TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/29 G314 2213238-1

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Veröffentlicht am 29.06.2020
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Entscheidungsdatum

29.06.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §70 Abs3

Spruch

G314 2213238-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des deutschen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung (Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.12.2018,
Zl. XXXX, betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbots zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) wurde im Bundesgebiet mehrmals strafgerichtlich verurteilt. Zuletzt wurde er mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, XXXX, gemäß § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Am XXXX.06.2018 wurde er unter Setzung einer fünfjährigen Probezeit bedingt aus der Anstaltsunterbringung entlassen.

Am XXXX.10.2018 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) über beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbots informiert. Gleichzeitig wurde ihm eine vierwöchige Frist für eine schriftliche Stellungnahme eingeräumt. Der BF erstattete eine Stellungnahme, die am XXXX.11.2018 beim BFA einlangte.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein sechsjähriges Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 70 Abs 3 FPG ein einmonatiger Durchsetzungsaufschub erteilt (Spruchpunkt II.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit drei strafgerichtlichen Verurteilungen, dem dadurch dokumentierten persönlichen Verhalten des BF und dessen fehlender Integration begründet.

Dagegen richtet sich die Beschwerde mit dem Antrag auf Durchführung einer Beschwerdeverhandlung. Der BF strebt damit primär die Behebung des angefochtenen Bescheids an, hilfsweise beantragt er die Herabsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbots, stellt einen Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag und beantragt die Zulassung der (ordentlichen) Revision. Er begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass das BFA keine Ermittlungen zu seinem Privat- und Familienleben angestellt und sich nicht mit den von ihm absolvierten Therapien auseinandergesetzt habe. Es habe die Beweise selektiv gewürdigt und die Entscheidung unzureichend begründet.

Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens vor.

Mit dem Beschluss vom 27.02.2019 setzte das BVwG das Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung im pflegschaftsgerichtlichen Verfahren über das Kontaktrecht des BF zu seinen beiden minderjährigen, in Österreich lebenden Kindern aus. Mit Schreiben vom XXXX.06.2019 informierte das Bezirksgericht XXXX das BVwG darüber, dass der BF seinen Antrag auf Kontaktrechtseinräumung zurückgezogen habe.

Am 26.05.2020 legte der BF dem BVwG auftragsgemäß Unterlagen zu den anlässlich der bedingten Entlassung angeordneten therapeutischen Maßnahmen vor.

Feststellungen:

Der BF ist deutscher Staatsangehöriger und spricht Deutsch. Er wurde am XXXX in der XXXX geboren, lebte aber von seinem ersten Lebensjahr an in Deutschland, wo er die Schule besuchte und danach als Sicherheitsfachkraft arbeitete. Seine Mutter, die nach einem Schlaganfall in einem Altersheim lebt, und seine (Halb-)Geschwister leben nach wie vor in Deutschland, wobei nur zur Mutter und zu einer Schwester Kontakt besteht. Sein Vater ist bereits verstorben (Gutachten SV XXXX AS 245 ff und OZ 3; Kopie Personalausweis AS 49; Schreiben AS 337).

Der BF war im Bundesgebiet erstmals im Zeitraum XXXX.04. bis XXXX.05.2009 meldeamtlich erfasst (Meldezettel AS 47; ZMR-Auszug). Er ist ledig. Anfang 2008 ging er eine Beziehung mit der Österreicherin XXXX ein, der seine beiden Kinder entstammen, die am XXXX geborene XXXX und der am XXXX geborene XXXX. Der BF hat keine weiteren Sorgepflichten. Die Partnerschaft dauerte bis 2010. Nach dem Ende der Beziehung kehrte der BF nach Deutschland zurück, suchte aber immer wieder den Kontakt zu XXXX und den Kindern (Strafurteil XXXX, AS 225 ff; Gutachten SV XXXX, AS 245 ff).

Der BF wurde in Österreich drei Mal strafgerichtlich verurteilt (wobei einmal eine Zusatzstrafe verhängt wurde), in Deutschland einmal (Strafregisterauszug, ECRIS-Auszug). Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, XXXX, wurde er wegen der Vergehen der (teilweise versuchten) Körperverletzung, der schweren Körperverletzung, der gefährlichen Drohung sowie der versuchten Nötigung (§§ 83 Abs 1, 15 StGB; §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 2 StGB; § 107 Abs 1 StGB sowie §§ 105 Abs 1, 15 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, wobei ein sechsmonatiger Strafteil bedingt nachgesehen wurde. Dem Urteil lag zugrunde, dass er seine damals schwangere Lebensgefährtin im Zeitraum Jänner bis Mai 2009 in vier Angriffen verletzte bzw. zu verletzen versuchte, indem er sie unter anderem an den Haaren zog, mit der Faust schlug, mit dem Knie trat, würgte und Zigaretten in ihrem Gesicht ausdämpfte (wobei sich der Tatzeitraum bei dem letzten Angriff über mehrere Stunden erstreckte und er ihr dabei besondere Qualen zufügte). Außerdem bedrohte er sie mit der Entführung ihres Kindes und mit einer Verletzung am Körper, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, und versuchte sie durch gefährliche Drohung unter Vorhalten eines Messers zu einer Unterlassung (Herbeirufen des Vermieters) zu nötigen. Diese Verurteilung ist mittlerweile getilgt (Strafurteil XXXX, AS 23 ff; Strafregister).

Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, XXXX, wurde wegen der Vergehen der gefährlichen Drohung und der Nötigung (§§ 107 Abs 1 und 105 Abs 1 StGB) eine zweimonatige Zusatz-Freiheitsstrafe unter Bedachtnahme auf die vorangegangene Verurteilung verhängt, weil der BF im Oktober und im Dezember 2008 mehrere Personen gefährlich bedroht und den Ex-Ehemann seiner Lebensgefährtin zur Rückerstattung eines von ihrem Konto abgehobenen Geldbetrags genötigt hatte. Auch diese Verurteilung ist mittlerweile getilgt (Strafurteil XXXX, AS 107 ff; Strafregister).

Der unbedingte Teil der Freiheitsstrafen wurde in der Zeit von XXXX.05. bis XXXX.08.2009 in der Justizanstalt XXXX vollzogen. Am XXXX.08.2009 wurde der BF bedingt entlassen (ZMR-Auszug, Strafregisterauszug AS 126).

Mit dem Urteil des XXXX vom XXXX wurde der BF wegen Bedrohung in zwei Fällen in Tatmehrheit mit falscher Verdächtigung zu einer Geldstrafe verurteilt, unter anderem, weil er am XXXX.04.2012 behauptet hatte, er habe im Internet pornographische Darstellungen seiner Tochter und der minderjährigen Tochter seiner Ex-Lebensgefährtin aus erster Ehe gesehen (ECRIS-Auszug; Gutachten AS 249; Strafurteil XXXX, AS 225 ff).

Am XXXX.07.2014 wurde der BF im Bundesgebiet festgenommen und in der Folge in Untersuchungshaft bzw. in vorläufiger Anhaltung gemäß § 429 Abs 4 StPO angehalten (Vollzugsinformation AS 115 ff; ZMR-Auszug; Beschluss AS 147; Strafurteil XXXX, AS 225 ff). Zu diesem Zeitpunkt hatte er mehrere Jahre lang regelmäßig Alkohol sowie THC und Kokain konsumiert (Gutachten OZ 11, Seite 5). Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, XXXX, wurde er gemäß § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dieser Einweisung lag zu Grunde, dass er sich am XXXX.07.2014 in der wahnhaften Annahme, sie habe etwas mit Pornographie zu tun, in die von XXXX und den gemeinsamen Kindern bewohnten Wohnung begab, wo er sie am XXXX.07.2014 unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen Abartigkeit von höherem Grad (anhaltend wahnhafte Störung/Paranoia) beruhte, gefährlich mit dem Tod bedrohte, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er sie an den Haaren packte, ihr ein Küchenmesser an den Hals hielt und dabei erklärte: „Ich drück nur einmal zu“. Diese Tat wäre ihm im Zustand der Zurechnungsfähigkeit als das Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und 2 erster Fall StGB zuzurechnen gewesen (Strafurteil XXXX, AS 225 ff).

Im Rahmen des Maßnahmenvollzugs wurde der BF in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses behandelt, wobei er zunächst falsche anamnestische Angaben über angebliche Traumaerfahrungen machte. Nachdem seine Lügen aufgedeckt worden waren, wurde die Diagnose geändert und seine Therapie angepasst, was zu einer positiven Entwicklung führte. Da er sich kooperativ und einsichtig zeigte, wurden ihm Vollzugslockerungen gewährt. Ab 2017 wurde er in einem forensischen Übergangswohnheim betreut und die Therapie (Psychotherapie und Psychopharmakatherapie) fortgesetzt, sodass sich sein Zustand weiter stabilisierte (Gutachten SV XXXX AS 245 ff und OZ 3).

Nachdem ein psychiatrisches Sachverständigengutachten ergeben hatte, dass die Gefährlichkeit, gegen die sich die Maßnahme richtete, nicht mehr gegeben sei, wurde der BF am XXXX.06.2018 bedingt aus dem Maßnahmenvollzug entlassen. Für die Dauer der mit fünf Jahren bestimmten Probezeit wurde die Bewährungshilfe angeordnet und dem BF mehrere Weisungen erteilt (Wohnungsnahme im Übergangswohnhaus oder in einer vergleichbaren Einrichtung, Psychotherapie bei der Männerberatungsstelle, Fortsetzung der Psychopharmakatherapie mit regelmäßigen fachärztlichen Kontrolluntersuchungen, strikte Alkoholkarenz, kein Kontakt zu XXXX, Kontakt zu seinen Kindern nur über das Jugendamt) (Gutachten, Beschluss OZ 3, Strafregister).

Nach der bedingten Entlassung verblieb der BF zunächst im Übergangswohnheim. Seit Herbst 2019 lebt er mit seiner österreichischen Freundin, mit der er seit 2018 zusammen ist, in einem gemeinsamen Haushalt in XXXX; seit März 2020 ist er dort mit Hauptwohnsitz gemeldet. Aktuell besteht kein Hinweis auf das Vorliegen einer schwerwiegenden psychischen Störung; die früher bestehende Suchterkrankung liegt seit mehreren Jahren nicht mehr vor. Die Weisung zur Wohnungsnahme in einem Wohnheim wurde daher nicht mehr für notwendig erachtet (ZMR-Auszug; Schreiben AS 337; Stellungnahme AS 339 ff; Gutachten OZ 11).

Der BF war zunächst in die interne Tageswerkstätte des Übergangswohnheims eingebunden und wechselte 2017 in die externe Tagesstruktur. Er möchte wieder am ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen (Stellungnahmen AS 339 ff, AS 343). Am XXXX.06.2018 stellte er einen Erstantrag auf Erteilung einer Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmer, über den bislang noch nicht entschieden wurde (IZR-Auszug; Schreiben AS 211). Er war von XXXX. bis XXXX.08.2018, von XXXX.01. bis XXXX.02.2020 sowie von XXXX. bis XXXX.04.2020 geringfügig beschäftigt und von XXXX.06. bis XXXX.07.2019 sowie von XXXX. bis XXXX.03.2020 vollversichert. Derzeit ist er ohne Beschäftigung und ohne Vermögen, bezieht jedoch eine Rente der Deutschen Rentenversicherung wegen voller Erwerbsminderung von ca. EUR 260 pro Monat. Er ist im Rahmen der gesetzlichen Sozialversicherung krankenversichert, wobei die Leistungen aufgrund von Beitragsrückständen bis Ende Februar 2018 ruhten. Seit XXXX.02.2018 kann er aufgrund einer Ratenzahlungsvereinbarung wieder alle Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nutzen (Versicherungsdatenauszug; Schreiben der Deutschen Rentenversicherung AS 329; Schreiben der XXXX AS 333).

Der BF ist behandlungseinsichtig, kommt den gerichtlichen Weisungen weitestgehend nach und arbeitet mit der Bewährungshilfe kooperativ, offen und zuverlässig zusammen. Er befolgt ärztliche (psychiatrische) Behandlungsempfehlungen und nimmt die verordneten Medikamente (Psychopharmaka) regelmäßig ein. Er hält die Termine bei der XXXX ein und absolviert eine forensische Einzelpsychotherapie bei der XXXX (Stellungnahme AS 327; Schreiben AS 335; Schreiben AS 337; Schreiben XXXX, Befund XXXX und Bestätigung XXXX OZ 13). Er hat seine Kinder seit Juli 2014 nicht mehr gesehen und seinen Antrag auf Kontaktrechtseinräumung im Mai 2019 zurückgezogen (Stellungnahme AS 327; Schreiben AS 415; Verständigungen des Bezirksgerichts XXXX OZ 5 und OZ 9).

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und dem Gerichtsakt des BVwG.

Die Feststellungen basieren jeweils auf den in den Klammerzitaten angegebenen Beweismitteln, wobei sich die angegebenen Aktenseiten (AS) auf die Nummerierung der Verwaltungsakten beziehen, insbesondere auf den vom BF vorgelegten Urkunden, seinen Angaben in der Stellungnahme und in der Beschwerde sowie auf den Informationen aufgrund von Abfragen im Zentralen Melderegister (ZMR), Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), Strafregister und den Sozialversicherungsdaten.

Die Feststellungen zur Identität des BF (Name, Geburtsdatum und Staatsangehörigkeit), seinem Geburtsort sowie zu seinen persönlichen Verhältnissen beruhen auf den entsprechenden Angaben im aktenkundigen Strafurteil vom XXXX und auf seinem in Kopie vorliegenden, mittlerweile abgelaufenen deutschen Personalausweis. Seine finanziellen Verhältnisse ergeben sich insbesondere aus dem Schreiben der Deutschen Rentenversicherung (AS 329). Deutschkenntnisse sind aufgrund seiner Herkunft und der in Deutschland absolvierten Schule und Berufstätigkeit plausibel.

Die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF werden anhand der Strafurteile, des ECRIS-Auszugs und des Strafregisters festgestellt, aus dem auch die festgestellten Vollzugsdaten, die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher und die bedingten Entlassungen hervorgehen. Es gibt keine Indizien für weitere strafrechtliche Verurteilungen des BF oder andere Verstöße gegen die öffentliche Ordnung. Da die Verurteilungen aus dem Jahr 2009 nicht mehr im Strafregister aufscheinen, ist davon auszugehen, dass sie mittlerweile getilgt wurden.

Der BF gab gegenüber dem Sachverständigen XXXX an, er habe sich 2012 von XXXX getrennt und sei nach Beendigung der Beziehung „kurz“ nach Deutschland zurückgekehrt. Demgegenüber ergibt sich aus dem Urteil vom XXXX, dass es bereits 2010, noch vor der Geburt von XXXX, zur Trennung gekommen sei und dass der BF XXXX und die Kinder in der Folge besucht habe. Angesichts der Verurteilung des BF durch das XXXX 2013 und der im Strafurteil vom XXXX (Urteilseite 2 f) geschilderten Übernahme der Strafverfolgung durch die deutschen Behörden ab 2012 sowie angesichts der vom BF gegen XXXX 2009 während der Schwangerschaft ausgeübten Gewalt ist davon auszugehen, dass die Trennung schon 2010 erfolgte und er danach bis zu seiner Festnahme im Juli 2014 in Deutschland lebte. Dies steht im Einklang damit, dass er dem Sachverständigen XXXX auch schilderte, er sei nach der Trennung wiederkehrend zu Besuch zu seiner Ex-Lebensgefährtin und den Kindern gekommen (Seite 9 des Gutachtens OZ 3). Offenbar ist es 2014 bei einem solchen Besuch zu dem Einweisungsdelikt gekommen. Dieser chronologische Ablauf ist auch mit den Meldungen laut ZMR gut in Einklang zu bringen.

Der Antrag auf Ausstellung einer Anmeldebescheinigung ergibt sich aus dem diesbezüglichen IZR-Eintrag. Eine Entscheidung darüber ist im Hinblick auf das anhängige Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht zu erwarten und geht aus den Akten auch nicht hervor.

Die Konstatierungen zum psychischen Zustand des BF konnten aufgrund der aktenkundigen Sachverständigengutachten sowie der zuletzt eingelangten Dokumente der Bewährungshilfe, der XXXX und des XXXX getroffen werden (AS 245 ff; OZ 3, OZ 11 und OZ 13). Aus sämtlichen Unterlagen geht hervor, dass der BF krankheits- und behandlungseinsichtig ist, sämtliche Therapien absolviert, die verschriebenen Medikamente einnimmt und weder Alkohol noch Suchtgift konsumiert. Abgesehen von den im Gutachten OZ 11 dargestellten Ordnungswidrigkeiten im Übergangswohnheim Ende 2019 (Missachtung der Hausordnung, Bruch der Wohnweisung), die angesichts des langen Beobachtungszeitraums und der erzielten Fortschritte nicht überbewertet werden, war sein Verhalten nach dem Beginn der passenden Therapie 2016 tadellos; es sind keine weiteren Verstöße gegen gerichtliche Weisungen oder ärztlich-therapeutische Anweisungen aktenkundig. In dem jüngsten der dem BVwG vorliegenden psychiatrischen Sachverständigengutachten vom XXXX.11.2019 werden dementsprechend auch das Fehlen von Hinweisen auf eine gravierende psychische Störung und das Nichtvorliegen einer Suchterkrankung seit mehreren Jahren hervorgehoben.

Die Beziehung des BF zu XXXX ergibt sich aus den Angaben in der Beschwerde, der gemeinsamen Wohnanschrift laut ZMR sowie den damit in Einklang stehenden Ausführungen der XXXX im Schreiben vom XXXX.05.2020 (OZ 13). Aus dem psychiatrischen Sachverständigengutachten vom XXXX.11.2019 geht hervor, dass der BF schon seit Herbst 2019 mit ihr zusammenlebt, obwohl erst seit XXXX.03.2020 eine Wohnsitzmeldung besteht (was angesichts der damals noch aufrechten Wohnsitzweisung nachvollziehbar ist). In dem Gutachten wurde – bei Aufrechterhaltung der übrigen Weisungen – befürwortet, dass der BF mit einer engmaschigen sozialpsychiatrischen Betreuung in einer eigenen Wohnung wohnt. Da die bedingte Entlassung nicht widerrufen wurde, obwohl er die Wohnweisung missachtete (siehe Seite 3 des Gutachtens OZ 11), ist davon auszugehen, dass das Strafgericht dieser Einschätzung des Sachverständigen gefolgt ist.

Rechtliche Beurteilung:

Der BF ist deutscher Staatsangehöriger und somit EWR-Bürger im Sinne des § 2 Abs 4 Z 8 FPG.

Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger zulässig, wenn auf Grund des persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen einen EWR-Bürger, der den Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatte, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Bei einer besonders schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 FPG auch unbefristet erlassen werden, so z.B. bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren (§ 67 Abs 3 Z 1 FPG).

Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (siehe zuletzt etwa VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0091).

Bei der Festsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes ist gemäß § 67 Abs 4 FPG auf alle für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen, insbesondere auch auf die privaten und familiären Verhältnisse (VwGH 24.05.2016, Ra 2016/21/0075).

Ein Aufenthaltsverbot, das in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, ist gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG zulässig, wenn es zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Für ein Aufenthaltsverbot nach § 67 FPG ist kein dem BF subjektiv vorwerfbares persönliches Fehlverhalten notwendig, maßgeblich sind vielmehr Aspekte einer von ihm ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Eine maßgebliche Gefährdung kann grundsätzlich auch bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung bejaht werden, wenn nicht etwa eine Behandlung und Medikation Gewähr dafür bieten, dass eine auf sie zurückzuführende Gefährdung künftig auszuschließen sein wird (VwGH 03.07.2018, Ra 2018/21/0081 und 20.12.2018, Ra 2018/21/0112).

Die bedingte Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme (wie der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher) setzt gemäß § 47 Abs 2 StGB voraus, dass nach der Aufführung und der Entwicklung des Angehaltenen in der Anstalt, nach seiner Person, seinem Gesundheitszustand, seinem Vorleben und nach seinen Aussichten auf ein redliches Fortkommen anzunehmen ist, dass die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, nicht mehr besteht.

Der BF hält sich nunmehr seit Juli 2014 wieder kontinuierlich im Bundesgebiet auf. Aufgrund der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher bis Juni 2018 und dem Fehlen einer Krankenversicherung bis Februar 2018 hat er noch nicht das Recht auf Daueraufenthalt, das gemäß § 53a Abs 1 NAG im Allgemeinen einen zumindest fünfjährigen rechtmäßigen Inlandsaufenthalt voraussetzt, erworben. Für ihn ist daher der Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs 1 Satz 2 bis 4 FPG maßgeblich.

Es ist dem BFA zwar zuzustimmen, dass das Fehlverhalten des BF, der seine Lebensgefährtin während der Schwangerschaft schwer verletzte, ihr besondere Qualen zufügte und sie (wie auch andere Personen) bedrohte und nötigte, grundsätzlich eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass er nunmehr seit mehr als fünf Jahren engmaschig psychiatrisch und psychologisch betreut wird, vor ca. zwei Jahren bedingt aus dem Maßnahmenvollzug entlassen werden konnte, weil die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, nicht mehr besteht und die gerichtlichen Weisungen seither befolgt. Im Rahmen seines Privat- und Familienlebens ist zu berücksichtigen, dass eine Lebensgemeinschaft mit einer Österreicherin besteht und er im Inland in ein vernetztes Helfersystem aus Psychiatern, Psychologen und Sozialarbeitern eingebunden ist. Bei der Gewichtung dieser für ihn sprechenden Umstände im Sinn des § 9 Abs 2 Z 8 BFA-VG ist zwar maßgeblich relativierend einzubeziehen, dass er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Dies darf aber auch nicht in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt werden und hat schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme führen kann (vgl. VwGH 23.01.2020, Ra 2019/21/0378).

Zwar hat das BFA das Fehlverhalten des BF und die daraus abzuleitende Gefährlichkeit ausschließlich aus dem Blickwinkel des Fremdenrechts, also unabhängig von gerichtlichen Erwägungen über eine bedingte Entlassung, zu beurteilen (in diesem Sinn etwa VwGH 30.04.2010, 2007/18/0620). Angesichts der Einhaltung der dem BF gerichtlich erteilten Weisungen, seiner Krankheits- und Behandlungseinsicht, der seit längerem durchgeführten Therapien und der Medikamentencompliance besteht aber aktuell auch aus fremdenrechtlicher Sicht keine relevante Wiederholungsgefahr, zumal seit dem Verhalten, das der Einweisung zugrunde lag, mehrere Jahre vergangen sind, in denen er sich (trotz Vollzugslockerungen und auch nach der bedingten Entlassung) wohlverhalten hat und keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit mehr vorliegen. Die Verurteilungen aufgrund der 2008 und 2009 begangenen Straftaten wurden bereits getilgt.

Außerdem liegen angesichts des jahrelangen, mit Therapie und Wiedereingliederung in die Gesellschaft verbundenen Inlandsaufenthalts des BF, seiner Bemühungen, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und der Beziehung zu einer Österreicherin unter Berücksichtigung der engen Vernetzung mit Bewährungshelfern und Therapeuten sowie der Notwendigkeit der Stabilität seines sozialen Umfelds die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes auch im Hinblick auf die gemäß § 9 BFA-VG vorzunehmende Interessenabwägung nicht vor. Bei Beachtung seiner erheblichen privaten und familiären Interessen an einem Verbleib in Österreich kann derzeit das Vorliegen einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührenden Gefahr nicht angenommen werden. Vom BF geht derzeit insbesondere keine gegenwärtige Gefahr iSd § 67 Abs 1 FPG aus, zumal eine von ihm allenfalls künftig ausgehende Gefährdung durch Therapie und Medikation hintangehalten wird. Daher ist der angefochtene Bescheid in Stattgebung der Beschwerde zu beheben.

Sollte der BF in Zukunft wieder eine mit Strafe bedrohte Handlung begehen oder die bedingte Entlassung widerrufen werden, wird die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen ihn neuerlich zu prüfen sein, insbesondere bei einer Missachtung der gerichtlichen Weisung oder einem neuerlichen Einweisungsdelikt.

Da bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, entfällt die beantragte Beschwerdeverhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG.

Die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose, die Interessenabwägung gemäß § 9 BFA-VG und die Bemessung der Dauer eines Aufenthaltsverbots sind im Allgemeinen nicht revisibel (siehe VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0284, 01.03.2018, Ra 2018/19/0014 und 10.07.2019, Ra 2019/19/0186). Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich das BVwG an der zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Voraussetzungen Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2213238.1.00

Im RIS seit

19.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

19.11.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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