TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/13 W105 2172924-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.07.2020
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Entscheidungsdatum

13.07.2020

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W105 2172924-1/38E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Harald Benda als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.09.2017, Zahl 1111406808-160528935, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.02.2018 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese Spruchpunkte werden gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (BF), ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 13.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016.

Im Rahmen der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes vom 13.04.2016 gab der BF im Wesentlichen an, er sei einerseits vor den Taliban andererseits vor der Zwangsrekrutierung seitens der pakistanischen Regierung geflohen.

In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom

18.08.2016 ergänzte der BF seine Fluchtgründe dahingehend, dass er neben der politischen Bedrohung auch vor der Familie seiner Freundin geflohen sei, da er mit ihr außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt habe.

2.       Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.09.2016 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und wurde festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 18 Abs. 1 lit b der Verordnung (EU) Nr. 604 aus 2013 des Europäischen Parlaments und des Rates Ungarn zuständig ist. Gemäß § 61 Abs. 1 Z. 1 FPG wurde gegen den BF die Außerlandesbringung angeordnet sowie dessen Abschiebung nach Ungarn für zulässig erklärt. Einer gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 01.12.2016 gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben, der Asylantrag zugelassen und der bekämpfte Bescheid behoben.

3.       Der Antragssteller wurde sodann durch die Erstbehörde für den 18.09.2017 vorgeladen und niederschriftlich einvernommen. Hiebei gab er zentral an, zur Volksgruppe der Paschtunen zu gehören und sunnitischer Moslem zu sein. Weiters gab der BF an, in Pakistan geboren worden zu sein und dort als Flüchtling gelebt zu haben. Ursprünglich stamme die Familie jedoch aus Afghanistan. Er habe in Pakistan vier Jahre die Schule besucht. Nach der Schule habe er in Geschäften zu arbeiten begonnen und dies habe er bis zur Ausreise gemacht. Seine Familie besitze dort drei Geschäfte, darunter zwei Schuhgeschäfte und ein Bekleidungsgeschäft. Auf weiteres Befragen führte der BF genau aus, welche Angehörigen er in Pakistan habe sowie sagte er aus, von der eigenen Familie im Herkunftsstaat niemanden zu haben. Seine Ehegattin, mit welcher er zwangsverheiratet worden sei, befinde sich mit den zwei gemeinsamen minderjährigen Söhnen bei deren Eltern. Befragt nach konkreten Problemen mit den Behörden des Heimatstaates bzw. Pakistan führte der BF aus, dass er Probleme mit dem pakistanischen Staat gehabt hätte. Man habe sie dort unterdrückt und sie hätten keine Rechte.

Aufgefordert konkretes und detailliertes Vorbringen zu seinen Fluchtgründen in Hinblick auf seine Asylantragsstellung zu erstatten, führte der BF aus, seine Familie habe damals aufgrund des Krieges Afghanistan verlassen und sich in Pakistan angesiedelt. Er sei in Pakistan vielen Problemen begegnet. In jenem (namhaft gemachten) Dorf, wo sie gelebt hätten, hätten sich 90% der Bewohner den Taliban angeschlossen. Dies sei ein großes Problem gewesen und so habe es immer wieder heftige Gefechte gegeben. Wenn man nicht auf Seiten der der Regierung kämpfte, sei einem unterstellt worden, dass man die Taliban unterstützte. Auf der anderen Seite hätten die Taliban Probleme gemacht, wenn man den Staat unterstützte. So hätten die Regierungsbeamten eines Nachts etwa 20 junge Männer mitgenommen und diese verpflichtet, für den pakistanischen Staat zu kämpfen.

Darüber hinaus habe er eine außereheliche Beziehung mit einem Mädchen, mit welchem er seit Kindheitstagen befreundet gewesen sei, gehabt. Auch nach seiner Heirat habe er weiterhin mit ihr verkehrt, sodass sie schwanger geworden sei. Nach einem erfolglosen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch habe der BF versucht sie ins Krankenhaus zwecks Durchführung einer Abtreibung zu bringen. Dies sei dann aber durch ihre Familie vereitelt worden und so hätte das ganze Dorf dann alles erfahren. In weiterer Folge sei er zu seinem Onkel geflüchtet. Der Onkel habe sodann einen Schlepper gefunden, ihn 10 oder 12 Tage versteckt und ihm eine Ausreise in den Iran organisiert. In seiner Abwesenheit sei der BF und seine Geliebte von der Ratsversammlung durch Steinigung verurteilt worden. Auch das Haus der Familie habe man geplant anzuzünden, aus diesem Grund habe seine Familie mit ihm gebrochen.

Zur Frage, warum der BF nicht in Afghanistan leben könnte, gab er an, dass der Onkel seiner Geliebten Talibankommandant wäre und Mordaufträge in Afghanistan oder Pakistan erteilen könnte. Der BF wäre nicht in der Lage, sich ein Leben lang zu verstecken und würde daher früher oder später gefunden werden.

4.       Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 21.09.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) betrage.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können, es könne nicht festgestellt werden, dass der vom BF angegebene Vorfall in Pakistan stattgefunden habe. Der BF habe im Laufe des Verfahrens widersprüchliche Aussagen bzw. keine gleichbleibenden Angaben gemacht. Es drohe dem BF auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der BF sei ein gesunder, arbeitsfähiger Mann, der im Bereich der innerstaatlichen Fluchtalternative die Unterstützung seiner Familie sowie der Paschtunen und finanzielle Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könnte und somit bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in eine ausweglose Situation geraten würde. Der BF verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

5.       Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und im Rahmen des Beschwerdeschriftsatzes zentral zwei Fluchtgründe wie bereits im Verfahren vor dem BFA vorgebracht. Gerügt wurde konkret, dass die getroffenen Länderfeststellungen im angefochtenen Bescheid unvollständig und teilweise unrichtig seien und würden sie zwar allgemeine Aussagen über Afghanistan beinhalten; sich jedoch nur kaum mit dem konkreten Fluchtvorbringen befassen. Zum Beweis dafür wurde auf ein für das BVwG erstelltes Gutachten verwiesen. Demgemäß hätten Rückkehrer beim Aufbau einer Lebensgrundlage mit gravierenden Schwierigkeiten zu rechnen. Trotz eines eine solche Diskriminierung verbietenden Dekrets würden Rückkehrer aus dem Iran von der Bevölkerung schikaniert und diskriminiert.

Die belangte Behörde habe auch weiters deren Ermittlungspflicht dadurch verletzt, dass sie trotz Auffälligkeiten des BF in der Einvernahme, welche auf eine schwere Traumatisierung hindeuten würden, kein fachärztliches Gutachten bezüglich seines psychischen Gesundheitszustandes eingeholt hätte. Zum Beweis diesbezüglich wurden ärztliche Bestätigungen vorgelegt. Im Weiteren habe es die Behörde nicht für glaubhaft erachtet, dass der BF eine CT-Überweisung angeordnet hätte. Der BF sei mit einem Arzt befreundet gewesen, den er überzeugen hätte können, aufgrund der Notlage des BF und seiner Freundin die Überweisung bezüglich der Untersuchung der Schwester seiner Freundin zu machen. Im Weiteren liege eine falsche Beweiswürdigung dergestalt vor, dass die Behörde keinerlei konkrete Feststellungen zum Kostenverhältnis zwischen der Abtreibung und der Fahrt ins Krankenhaus getätigt habe. Wie die belangte Behörde darauf komme, dass es keine Norm sei, dass Frauen nicht alleine aus dem Haus gehen dürften, bleibe völlig im Dunkeln und basiere vermutlich auf Vorurteilen basierende Feststellungen. Die Familie der Freundin sei reich und habe damit die Möglichkeit, ein Kopfgeld auf den BF auszusetzen und einen Auftragsmörder zu engagieren. Ein Onkel der Familie sei ein hoher Talibankommandant, der über weit verzweigte gute Kontakte verfüge. Die Familie des BF drohe diesen nun, weil sein Haus angezündet worden sein und er die Ehre verletzt habe sowie die religiösen Normen. Unter Hinweis auf die Judikatur des VfGH hätte der BF im Rahmen der Erstbefragung gar nicht näher zu dessen Fluchtgründen befragt werden dürfen und dürften nunmehr Widersprüche nicht vorrangig auf die Erstbefragung gestützt werden. Die Feststellung der Behörde, dass der BF in Afghanistan aufgrund seines islamischen Glaubens von einer islamischen Glaubensgemeinschaft Unterstützung erhalten würde, entbehre jeder Grundlage. Es sei eine notorische Tatsache, dass gerade in Afghanistan viele Konflikte auf Meinungsunterschieden zwischen Gruppen beruhen würden, deren Mitglieder unterschiedlichen islamischen Richtungen angehören würden. Die Tatsache, dass eine nicht näher definierte Vielzahl von Menschen angeblich nach Afghanistan zurückgekehrt sei, sage nichts über die Situation des BF aus. Die Mutmaßung, dass der BF in Afghanistan ein Flüchtlingslager in Anspruch nehmen könne, sei dergestalt unbestimmt, dass nicht festgestellt worden sei, wie die gegebene Sicherheit dort sei und sei auch kein bestimmtes Lager genannt worden. Im vorliegenden Fall liege zwar keine vom afghanischen Staat ausgehende Verfolgung vor, jedoch eine Verfolgung von Seiten Privatpersonen für die kein ausreichender Schutz bestehe. Der BF erfülle wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe jener, die aufgrund der Verletzung der Ehre und der religiösen Normen durch außerehelichen Geschlechtsverkehr und folgende Schwangerschaft und Abtreibung verfolgt würden, die Definition des Flüchtlingsbegriffes. Des Weiteren stehe dem BF entgegen der Ansicht des BFA keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, da die Familie seiner Freundin über große finanzielle Mittel verfüge, wodurch sie ein Kopfgeld auf ihn aussetzen könne. Die Rückkehrentscheidung sei aufgrund eines mangelhaft geführten Verfahrens getroffen worden.

6.       Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am 14.02.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seiner bevollmächtigten Vertretung persönlich teilnahm.

7.       Mit Eingabe vom 05.03.2018 nahm der BF durch seinen Vertreter schriftlich Stellung und verwies insbesondere auf sein Asthmaleiden und die diesbezüglich vorgelegten Befunde. Seine medizinische Versorgung sei in Afghanistan nicht gewährleistet, weil der Zugang zur Gesundheitsversorgung grundsätzlich schwierig sei. Aufgrund seiner Erkrankung könne auch der BF in Städten mit starker Luftverschmutzung nicht leben, weil dies für eine an Asthma erkrankte Person tödlich sei.

Schlussendlich wurde noch auf die allgemeine Sicherheitslage und die prekäre Situation aus dem Iran und Pakistan stammenden Heimkehrern Bezug genommen. Der BF habe nämlich aufgrund seines fehlenden familiären und sozialen Netzwerks keine Möglichkeit in den in Betracht kommenden Ausweichorten Fuß zu fassen. So sei die Versorgung mit Wohnraum, aber auch mit Nahrungsmitteln, insbesondere für alleinstehende Rückkehrer nicht gewährleistet.

9.       Mit Erkenntnis vom 11.09.2018 hat das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, und §§ 52, 55 FPG als unbegründet abgewiesen. Begründend führte das BVwG dazu im Wesentlichen aus, dass der BF seine Fluchtgründe zwar glaubhaft habe vorbringen können, jedoch sei es diesem zumutbar, durch Niederlassung in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Sicherheit vor einer Bedrohung der behaupteten Art zu erlangen.

10.      Gegen dieses Erkenntnis erhob der BF Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof sowie eine außerordentliche Revision.

11.      Der Verfassungsgerichtshof hob die angefochtene Entscheidung mit Erkenntnis vom 13.03.2019, E 4259/2018-15, soweit sie die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels sowie die erlassene Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise betraf, wegen Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab.

12.      In weiterer Folge wies der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) mit Beschluss vom 13.06.2019, Ra 2018/19/0581-3, die Revision hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zurück. Im Übrigen erklärte er die Revision als gegenstandslos geworden und stellte das Verfahren ein.

13.      Durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes tritt die Rechtssache wieder in die Lage zurück, in der sie sich vor Erlassung befunden hat (vgl. § 42 Abs. 3 VwGG und VfGH vom 26.09.2012, U165/12 ua). Diese ex-tunc-Wirkung des aufgehobenen Erkenntnisses bewirkt, dass die Rechtslage zwischen Erlassung der angefochtenen Entscheidung und ihrer Aufhebung so zu betrachten ist, als sei die Entscheidung nie erlassen worden. Insbesondere treten solche Rechtsakte, die durch die nunmehr aufgehobene Entscheidung beseitigt wurden, wieder in Kraft (vgl. Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht10, 2014, Rz 1407).

14.      Mit Verfügung vom 13.12.2019 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation betreffend Afghanistan, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, die UNHCR Guidelines vom 30.08.2018 sowie den EASO Bericht vom 20.04.2019. Unter einem wurde dem BF eine Frist von zwei Wochen zur Einbringung einer schriftlichen Stellungnahme gewährt.

15.      Mit Stellungnahme vom 09.09.2019 brachte der BF zusammengefasst vor, dass er unter Asthma leide und seine medizinische Versorgung in Afghanistan nicht gewährleistet wäre. Ausgehend davon, dass er in Afghanistan keine Angehörigen hätte, die ihn aufnehmen könnten und seine Familie in Pakistan lebe, wäre er bei der Rückkehr massiv in seinen Rechten gemäß Art 3 EMRK gefährdet und zwar aufgrund des Ausschlusses der Hauptstadt Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative sowie den Bedenken des UNHCR in Bezug auf andere Städte Afghanistans. In ganz Afghanistan sei die Sicherheitslage schlecht und bedürften Millionen an Menschen internationaler Überlebenshilfe. Ein fehlendes soziales Netzwerk stelle eine Herausforderung für die Reintegration dar. Dies treffe in seinem Fall zu, da seine Angehörigen in Pakistan leben würden. Aus heutiger Sicht sei nicht abzuschätzen, ob eine Taliban-Regierung gegenüber Rückkehrern aus dem Westen Toleranz üben werde, deutlich erkennbar sei aber die Wahrscheinlichkeit des Aufkommens eines Bürgerkriegs nach dem US-Truppenabzug und zwar zwischen den Taliban und dem sogenannten Islamischen Staat. Es würden somit die Voraussetzungen zur Gewährung subsidiären Schutzes vorliegen, jedenfalls wäre seine Abschiebung nach Afghanistan unzulässig.

16.      Mit Verfügung vom 18.06.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation betreffend Afghanistan vom 13.11.2019 mit letzter Information vom 18.5.2020, der UNHCR-Guidelines Afghanistan vom 30.08.2018 sowie des Berichts des European Asylum Support Office vom 20.04.2019. Unter einem wurde dem BF eine Frist von zwei Wochen zur Einbringung einer schriftlichen Stellungnahme gewährt.

17.      Per Fax übermittelte das BFA die die Stellungnahme vom 24.06.2020 und führte darin zusammengefasst aus, dass in den aktualisierten LIB Afghanistan keine Ausführungen erkennbar seien, welche eine Änderung der getroffenen Feststellungen im angefochtenen Bescheid oder den Ausführungen bei der mündlichen Verhandlung nach sich ziehen würden. Zudem verweise das BFA vollinhaltlich aauf die eingebrachte Stellungnahme zu W105 211520-1 vom 24.06.2020. Zur aktuellen Sach- und Rechtslage des Verfahrens gab das BFA an, dass mit 30.09.2018 der BF als „Quartier unstet“ wegen unbekannten Aufenthalts gemeldet worden sei. Der BF sei unbekannten Datums nach Frankreich ausgereist, wo er einen erneuten Antrag auf internatnionalen Schutz am 29.10.2018 gestellt habe. Ein Konsultationsverfahren mit Frankreich sei wegen der Dublin-Relevanz eingeleitet und eine Überstellungsfrist noch bis 06.09.2020 anhängig. Wie der am 30.07.2019 übermittelten Anfrage der österreichischen Botschaft in Pakistan zu entnehmen sei, sei der BF von Frankreich nach Afghanistan gereist und schließlich bei der ÖB in Islamabad zum Zwecke der Wiedereinreise vorstellig geworden. Die belangte Behörde habe die ÖB Islamabad über das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren hinsichtlich der Abweisung des Status des Asylberechtigten informiert. Auf Nachfrage der belangten Behörde habe die ÖB Islamabad am 23.06.2020 geantwortet, dass die Wiedereinreise nicht gestattet worden sei und keine Informationen über den Aufenthalt des BF vorliegen würden. Ein aktueller Auszug aus dem ZMR habe ergeben, dass der BF nach wie vor ohne aufrechte Meldung im Bundesgebiet aufscheine. Der BF habe mit der nachweislichen Ausreise aus Österreich nach Frankreich daher den Aberkennungstatbestand gemäß § 9 Abs. 1 Z 2 AsylG gesetzt, da er seinen Lebensmittelpunkt aus dem Bundesgebiet nach Frankreich verlegt habe. Die nachfolgende Ausreise aus Frankreich in den Heimatstaat Afghanistan zeige, dass somit auch eine Rückkehr des BF augenscheinlich zumutbar sei, da er ohne Zwang aus Frankreich ausgereist sei und somit Verletzungen iS der Art. 2 und 3 EMRK nicht mit verfahrensrelevanter Wahrscheinlichkeit vorliegen könnten. Nachdem der BF nach behördlichem Wissensstand auch nicht mehr in das Bundesgebiet eingereist sei, sei der Aberkennungstatbestand nach wie vor präsent, sodass dem BF auch eine Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zukommen könne, da ihm dieser sofort wieder aberkannt werden müsste. Eine eventuelle Zuerkennung nach § 8 Abs. 3a AsylG sei nicht möglich, da auf die Aberkennungstatbestände gemä § 9 Abs. 2 AsylG abzustellen sei.

18.      Mit Schriftsatz vom 01.07.2020 erstattete der BF im Wege seiner Rechtsvertretung eine Stelllungnahme und brachte darin im Wesentlichen vor, dass die von ihm benötigte medizinische Behandlung als Asthmatiker in Afghanistan derzeit noch schwerer verfügbar sei als zuvor und stützte sein Vorbringen auf einen Beitrag der BBC vom 30.06.2020 sowie auf den Bericht des UNAMA vom 20.06.2020. Zusätzlich verwies der BF noch darauf, dass er nicht in Afghanistan aufgewachsen und krankheitsbedingt nur eingeschränkt arbeitsfähig sei, weshalb ihm, gestützt auf das Erkenntnis des VwGH vom 26.2.2020, Ra 2019/18/0225, subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei. Der BF legte weiters noch die Stellungnahme des Vereins SUARA vom 09.09.2019 bei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Feststellungen zur Person des BF:

Der volljährige BF ist afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Die Muttersprache des BF ist Pashtu.

Der BF wurde in Bajaur in Pakistan geboren, seine Eltern stammen jedoch ursprünglich aus der Provinz Kunar in Afghanistan. In Pakistan ist der BF verheiratet und hat zwei Kinder, mit denen er in einem Gemeinschaftshaus lebte. In Pakistan leben zwei Eltern, vier Brüder und zwei Schwestern des BF sowie zwei Onkel mütterlicherseits und ein Onkel väterlicherseits. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan könnte der BF nicht mit finanzieller Unterstützung durch seine Angehörigen bzw. Verwandten rechnen.

Der BF ist in Pakistan aufgewachsen und sozialisiert und verfügt in Afghanistan über keinerlei familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte.

Er besuchte vier Jahre die Schule und arbeitete in zwei Schuhgeschäften sowie in dem Bekleidungsgeschäft seiner Familie.

Der BF hat einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 bestanden. Der BF besuchte die Übungsklasse für Asylwerber der Höheren Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe und Tourismus.

Der BF leidet an Asthma bronchiale, Gastritis sowie einer depressiven Verstimmung.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Es kann festgestellt werden, dass der BF seinen Herkunftsstaat nicht aus einer konkreten individuellen Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat und nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

Der BF ist aufgrund seiner Erkrankungen auf die Medikamente Trittico und Escitalopram sowie auf einen Asthmaspray angewiesen. Durch die angespannte medizinische Versorgungslage und die inviduelle Situation des BF, insbesondere aufgrund des mangelnden sozialen Netzwerks in Afghanistan besteht sohin eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung erleiden und infolge einer schlecht eingestellten Asthma-Erkrankung und im fragilen Gesundheitssystem einen schwerwiegenden oder tödlichen Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung oder Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde; bzw. das Erreichen der für den Antragsteller notwendigen Medikamente aufgrund der gegenwärtig herrschenden Lage in Afghanistan als äußerst erschwert oder gar verunmöglicht erscheint.

Zudem wurde die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt durch die COVID-19-Pandemie sowie durch die ergangenen und zukünftig wahrscheinlichen Ausgangsbeschränkungen verschärft, sodass die Arbeits- und Wohnraumsuche beinahe unmöglich wäre und der BF auch nicht über ein soziales Unterstützungsnetzwerk oder eine besondere Schul- und Berufsausbildung verfügt. Aufgrund der angespannten Lebensmittelsituation droht dem BF eine mögliche Mangelernährung, wodurch nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden kann, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in die Städte Herat und Mazar-e Sharif ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde und eine Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde.

1.2. Feststellungen zum Herkunftsstaat:

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, mit letzter Information vom 18.5.2020:

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(UNAMA 2.2020)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 15

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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