieser vertreten durch SOS Kinderdorf, dieses vertreten durch RA Mag. Dr. Martin Enthofer, Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 14.11.2017, Zl. 1079681507-150938109, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom 04.06.2020 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird, soweit sie sich gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides richtet, als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 26.06.2021 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste gemeinsam mit seiner Tante (W164 2179619-1)und deren Kindern irregulär nach Österreich ein. Sein Onkel (W164 2179619-1) väterlicherseits (vs) reiste kurze Zeit später ebenfalls irregulär nach Österreich ein.
Am 26.07.2015 stellte der BF vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und gab im Wesentlichen an, er sei im Jahr XXXX in Kabul geboren, sei ledig, Shiit und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er habe zwei Jahre die Schule besucht. Zu seinem Fluchtgrund gab er an, dass sein Vater den Beschluss zur Ausreise gefasst habe. Seine Familie sei dann mit ihm losgereist. Von seiner Familie sei er getrennt worden. Er sei mit seiner Tante und deren Kindern nach Österreich eingereist. Der BF könne nichts zu seinem Fluchtgrund angeben.
Mit Beschluss, GZ XXXX , des Bezirksgerichts XXXX vom 10.03.2016 wurde die Obsorge für den BF dem Land Oberösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen. Begründend wurde ausgeführt, dass der BF derzeit bei Verwandten lebe; das Verhältnis zwischen ihm und seinen Verwandten sei jedoch angespannt und seien diese nicht bereit, die Obsorge für den BF zu übernehmen.
Mit Schreiben vom 08.06.2017gab der nunmehrige Rechtsvertreter seine Bevollmächtigung durch das SOS-Kinderdorf und die Bevollmächtigung des SOS-Kinderdorfes durch den Magistrat der Landeshauptstadt XXXX bekannt.
Im Zuge der im Beisein seines nunmehrigen Rechtsvertreters und seiner gesetzlichen Vertretung durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme vom 08.08.2017 vor dem BFA legte der BF zwei Schulbesuchsbestätigungen, eine Urkunde über den Lernerfolg in der offenen Sprachklasse der NMS, sowie diverse Urkunden betreffend sportliche Leistungen vor. Der BF gab zu seinem Fluchtgrund an, in Afghanistan herrsche Krieg. Jeden Tag würden dort viele Menschen bei Bombenanschlägen sterben. Da es auch einen Bombenanschlag vor seiner Schule gegeben habe, habe sein Vater beschlossen, dass er nicht mehr in die Schule gehen solle. Wenn der BF nach Afghanistan zurückkehren würde, würde er früher oder später bei einem Bombenanschlag sterben. Sein Vater sei seinerzeit von der Grenzpolizei festgenommen worden. Die Familie lebe nun wieder in Afghanistan.
Zu seiner Situation in Österreich gab der BF an, dass er in die Schule gehe und dort viele Freunde habe. Sie würden lernen und miteinander spielen. Er habe auch andere Freunde, mit denen würde er Fußball spielen, ins Shoppingcenter gehen und zum See. Er sei Mitglied beim Fußballverein SV XXXX .
Mit Stellungnahme vom 21.08.2017 übermittelte der BF durch seinen Rechtsvertreter einen Screenshot seiner Tazkira und nahm zu dem ihm ausgehändigten Länderinformationsblatt Stellung. Aus diesem leite sich ab, dass der afghanische Staat nicht in der Lage sei irgendeinen Ort in Afghanistan zu kontrollieren, sodass kein Ort – auch nicht Kabul – als sicher zu bezeichnen sei. Es würden Feststellungen zum Problemkreis der Zwangsrekrutierung von Jugendlichen durch die Taliban, die Al-Kaida und den IS fehlen. Der BF müsse im Fall seiner Rückkehr mit Zwangsrekrutierungsmaßnahmen seitens der Taliban rechnen. Davor könne ihn niemand schützen. Eine Rückkehr des BF zu seiner Familie sei von dieser nicht erwünscht. Der BF müsse mit innerfamiliären Problemen rechnen, da seine Flucht die Familie finanziell überfordert habe. Es sei also nicht gewiss, ob seine Familie ihn wieder aufnehmen würde. Er habe aufgrund der Sicherheitslage in Kabul sein Leben in Afghanistan de facto zu Hause verbringen müssen. In Österreich habe sich der BF sehr gut integriert und habe einen großen Freundeskreis. Er habe in kürzester Zeit Deutsch gelernt und mache in seiner Freizeit Sport.
Mit Bescheid des BFA vom 14.11.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt und es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig ist.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass dem BF keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan drohe und er eine solche auch nicht vorgebracht habe. Er verfüge über Angehörige und ein soziales Netz in Kabul und sei wirtschaftlich genügend abgesichert. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF im Falle seiner Rückkehr innerfamiliäre Probleme hätte und er nicht wieder zur Schule gehen könnte. Die Sicherheitslage in Kabul sei vergleichsweise gut. Kabul könne auch sicher erreicht werden. Weiters sei eine durch Familienangehörige begleitete Rückführung nach Kabul für den BF gewährleistet. Es könne daher angenommen werden, dass er im Falle seiner Rückkehr in keine lebensbedrohliche Notlage kommen würde. Bezüglich der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung habe eine Interessensabwägung ergeben, dass diese zulässig sei.
Gegen diesen Bescheid erhob der BF durch seine Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde und führte aus, er habe in Kabul aufgrund der schlechten Sicherheitslage nicht mehr in die Schule gehen können. Im Falle seiner Rückkehr wäre er schutzlos den Übergriffen fundamentalistischer Verbrecherorganisationen ausgesetzt, die weder der afghanische Staat noch seine Familie verhindern könnten. Die Feststellung der Erstbehörde, wonach Kabul relativ friedlich sei, sei aus der Luft gegriffen und substanzlos. Die reine Faktenlage beweise das Gegenteil. Das Fluchtvorbringen des BF sei glaubwürdig. Die Behörde habe auch zu Unrecht angenommen, dass die Familie des BF ihn im Falle der Rückkehr unterstützen würde. Im Fall seiner seiner Rückkehr nach Afghanistan würde der BF Probleme mit seiner Familie bekommen, da seine Eltern ihre Ersparnisse für die Flucht aufgewendet hätten. Der BF habe unregelmäßig Kontakt mit seiner Familie und wisse, dass diese vor dem Hintergrund der prekären Sicherheitslage keinesfalls seine Rückkehr wünsche. Die Erstbehörde vertrete offenbar die Ansicht, dass es dem BF zumutbar wäre, ein Terroropfer zu werden solange dies in der unmittelbaren Nähe zu seiner Familie passiere. Diese Argumentation sei nicht vertretbar. Es sei außerdem nicht geklärt, wie die Rückverbringung des BF nach Afghanistan in der Realität aussehen solle. Es sei nicht gesichert, ob und wer den BF abholen würde, nachdem er den afghanischen Behörden übergeben worden sein würde. Zwar gebe es in Afghanistan staatliche Strukturen, diese seien jedoch ohne jedwede Substanz und hätten keinerlei Durchsetzungsvermögen. Es gebe daher kein Schutzangebot durch staatliche Strukturen. Im Hinblick auf seine Minderjährigkeit wäre der BF asylrelevanten Bedrohungen durch terroristische Vereinigungen ausgesetzt. Der BF beantragte, der gegenständlichen Beschwerde stattzugeben und ihm Asyl zuzuerkennen, zumindest auszusprechen, bzw. dass ihm der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt werde.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die vom Onkel und der Tante des BF gegenüber dem BFA gemachten Aussagen, die sich u.a. auf den Ablauf der schlepperunterstützten Fahrt nach Europa und somit auf den BF bezogen, dem Rechtsvertreter des BF mit Schreiben vom 12.12.2018 zur Kenntnis gebracht.
Am 04.06.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seines gesetzlichen Vertreters und seines Rechtsvertreters teilnahm. Das ebenfalls zur Verhandlung geladene BFA nahm nicht teil. Das Verhandlungsprotokoll wurde dem BFA zur Kenntnis gebracht. Auf die in der mündlichen Verhandlung gemachten ergänzenden Aussagen des BF wird im Folgenden Bezug genommen.
Vorgelegt wurden: Ein schulischer Bericht unterzeichnet von der Schulleiterin und der Klassenvorständin des BF ( XXXX mittelschule XXXX ) vom 22.05.2020, der bestätigt, dass der BF sich sowohl persönlich als auch leistungsmäßig gut integriert hat und die Schule voraussichtlich positiv abschließen würde; ein Empfehlungsschreiben des für den BF verantwortlichen gesetzlichen Vertreters im SOS Kinderdorf XXXX mit dem bestätigt wird, dass der BF im Laufe der Jahre eine sehr positive Entwicklung genommen und sich seit 2019 auch leistungsmäßig sehr verbessert habe; positive Schulzeugnisse vom 15.02.2019 (neue Mittelschule XXXX ) und vom 31.01.2020 ( XXXX ); und Urkunden über sportliche Leistungen, ein Empfehlungsschreiben des FC XXXX vom Juni 2019 mit dem u.a. auf das fußballerische Talent des BF hingewiesen wird und eine Anmeldebescheinigung über den Vereinswechsel zum XXXX .
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF führt den Namen XXXX , er wurde im Jahr XXXX in Kabul geboren und wuchs ebendort mit seinen Eltern und Geschwistern in der untersten Etage eines familieneigenen Hauses auf. Zwei Brüder des Vaters lebten mit ihren Familien auf den oberen beiden Etagen. Etwa zwei Jahre lang besuchte der BF die Schule. Nach einem Bombenanschlag in der Nähe der Schule ließen ihn seine Eltern nicht mehr zur Schule gehen. Der BF verbrachte fortan seinen Tag damit, auf einer Straße in unmittelbarer Nähe des Elternhauses (dies erlaubten die Eltern) mit den Nachbarskindern Fußball zu spielen. Im Jahr 2015 beschlossen sein Vater und einer seiner Onkel vs, mit ihren Familien schlepperunterstützt nach Europa zu reisen. Man flog in den Iran und reiste dann auf dem Landweg weiter. An der Grenze zur Türkei wurde der BF im Zuge einer Grenzkontrolle von seinen Eltern und Geschwistern getrennt. Der BF gelangte mit seiner Tante (der Frau seines Onkel vs) und deren Kindern in die Türkei und weiter nach Europa. Der Onkel konnte ihnen nachfolgen und traf sie wieder. Seine Eltern und Geschwister blieben zurück und wurden nach Afghanistan zurückgeschoben. Der zweite Onkel vs hatte Afghanistan etwas später verlassen und war schlepperunterstützt nach Deutschland gereist. Die Eltern und Geschwister des BF verließen Afghanistan ein paar Jahre später erneut schlepperunterstützt und wohnen nun in Indien.
In Österreich lebte der BF zunächst bei seiner Tante, seinem Onkel vs und deren vier Kindern. Dieses Zusammenleben gestaltete sich jedoch schwierig. Die Obsorge für den BF wurde mit Gerichtsbeschluss vom 10.03.2016 dem Land Oberösterreich übertragen und der BF im SOS Kinderdorf, XXXX untergebracht. Dort gelang es dem BF sich nach anfänglichen Schulschwierigkeiten gut zu entwickeln: Er besuchte neben der Schule einen Fußballverein, fiel dort mit guten fußballerischen Leistungen auf, bewarb sich zu einer Talente-Sichtung und wurde schließlich vom Fußballverein XXXX übernommen. Der BF wohnt nun wochentags im XXXX , wo er sich als einziger Teilnehmer aus Afghanistan auf Deutsch verständigen muss, besucht dort an fünf Tagen der Woche vormittags die dritte Klasse der dortigen Neuen Mittelschule, die ihren Stundenplan mit den nachmittäglichen Trainingseinheiten koordiniert. Nach dem Mittagessen im XXXX besucht der BF ein mehrstündiges Fußball-Training. Am Abend wird von 18:30 bis 21:00 die betreute Erledigung der Hausaufgaben und Nachhilfe angeboten, an der der BF regelmäßig teilnimmt. Am Wochenende wohnt der BF wie bisher im SOS-Kinderdorf in XXXX und unternimmt dort mit seinen Mitbewohnern des SOS Kinderdorfes XXXX , mit denen er sich in seiner Muttersprache unterhalten kann, Freizeitaktivitäten. Dem BF ist es auf diesem Weg gelungen, auch seine schulischen Leistungen entscheidend zu verbessern. Er ist nun ein guter Schüler. Der BF ist strafrechtlich unbescholten.
Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:
Quelle: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand vom 18.05.2020, EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019:
Afghanistan ist weiterhin von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt betroffen, bei dem die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF), unterstützt von den internationalen Streitkräften, mehreren regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) gegenüberstehen.
Dem UN-Generalsekretär zufolge steht Afghanistan weiterhin vor immensen sicherheitsbezogenen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Die Sicherheitslage soll sich insgesamt weiter verschlechtert und zu einer sogenannten „erodierenden Pattsituation“ geführt haben. Berichten zufolge haben sich die ANDSF grundsätzlich als fähig erwiesen, die Provinzhauptstädte und die wichtigsten städtischen Zentren zu verteidigen, im ländlichen Raum hingegen mussten sie beträchtliche Gebiete den Taliban überlassen.
Von dem Konflikt sind weiterhin alle Landesteile betroffen. Seit dem Beschluss der Regierung, Bevölkerungszentren und strategische ländliche Gebiete zu verteidigen, haben sich die Kämpfe zwischen regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) und der afghanischen Regierung intensiviert. Es wird berichtet, dass regierungsfeindliche Kräfte immer öfter bewusst auf Zivilisten gerichtete Anschläge durchführen, vor allem durch Selbstmordanschläge mit improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und komplexe Angriffe. Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) setzen ihre groß angelegten Angriffe in Kabul und anderen Städten fort und festigen ihre Kontrolle über ländliche Gebiete. Es wurden Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit und Effektivität der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) geäußert, die Sicherheit und Stabilität in ganz Afghanistan zu gewährleisten.
Trotz der ausdrücklichen Verpflichtung der afghanischen Regierung, ihre nationalen und internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten, ist der durch sie geleistete Schutz der Menschenrechte weiterhin inkonsistent. Große Teile der Bevölkerung einschließlich Frauen, Kindern, ethnischer Minderheiten, Häftlingen und anderer Gruppen sind Berichten zufolge weiterhin zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch unterschiedliche Akteure ausgesetzt.
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden laut Berichten in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betreffenden Gebiete tatsächlich kontrolliert. In von der Regierung kontrollierten Gebieten kommt es Berichten zufolge regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen durch den Staat und seine Vertreter. In Gebieten, die (teilweise) von regierungsnahen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, begehen diese Berichten zufolge straflos Menschenrechtsverletzungen. Ähnlich sind in von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten Menschenrechtsverletzungen, darunter durch die Etablierung paralleler Justizstrukturen, weit verbreitet. Zusätzlich begehen sowohl staatliche wie auch nicht-staatliche Akteure Berichten zufolge außerhalb der von ihnen jeweils kontrollierten Gebiete Menschenrechtsverletzungen. Aus Berichten geht hervor, dass besonders schwere Menschenrechtsverletzungen insbesondere in umkämpften Gebieten weit verbreitet sind.
Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der nach nationalem und internationalem Recht bestehenden Verpflichtung Afghanistans diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung. Die Regierungsführung Afghanistans und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen.
Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung.
Gemäß der Verfassung darf niemand ohne ordentliches Gerichtsverfahren festgenommen oder inhaftiert werden. Die Verfassung enthält außerdem ein absolutes Verbot des Einsatzes von Folter. Der Einsatz von Folter stellt nach dem Strafgesetzbuch eine Straftat dar, während die harte Bestrafung von Kindern durch das Jugendgesetz untersagt ist. Darüber hinaus verabschiedete das Oberhaus der Nationalversammlung im Januar 2018 den konsolidierten Wortlaut eines neuen Anti-Folter-Gesetzes.
Trotz dieser Rechtsgarantien bestehen Bedenken hinsichtlich des Einsatzes von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gegenüber Häftlingen, insbesondere von im Zusammenhang mit dem Konflikt verhafteten Personen, denen Unterstützung von regierungsfeindlichen Kräften zur Last gelegt wird und die in Gefängnissen des Inlandsgeheimdienstes (NDS), der afghanischen nationalen Polizei (ANP) (einschließlich der afghanischen nationalen Grenzpolizei ANBP), der afghanischen nationalen Streitkräfte (ANA) und der afghanischen lokalen Polizei (ALP) inhaftiert sind. UNAMA berichtete 2017, dass in vom Inlandsgeheimdienst (NDS) betriebenen Gefängnissen in fünf Provinzen „systematisch oder regelmäßig und weitverbreitet“ gefoltert wird und dass „ausreichend glaubhaften und verlässlichen Berichten zufolge in 17 anderen Provinz- oder staatlichen Einrichtungen des Inlandsgeheimdienstes gefoltert wird“. UNAMA dokumentierte außerdem „systematische Folterung und Misshandlung” in Haftanstalten der afghanischen nationalen Polizei (ANP) oder der afghanischen nationalen Grenzpolizei (ANBP) in den Provinzen Kandahar und Nangarhar sowie „Berichte über Verstöße in 20 anderen Provinzen, wobei die Behandlung von Häftlingen durch die ANP in den Provinzen Farah und Herat” besondere Sorge bereitet. Unter den Inhaftierten, bei denen die Anwendung von Folter festgestellt wurde, befanden sich auch Kinder.
UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren der folgenden Risikoprofile entsprechen, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles möglicherweise internationalen Schutz benötigen:
(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen;
(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen;
(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Zusammenhang mit der Einberufung von Minderjährigen und der Zwangsrekrutierung;
(4) Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden;
(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen haben;
(6) Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung regierungsfeindlicher Kräfte verstoßen haben;
(7) Frauen mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;
(8) Frauen und Männer, die angeblich gegen gesellschaftliche Normen verstoßen haben;
(9) Personen mit Behinderungen, insbesondere geistigen Beeinträchtigungen, und Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden;
(10) Kinder mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;
(11) Überlebende von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind;
(12) Personen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und/oder Geschlechtsidentität;
(13) Angehörige gewisser Volksgruppen, insbesondere ethnischer Minderheiten;
(14) An Blutfehden beteiligte Personen, und
(15) Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen (sowie deren Familienangehörige).
Ad 3: UNHCR ist der der Ansicht, dass für Männer im wehrfähigen Alter und für Kinder, die in Gebieten leben, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte befinden oder in denen regierungsnahe und regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) und/oder mit dem Islamischen Staat verbundene bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen, – abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles – ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor dieser von AGEs ausgehenden Verfolgung zu bieten, bestehen kann. Abhängig von den besonderen Umständen des Falles können Männer im wehrfähigen Alter und Kinder, die in Gebieten leben, in denen ALP-Kommandeure eine so mächtige Position innehaben, dass sie Mitglieder der Gemeinschaft in die ALP zwangsrekrutieren können, ebenfalls internationalen Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Gründen benötigen. Auch für Männer im wehrfähigen Alter und Kinder, die sich der Zwangsrekrutierung entweder durch einen staatlichen oder einen nichtstaatlichen Akteur widersetzen, kann aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Gründen Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz gegeben sein. Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles können Angehörige von Männern oder Kindern mit diesem Profil aufgrund ihrer Verbindung mit gefährdeten Personen internationalen Schutz benötigen. Asylanträge von Kindern sollten – einschließlich der Prüfung von Ausschlussgründen bei ehemaligen Kindersoldaten – sorgfältig und gemäß den UNHCR-Richtlinien für Asylanträge von Kindern geprüft werden. Wenn Kinder, die mit bewaffneten Gruppen in Verbindung standen, einer Straftat bezichtigt werden, sollte berücksichtigt werden, dass diese Kinder Opfer von Verstößen gegen internationales Recht und nicht nur Täter sein können.
Ad 10: UNHCR ist abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles der Auffassung, dass bei Kindern, die unter folgende Kategorien fallen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz bestehen kann: a) Kinder aus Gebieten, in denen regierungsfeindliche Kräfte oder die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) Minderjährige rekrutieren b) Personen, die schädliche traditionelle Bräuche überlebt haben oder durch diese gefährdet sind, einschließlich Kinderheirat und Zwangsheirat c) Kinder aus sozialen Schichten, in denen Kinderzwangsarbeit oder gefährliche Kinderarbeit üblich ist d) Überlebende von Gewalt gegen Kinder, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, die entsprechend gefährdet sind, einschließlich Kindern aus sozialen Schichten, in denen solche Gewalt üblich ist e) Kinder im Schulalter, insbesondere Mädchen f) Kinder, an deren Eltern Mitglieder der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) oder der regierungsfeindlichen Kräfte Vergeltung üben möchten, und Kinder, die von den ANDSF oder von den regierungsfeindlichen Kräften der Unterstützung der Gegenpartei verdächtigt werden Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles kann bei dieser Personengruppe ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ihrer Religion, ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor einer solchen von nichtstaatlichen Akteuren ausgehenden Verfolgung zu bieten, bestehen. Asylanträge von Kindern sollten einschließlich der Untersuchung von Ausschlussgründen bei ehemaligen Kindersoldaten sorgfältig und gemäß den UNHCR-Richtlinien für Asylanträge von Kindern geprüft werden.
Kriterien für Subsidiären Schutz:
Afghanische Staatsangehörige, die internationalen Schutz in Mitgliedstaaten der Europäischen Union suchen und nicht Flüchtlinge im Sinne der GFK sind, können die Kriterien für subsidiären Schutz erfüllen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie in Afghanistan der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt wären, also der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch den Staat oder seine Vertreter oder durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) ausgesetzt wären.
Im Kontext des bewaffneten Konflikts in Afghanistan gehören zu den relevanten Faktoren für die Einschätzung der Bedrohung des Lebens aufgrund willkürlicher Gewalt in einem bestimmten Teil des Landes die Anzahl der Zivilopfer und der Sicherheitsvorfälle sowie die Existenz schwerwiegender Verletzungen humanitären Völkerrechts, die Bedrohungen des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit darstellen. Solche Erwägungen sind jedoch nicht auf unmittelbare Auswirkungen von Gewalt beschränkt, sondern umfassen auch langfristige, indirektere Folgen von Gewalt einschließlich der Auswirkungen des Konflikts auf die Menschenrechtslage und das Ausmaß, in dem die Fähigkeit des Staates, Menschenrechte zu schützen, durch den Konflikt eingeschränkt wird. Im Kontext des Konflikts in Afghanistan gehören zu den relevanten Faktoren in dieser Hinsicht (i) die Kontrolle über die Zivilbevölkerung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) einschließlich der Etablierung paralleler Justizstrukturen und der Verhängung ungesetzlicher Strafen sowie der Bedrohung und Einschüchterung der Zivilbevölkerung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Einsatz von Erpressung und illegalen Steuern (ii) Zwangsrekrutierung (iii) Auswirkung von Gewalt und Unsicherheit auf die humanitäre Situation in Form von Ernährungsunsicherheit, Armut, Vernichtung von Lebensgrundlagen und Verlust von Eigentum (iv) ein hohes Maß an organisierter Kriminalität und die Möglichkeit von lokalen Machthabern („Strongmen“), Kriegsfürsten („Warlords“) und korrupten Staatsbediensteten, straflos tätig zu sein (v) systematische Beschränkung des Zugangs zu Bildung und zu grundlegender Gesundheitsversorgung infolge von Unsicherheit und (vi) systematische Beschränkung der Teilhabe am öffentlichen Leben, insbesondere für Frauen.
Im Lichte der verfügbaren Informationen über schwerwiegende und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) in den von ihnen kontrollierten Gebieten sowie der Unfähigkeit des Staates, für Schutz vor derartigen Verletzungen in diesen Gebieten zu sorgen, ist UNHCR der Ansicht, dass eine interne Schutzalternative in Gebieten des Landes, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, nicht gegeben ist, es sei denn in Ausnahmefällen, in denen Antragstellende über zuvor hergestellte Verbindungen zur Führung der regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfügen. UNHCR ist der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative auch in den von aktiven Kampfhandlungen zwischen regierungsnahen und regierungsfeindlichen Kräften oder zwischen verschiedenen regierungsfeindlichen Kräften betroffenen Gebieten nicht gegeben ist.
Ob eine Flucht- oder Neuansiedlungsalternative „zumutbar” ist, muss im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Antragstellenden beurteilt werden; maßgebliche Faktoren sind dabei Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse sowie der jeweilige Bildungs- und Berufshintergrund.
Ein als Flucht- oder Neuansiedlungsalternative vorgeschlagenes Gebiet wäre nur zumutbar, wenn der Antragsteller dort in Sicherheit leben kann, frei von Gefahr und Risiko für Leib und Leben. Diese Bedingungen müssen auf Dauer gewährleistet und dürfen nicht nur scheinbar oder unberechenbar sein. Diesbezüglich muss die Instabilität des ständigen Schwankungen unterworfenen bewaffneten Konflikts in Afghanistan berücksichtigt werden. Die in Abschnitt II.B dieser Richtlinien enthaltenen Informationen sowie verlässliche und aktuelle Informationen über die Sicherheitslage im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet sind wichtige Elemente bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer vorgeschlagenen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative.
Inwiefern Antragsteller auf Unterstützung durch Familiennetzwerke im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet zurückgreifen können, muss auch im Lichte der berichteten Stigmatisierung und Diskriminierung von Personen, die nach einem Aufenthalt im Ausland nach Afghanistan zurückkehren, geprüft werden. Vor diesem Hintergrund ist UNHCR der Auffassung, dass eine vorgeschlagene interne Schutzalternative nur dann zumutbar ist, wenn die Person Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung und (iii) Lebensgrundlagen hat oder über erwiesene und nachhaltige Unterstützung verfügt, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. UNHCR ist ferner der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann als zumutbar angesehen werden kann, wenn die Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und man sich vergewissert hat, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne die oben beschriebenen besonderen Gefährdungsfaktoren dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen.
Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer Flucht- oder Neuansiedlungsalternative für Kinder sind die besonderen Umstände sowie die rechtlichen Verpflichtungen des Staates aus der Kinderrechtskonvention zu berücksichtigen – vor allem die Verpflichtung zu gewährleisten, dass das Kindeswohl bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, als vorrangiger Gesichtspunkt beachtet wird, und der Meinung des Kindes entsprechend seinem Alter und seiner Reife angemessen Bedeutung beigemessen wird. Entscheidungsträger müssen gebührend berücksichtigen, dass etwas, das für Erwachsene lediglich lästig ist, für ein Kind unter Umständen eine unzumutbare Härte darstellen kann. Diesen Überlegungen kommt zusätzliche Bedeutung zu, wenn es sich um unbegleitete und von ihren Eltern getrennte Kinder handelt. Im Fall unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder aus Afghanistan ist UNHCR der Ansicht, dass – über die Unterstützung des Kindes durch seine (erweiterte) Familie oder größere ethnische Gemeinschaft im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet hinaus – bei der Beurteilung der Verfügbarkeit einer Flucht- oder Neuansiedlungsalternative für das Kind das Kindeswohl gemäß Artikel 3 (1) der Kinderrechtskonvention vorrangig zu berücksichtigen ist. Für die Rückkehr unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder nach Afghanistan gelten ferner die Mindestgarantien, die in dem Aide-mémoire: Special Measures Applying to the Return of Unaccompanied and Separated Children to Afghanistan von 2010 aufgeführt sind.
Wird eine interne Schutzalternative in einer bestimmten Stadt im Zuge eines Asylverfahrens in Erwägung gezogen, müssen alle allgemeinen und persönlichen Umstände, die im Hinblick auf Relevanz und Zumutbarkeit dieser Stadt als vorgeschlagenem Neuansiedlungsort für den betreffenden Antragsteller maßgeblich sind,soweit wie möglich festgestellt und gebührend berücksichtigt werden.
Zur Feststellung der Relevanz muss der Entscheidungsträger beurteilen, ob die betreffende Stadt für den Antragsteller praktisch und sicher erreichbar ist. Dazu muss die Verfügbarkeit von Lufttransport zum nächstgelegenen Flugplatz und die Sicherheit einer Weiterreise auf der Straße zum endgültigen Bestimmungsort oder alternativ die Sicherheit des Transports auf der Straße vom internationalen Flugplatz Kabul zum endgültigen Bestimmungsort geprüft werden.
UNHCR macht darauf aufmerksam, dass nur wenige Städte von Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte, die gezielt gegen Zivilisten vorgehen, verschont bleiben. UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.
Im Hinblick auf die Prüfung der Zumutbarkeit verweist UNHCR auf die allgemeine Bemerkung des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in seinem Überblick von 2018 über den Bedarf an humanitärer Hilfe, in der es heißt: „Insgesamt halten sich heute über 54 Prozent der Binnenvertriebenen (IDPs) in den Provinzhauptstädten Afghanistans auf, was den Druck auf die ohnehin überlasteten Dienstleistungen und Infrastruktur weiter erhöht und die Konkurrenz um Ressourcen zwischen der Aufnahmegemeinschaft und den Neuankömmlingen verstärkt.“
Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: „Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw.”
Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.
In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen, diese sind auch am meisten armutsgefährdet.
Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen.
Humanitäre und Entwicklungsakteure haben Bedenken hinsichtlich der begrenzten Aufnahmekapazität Kabuls zum Ausdruck gebracht. Seit dem Fall des früheren Taliban-Regimes 2001 hat die Region Kabul City den größten Bevölkerungszuwachs in Afghanistan erlebt. Offiziellen Bevölkerungsschätzungen zufolge hatte die Region Kabul City Anfang 2016 5 Millionen Einwohner, 60 Prozent davon in der Stadt Kabul. Durch die großen Zahl der Rückkehrer aus Iran und Pakistan nach Afghanistan stieg die Bevölkerungszahl rapide weiter an (siehe Abschnitt II.F).
Das International Growth Centre vermerkte im Januar 2018: „Kabul hat in den letzten drei Jahrzehnten eine rasante Urbanisierung erfahren. Das Bevölkerungswachstum in der Stadt übersteigt die Fähigkeit der Stadt, die nötige Infrastruktur sowie die erforderlichen Versorgungsdienste und Arbeitsplätze für die Bewohner bereitzustellen, wodurch ausgedehnte informelle Siedlungen entstehen, in denen geschätzte 70 Prozent der Stadtbewohner leben.”
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Sorge angesichts der zunehmenden Armut in Afghanistan stellte die Asia Foundation in ihrer Erhebung über die afghanische Bevölkerung aus dem Jahr 2017 fest, dass eine Verschlechterung der Finanzlage in der Region Zentralafghanistan/Kabul mit 43,9 Prozent am stärksten wahrnehmbar war. Im Januar 2017 wurde berichtet, dass 55 Prozent der Haushalte in den informellen Siedlungen Kabuls mit ungesicherter Nahrungsmittelversorgung konfrontiert waren. In seinem Überblick von 2018 über den Bedarf an humanitärer Hilfe reiht das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) Kabul unter den 10 (von insgesamt 34) Provinzen ein, „die am stärksten vom Konflikt betroffen sind“. In dem Überblick heißt es weiter, dass „der Bedarf in großen Ballungszentren am größten ist, einschließlich Kabuls und der Stadt Jalalabad, wo sowohl Binnenvertriebene als auch Heimkehrer zusammenkamen auf der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten und einer Existenzgrundlage sowie nach Zugang zu grundlegenden und lebenswichtigen Versorgungsdiensten. Der Bedarf an humanitärer Hilfe in diesen beiden Provinzen macht 42 Prozent des gesamten Bedarfs an humanitärer Hilfe aufgrund von Binnenvertreibung und grenzüberschreitenden Zustroms aus.”
UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.
Herat wird als eine der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in einigen Distrikten der Provinz, wie Shindand, Kushk, Chisht-i-Sharif und Gulran, aktiv (AN 18.2.2018; vgl. UNODC 12.2017, Khaama Press 25.10.2017, AJ 25.6.2017). Des Weiteren wurde Ende Oktober 2017 verlautbart, dass die Provinz Herat zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen des Landes zählt, wenngleich sich in den abgelegenen Distrikten die Situation in den letzten Jahren aufgrund der Taliban verschlechtert hat (Khaama Press 25.10.2017).
Bei der Provinz Balkh, mit deren Hauptstadt Mazar- e Sharif, handelt es sich laut EASO um einen jener Landesteile, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Art 15 (c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein.
Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften, oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte. Im Zeitraum 01.01.2017 - 30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.
Im gesamten Jahr 2017 wurden 129 zivile Opfer (52 getötete Zivilisten und 77 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Bodenoffensiven und Blindgänger/Landminen. Dies bedeutet einen Rückgang von 68% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt. Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben.
Die Stadt Mazar- e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher.
In Mazar- e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Als Alternative dazu stehen Unterkünfte in "Teehäusern" zur Verfügung. Generell besteht in Mazar- e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keine Lebensmittelknappheit. In Mazar- e Sharif haben die meisten Leute laut EASO Zugang zu erschlossenen Wasserquellen sowie auch zu Sanitäreinrichtungen. Schulische Einrichtungen sind in Mazar-e Sharif vorhanden. Der Schulbesuch ist aber besonders für Kinder von Vertriebenen und Rückkehrern wie im gegenständlichen Beschwerdeverfahren schwierig, zumal die Aufnahmekapazität der Schulen begrenzt ist und oftmals nicht ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, um die Kinder in die Schule schicken zu können.
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde sowie durch Einsichtnahme in die im Beschwerdeverfahren vorgelegten Dokumente und Abhaltung der mündlichen Verhandlung vom 04.06.2020. Die Identität und das Alter des BF ergeben sich aus seinen unbedenklichen Angaben und aus der im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Tazkira. Die strafrechtliche Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus dem Strafregister der Republik Österreich. Die schulischen und sportlichen Erfolge des BF ergeben sich aus den vorgelegten Schulnachrichten, Empfehlungsschreiben und Dokumenten über den Vereinswechsel zum Fußballverein XXXX , wie unter Punkt I., „Verfahrensgang“ näher ausgeführt wurde. Der BF hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung weiters in unbedenklicher Weise dargelegt, wie es ihm gelang, seine anfangs sehr schwierige Lage in den Griff zu bekommen und sich in Österreich gut zu integrieren. Sein in der mündlichen Verhandlung anwesender gesetzlicher Vertreter und Betreuer des SOS-Kinderdorfes hat durch ergänzende Angaben die sehr positive Entwicklung des BF mit klaren und nachvollziehbaren Darlegungen bestätigt.
Aus den Aussagen der mit dem BF nach Österreich eingereisten Verwandten (wie unter Punkt I., Verfahrensgang, näher ausgeführt wird) haben sich keine Anhaltspunkte für einen den BF betreffenden Fluchtgrund ergeben. Eine ergänzende Befragung dieser Verwandten zur Frage, ob andere konkrete den BF betreffenden Fluchtgründen vorliegen könnten, wurde vom Rechtsvertreter des BF nicht beantragt und erscheint im vorliegenden Gesamtzusammenhang auch nicht geboten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Zu A)
Zu Spruchpunbkt I.:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.
Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).
Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Die Voraussetzung der "wohlbegründeten Furcht" vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265). Die entfernte Möglichkeit einer solchen Verfolgung reicht für die Feststellung von Asylrelevanz nicht aus (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185).
Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative").
Nach ständiger Judikatur des VwGH kann einem Asylwerber, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurden, dort nie gelebt hat und keine Angehörigen in Afghanistan hat sondern im Iran aufgewachsen und dort zur Schule gegangen ist (vgl. zuletzt VwGH 2019/01/0488 vom 13.02.2020.
Mit Beschluss Ra 2019/20/0193 vom 29.05.2019 hat der Verwaltungsgerichtshof eine auf das Argument gestützte Revision eines männlichen Revisionswerbers, das BVwG hätte sich nicht nachvollziehbar damit befasst, dass er als „westernized person“ in Afghanistan asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätte, zurückgewiesen und ausgeführt, dass es dem Revisionswerber mit dem nicht näher ausgeführten Hinweis auf seine Verwestlichung fallbezogen nicht gelungen sei, eine Verfolgung iSd Art 1, Abschnitt A Z 2 GFK darzulegen oder eine sonstige Relevanz für das Entscheidungsergebnis dazuzutun.
Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich daraus:
Dem BF droht im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Asyl-relevante konkrete Verfolgung iSd der oben dargelegten Gesetzesbestimmungen und der dazu ergangenen aktuellen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes.
Weder kann unter Berücksichtigung der oben zusammengefassten Länderfeststellungen allein aus seiner Eigenschaft als Minderjähriger noch aus seiner Eigenschaft als Jugendlicher im (bald) wehrfähigen Alter eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, abgeleitet werden.
Soweit seitens des Rechtsvertreters des BFV in der mündlichen Verhandlung eingewendet wurde, der BF wäre im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner "westlichen" Lebenseinstellung asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt, so ist dem entgegenzuhalten, dass sich aus dem festgestellte Sachverhalt keine konkret und gezielt gegen den BF als Person aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität ergibt, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte. Die entfernte Möglichkeit einer solchen Verfolgung reicht für die Feststellung von Asylrelevanz nicht aus (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185).
Die Beschwerde war hinsichtlich Spruchpunkt I. als unbegründet abzuweisen.
Zu den Spruchpunkten II. und III.:
Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz setzt voraus, dass die Abschiebung des Betroffenen in seine Heimat entweder eine reale Gefahr einer Verletzung insbesondere von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde oder für ihn eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes im Herkunftsstaat des Betroffenen mit sich bringen würde.
Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. VwGH vom 26.04.2017, Ra 2017/19/0016).
Für die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK setzt die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Einzelfallprüfung voraus. In diesem Zusammenhang sind konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 23.02.2016, Ra 2015/01/0134, ausgeführt hat, reicht es für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Afghanistan nicht aus, bloß auf die allgemeine schlechte Sicherheits- und Versorgungslage zu verweisen. Hinsichtlich der Sicherheitslage geht der Verwaltungsgerichtshof von einer kleinräumigen Betrachtungsweise aus, wobei er trotz der weiterhin als instabil bezeichneten Sicherheitslage eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Mazar-e Sharif, im Hinblick auf die regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt unterschiedliche Sicherheitslage als nicht grundsätzlich ausgeschlossen betrachtet (vgl. VwGH 10.08.2017, Ra 2016/20/0369-11).
Für die zur Prüfung der Notwendigkeit von subsidiärem Schutz erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des BF bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0029).
Für die Prüfung einer innerstaatlichen Schutzalternative ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Schutzalternative ins Auge gefassten Gebiet Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, gegeben sind. Daher scheidet das ins Auge gefasste Gebiet aus, wenn in dieser Region Verhältnisse herrschen, die Art. 3 EMRK widersprechen. Von dieser Frage ist getrennt zu beurteilen, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann, bzw. dass vom ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem betreffenden Gebiet niederzulassen.
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass entsprechend der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet wesentliche Bedeutung zukommt. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in dem ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, findet.
Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Schutzalternative sprechen zu können, muss es möglich sein, dort nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute des Asylwerbers führen können (VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001-5). Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, wobei die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit zu verifizieren ist (vgl. wGH 8.8.2017, Ra 2017/19/0118).
Wie sich aus vorliegenden Berichtsmaterial hervorgeht, ist die Sicherheitslage in der Stadt Mazar-e Sharif nach wie vor angespannt. Allerdings hat die afghanische Regierung die Kontrolle über Mazar-e Sharif sowie größere Transitrouten. Auch ist Mazar-e Sharif über den Luftweg aufgrund des vorhandenen Flughafens gut bzw. sicher erreichbar. Terroranschläge sind in dieser Stadt, insbesondere auf Einrichtungen mit Symbolcharakter nicht auszuschließen und finden unregelmäßigen Abständen auch statt. Allein dieser letztgenannte Umstand, begründet noch kein reales Risiko der Verletzung seiner durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte bzw. liegt deshalb noch keine ernsthafte Bedrohung des Lebens einer Rückkehrers oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts vor ( vgl. VwGH 25.04.2017, 2017/01/0016).
Für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan reicht es grundsätzlich nicht aus, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan zu berufen, sondern es müssen vom Betroffenen auch individuelle Umstände glaubhaft gemacht werden, die im Fall der Rückkehr nach Afghanistan eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen.
Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich daraus:
Im Fall des BF liegen individuellen Umstände vor, die im Fall der Rückkehr nach Afghanistan eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen: Der Beschwerdeführer ist minderjährig und hat das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet. Er hat seine Heimatstadt Kabul im Alter von 10 Jahren verlassen und verfügt aktuell in Afghanistan über keine familiären Anknüpfungspunkte und über kein soziales Netz. Der BF hat während der letzten fünf Jahre in einer europäischen Erziehungseinrichtung gewohnt und wurde hier sozialisiert. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan wäre er auf sich allein gestellt und gezwungen nach Wohnraum und weiteren notwendigen Lebensgrundlagen zu suchen, ohne über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Vor dem Hintergrund der im gesamten Staatsgebiet Afghanistans bestehenden prekären Sicherheits- und Versorgungslage ist der BF – unter Mitberücksichtigung seiner jugendlichen Unerfahrenheit und des Umstandes, dass er während wichtiger Jahre seines Aufwachsens in einer österreichischen Erziehungseinrichtung gewohnt hat, die ihn auf ein eigenständiges Leben mit dem Focus auf hierzulande übliche Rahmenbedingungen vorbereitet hat - als besonders vulnerabel zu beurteilen. Eine Rückkehr nach Afghanistan hätte im Fall des BF eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK zur Folge.
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