TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/17 W163 2147851-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.07.2020
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Entscheidungsdatum

17.07.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W163 2147851-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Daniel LEITNER als Einzelrichter über die Beschwerde des Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.01.2017, Zahl XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

I.1. Verfahrensgang

1.       Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 12.04.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Am 13.04.2015 fand die Erstbefragung des BF vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.

3.       Am 03.08.2015 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) niederschriftlich einvernommen. Der Vater und ein jüngerer Bruder des BF waren dabei anwesend.

4.       Im Auftrag des BFA erstellte XXXX , Ärztin für Allgemeinmedizin und für psychotherapeutische Medizin, am 24.08.2015 eine gutachterliche Stellungnahme betreffend den Gesundheitszustand des BF.

5.       Am 13.01.2017 wurde der BF erneut vor dem BFA niederschriftliche einvernommen. Der Vater des BF war dabei anwesend.

6.       Mit angefochtenem Bescheid des BFA vom 20.01.2017 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.) Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 20.01.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).

7.       Gegen Spruchpunkt I. dieses am 23.01.2017 rechtswirksam zugestellten Bescheids erhob der BF fristgerecht Beschwerde, welche am 14.02.2017 beim BFA einlangte. Darin wurde beantragt der Beschwerde stattzugeben und dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

8.       Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) am 17.02.2017 vom BFA vorgelegt.

9.       Am 21.02.2017 langte eine weitere Beschwerde, von einem anderen bevollmächtigten Vertreter des BF, gegen den Spruchpunkt I. des gegenständlichen Bescheids beim BVwG ein.

10.      Am 21.03.2019 wurde für den BF durch das Bezirksgericht XXXX ein einstweiliger Erwachsenenvertreter bestellt ( XXXX ). Mit Beschluss des Bezirksgerichts Hall vom 08.11.2019, XXXX , wurde das Erwachsenenschutzverfahren eingestellt, weil der BF von seiner Familie unterstützt werde und daher in der Lage sei seine Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen und keinen gerichtlichen Erwachsenenvertreter benötige.

11.      Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 09.10.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF persönlich teilnahm. Der Vater des BF, XXXX , begleitete seinen Sohn zur Verhandlung. Der bevollmächtigte Vertreter des BF nahm aus terminlichen Gründen nicht teil. Ein Vertreter des BFA nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil. Dem Rechtsvertreter des BF wurde das Protokoll der mündlichen Verhandlung zugestellt und eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme bzgl. der eingebrachten Berichte zur Lage im Herkunftsstaat gewährt, welche ungenutzt blieb.

I.2. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhalt)

Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalt aus:

a)       Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei

1.       Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX . Seine Identität steht fest.

Der BF ist Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Er ist sunnitischer Moslem. Die Muttersprache des BF ist Dari.

Der BF stammt aus XXXX in der Provinz XXXX (Afghanistan), von wo aus er im Kindesalter mit seiner Mutter und den weiteren Geschwistern nach Teheran (Iran) umzog. Der Vater das BF war schon früher in den Iran gezogen.

Im Jahr 2008 wurde einem jüngeren Bruder ( XXXX ) des BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Österreich zuerkannt. Daraufhin stellten die Eltern des BF im September 2009 bei der österreichischen Botschaft in Teheran (Iran) Anträge auf internationalen Schutz im Rahmen des Familienverfahrens und reisten 2011 mit ihren 5 minderjährigen Kindern legal nach Österreich aus. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 16.07.2013 wurde der Mutter des BF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Der Vater und die minderjährigen Geschwister erhielten im Rahmen des Familienverfahrens, von der Mutter abgeleitet, ebenfalls den Status der Asylberechtigten. Den nunmehr volljährigen Schwestern des BF ( XXXX , XXXX und XXXX ) wurde ebenfalls der Status der Asylberechtigten zuerkannt. XXXX verfügt seit 2016 über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EU".

Der BF lebte bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 in einem Vorort von Teheran bei einem Freund seines Vaters.

Der BF hat eine 50%-ige Behinderung. Er leidet an einer Halbseitenlähmung mit Muskelspastik links, einer Sprachstörung (Sprachverständnis gegeben, Sprachproduktion gestört) sowie einer Intelligenzminderung. Der BF benötigt keine dauerhafte medizinische Behandlung oder medikamentöse Therapie. Abgesehen von seiner Behinderung ist der BF gesund.

Aufgrund seiner Behinderung benötigt der BF Hilfe bei der Haushaltsführung (z.B. beim Kochen) als auch bei der eigenen Körperhygiene und bei Behördengängen sowie Arztbesuchen.

Der Beschwerdeführer ist Analphabet und hat keine Schulbildung erfahren. Er besuchte zwei Jahre lang einen Alphabetisierungskurs besucht.

Im Iran arbeitete der BF als Straßenverkäufer.

Der BF ist volljährig, ledig und hat keine Kinder. Er ist nicht voll erwerbsfähig.

2.       Zur Rückkehrmöglichkeit nach Afghanistan

Der BF ist in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Gründe, die eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht.

Der BF hat keine ihm bekannten Familienangehörigen im Heimatstaat.

Dem BF kommt der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Österreich zu.

3.       Zur Situation des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Antragstellung am 12.04.2015 durchgehend in Österreich.

Die gesamte Kernfamilie des BF lebt rechtmäßig im Bundesgebiet. Der BF wohnt mit seinem Bruder in einem gemeinsamen Haushalt und wird (hauptsächlich) von seiner Mutter im täglichen Leben betreut und unterstützt.

Der BF besucht einen Deutschkurs, dem er aber nicht folgen kann.

Der BF arbeitet seit Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten bei der Lebenshilfe Tirol gem. GmbH, welche Menschen mit Behinderung unterstützt.

b) Zur Lage im Herkunftsstaat:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 04.06.2019:

1. Allgemeine Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil. Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum 16.8.2018 – 15.11.2018 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 5% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (63%) aus. Selbstmordanschläge gingen um 37% zurück, was möglicherweise an erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen in Kabul-Stadt und Jalalabad liegt. Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Streitkräfte stiegen um 25%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten. In der Provinz Kandahar entstand die Befürchtung, die Sicherheitsbedingungen könnten sich verschlechtern, nachdem der Polizeichef der Provinz und der Leiter des National Directorate for Security (NDS) im Oktober 2018 ermordet worden waren (UNGASC 7.12.2018). Gemäß dem Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) fanden bis Oktober 2018 die meisten Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen in den Provinzen Badghis, Farah, Faryab, Ghazni, Helmand, Kandahar, Uruzgan und Herat statt. Von Oktober bis Dezember 2018 verzeichneten Farah, Helmand und Faryab die höchste Anzahl regierungsfeindlicher Angriffe (SIGAR 30.1.2019). Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat – Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).

Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat – Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independet Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018). Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst – laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019). Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).

Global Incident Map zufolge wurden im Berichtszeitraum (1.1.2018 – 31.12.2018) 4.436 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Durch die folgende kartografische Darstellung der Staatendokumentation soll die Verteilung des Konflikts landesweit veranschaulicht werden.

[…]

Zivile Opfer

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 – 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer; 1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019). Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 – 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019). Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).

Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).

[…]

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin „high-profile“-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).

[…]

2. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (AA 5.2018).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u.a. von Frauen wegen „moralischer Straftaten“) und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung, besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen (USDOS 20.4.2018). Regierungsfreundlichen Kräfte verursachen eine geringere - dennoch erhebliche - Zahl an zivilen Opfern (AI 22.2.2018).

Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage (AA 5.2018). Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Afghanistan hat die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert (AA 5.2018). Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen operieren in der Regel ohne staatliche Einschränkungen und veröffentlichen ihre Ergebnisse zu Menschenrechtsfällen. Regierungsbedienstete sind in dieser Hinsicht einigermaßen kooperativ und ansprechbar (USDOS 20.4.2018). Die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Afghanistan Independent Human Rights Commission AIHRC bekämpft weiterhin Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte, das Komitee für Drogenbekämpfung, berauschende Drogen und ethischen Missbrauch sowie der Jusitz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss (USDOS 20.4.2018).

Im Februar 2016 hat Pra?sident Ghani den ehemaligen Leiter der afghanischen Menschenrechtskommission, Mohammad Farid Hamidi, zum Generalstaatsanwalt ernannt (USDOD 6.2016; vgl. auch NYT 3.9.2016).

Seit 1.1.2018 ist Afghanistan fu?r drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstu?tzung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Fo?rderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflu?chtlingen und Flu?chtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

3. Tadschiken

Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken ist die zweitgro?ßte (CRS 12.1.2015; vgl. LIP 5.2018); und zweitma?chtigste Gemeinschaft in Afghanistan (CRS 12.1.2015). Sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus (LIP 5.2018). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan bilden Tadschiken in weiten Teilen Afghanistans ethnische Inseln, namentlich in den gro?ßeren Sta?dten: In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (LIP 5.2018). Aus historischer Perspektive identifizierten sich Sprecher des Dari-Persischen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa Siedlungsgebiet oder Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel ka?boli (aus Kabul), hera?ti (aus Herat), maza?ri (aus Mazar-e Scharif), panjshe?ri (aus Pajshir) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name ta?jik (Tadschike) bezeichnete traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Der Hauptfu?hrer der „Nordallianz“, einer politisch-milita?rischen Koalition, ist Dr. Abdullah Abdullah - dessen Mutter Tadschikin und dessen Vater Pashtune ist (CRS 12.1.2015). Trotz seiner gemischten Abstammung, sehen ihn die Menschen als Tadschiken an (BBC 29.9.2014). Auch er selbst identifiziert sich politisch gesehen als Tadschike, da er ein hochrangiger Berater von Ahmad Shah Masoud, war (CRS 12.1.2015). Mittlerweile ist er „Chief Executive Officer“ in Afghanistan (CRS 12.1.2015); ein Amt, das speziell geschaffen wurde und ihm die Rolle eines Premierministers zuweist (BBC 29.2.2014).

Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repra?sentiert (Brookings 25.5.2017).

4. Medizinische Versorgung

Gema?ß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bu?rgern kostenfreie prima?re Gesundheitsversorgung in o?ffentlichen Einrichtungen gewa?hrleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Fo?rderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen (MPI 27.1.2004; Casolino 2011). Allerdings ist die Verfu?gbarkeit und Qualita?t der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten A?rzten und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfu?gbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevo?lkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualita?t der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualita?tskontrollen. Berichten zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschra?nkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn mo?glich, privat gefu?hrte Krankenha?user und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und mu?ssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualita?t der Behandlung stark einkommensabha?ngig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung (AA 5.2018).

In den letzten zehn Jahren hat die Fla?chendeckung der prima?ren Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen (WHO o.D.). Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht (TWBG 10.2016; vgl. USAID 25.5.2018). Gru?nde dafu?r waren u.a. eine solide o?ffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw. (TWBG 10.2016). Einer Umfrage der Asia Foundation (AF) zufolge hat sich 2017 die Qualita?t der afghanischen Erna?hrung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert (AF 11.2017).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstu?tzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan fu?r den Gesundheitssektor (2011-2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012-2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevo?lkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren (WHO o.D.).

Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualita?t der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Mu?ttern, Sa?uglingen und Kindern unter fu?nf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen La?nder.

[…]

Krankenkassen und Gesundheitsversicherung

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) bietet zwei Grundversorgungsmo?glichkeiten an: das „Essential Package of Health Services“ (EPHS) und das „Basic Package of Health Services“ (BPHS), die im Jahr 2003 eingerichtet wurden (MoPH 7.2005; vgl. MedCOI 4.1.2018). Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmo?glichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenha?usern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmo?glichkeiten des EPHS sind kostenfrei. Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmo?glichkeiten bevorzugen, oder weil die o?ffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die Kosten nicht ausreichend decken (MedCOI 24.2.2017). Es gibt keine staatliche Unterstu?tzung fu?r den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafu?r mu?ssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten ko?nnen die Medikamentenkosten zuru?ckerstattet werden (IOM 5.2.2018).

Medizinische Versorgung wird in Afghanistan auf drei Ebenen gewa?hrleistet: Gesundheitsposten (HP) und Gesundheitsarbeiter (CHWs) bieten ihre Dienste auf Gemeinde- oder Dorfebene an; Grundversorgungszentren (BHCs), allgemeine Gesundheitszentren (CHCs) und Bezirkskrankenha?user operieren in den gro?ßeren Do?rfern und Gemeinschaften der Distrikte. Die dritte Ebene der medizinischen Versorgung wird von Provinz- und Regionalkrankenha?usern getragen. In urbanen Gegenden bieten sta?dtische Kliniken, Krankenha?user und Sonderkrankenanstalten jene Dienstleistungen an, die HPs, BHCs und CHCs in la?ndlichen Gebieten erbringen (MoPH 7.2005; vgl. AP&C 9.2016). 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden dennoch nicht direkt vom Staat zur Verfu?gung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die u?ber ein Vertragssystem beauftragt werden. U?ber dieses Vertragssystem wird sowohl prima?re als auch sekunda?re und tertia?re medizinische Versorgung zur Verfu?gung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Wa?hrend in den Sta?dten ein ausreichendes Netz von Krankenha?usern und Kliniken besteht, ist es in den la?ndlichen Gebieten fu?r viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (AA 5.2018).

Beispiele fu?r Behandlung psychischer erkrankter Personen in Afghanistan

In der afghanischen Bevo?lkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch ist der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul sind du?rftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit ko?rperlichen und psychischen Behinderungen als schutzbedu?rftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden genauso wie Kranke und Alte gepflegt. Daher mu?ssen ko?rperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familia?re und gemeinschaftliche Unterstu?tzung sicherstellen (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. IOM 2017).

Die Infrastruktur fu?r die Bedu?rfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam. So existieren z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein o?ffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit bieten alle Provinzkrankenha?user kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fa?llen sogar online zur Verfu?gung stehen. Mental erkrankte Personen ko?nnen beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenha?usern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Einige dieser NGOs sind die International Psychological Organisation (IPSO) in Kabul, die Medica Afghanistan und die PARSA (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept fu?r psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen „behandelt“ oder es wird ihnen durch eine „Therapie“ mit Brot, Wasser und Pfeffer der „bo?se Geist ausgetrieben“. Es gibt jedoch aktuelle Bemu?hungen, die Akzeptanz und Kapazita?ten fu?r psychiatrische Behandlungsmo?glichkeiten zu sta?rken und auch Aufkla?rung sowohl u?ber das Internet als auch in Form von Comics (fu?r Analphabeten) zu betreiben (AA 9.2016; vgl. AP 18.8.2016). Beispielweise wurde in der Provinz Badakhshan durch internationale Zusammenarbeit ein Projekt durchgefu?hrt, bei dem konventionelle und kostengu?nstige e-Gesundheitslo?sungen angewendet werden, um die vier ha?ufigsten psychischen Erkrankungen zu behandeln: Depressionen, Psychosen, posttraumatische Belastungssto?rungen und Suchterkrankungen. Erste Evaluierungen deuten darauf hin, dass in abgelegenen Regionen die Qualita?t der Gesundheitsversorgung verbessert werden konnte. Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte reduziert werden (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. NCBI 12.2016).

Trotzdem findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt (AA 5.2018).

Krankenhäuser in Afghanistan

Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenha?usern kostenlos. Dennoch ist es u?blich, dass Patienten A?rzte und Krankenschwestern bestechen, um bessere bzw. schnellere medizinische Versorgung zu bekommen (IOM 5.2.2018). Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenha?usern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenha?user gibt es zumeist in gro?ßeren Sta?dten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Fu?r den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbu?rgerschaft und die Mitnahme eines gu?ltigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich (RFG 2017). In o?ffentlichen Krankenha?usern in den gro?ßeren Sta?dten Afghanistans ko?nnen leichte und saisonbedingte Krankheiten sowie medizinische Notfa?lle behandelt werden. Es besteht die Mo?glichkeit, dass Beeintra?chtigungen wie Herz-, Nieren-, Leber- und Bauchspeicheldru?senerkrankungen, die eine komplexe, fortgeschrittene Behandlung erfordern, wegen mangelnder technischer bzw. fachlicher Expertise nicht behandelt werden ko?nnen (IOM 5.2.2018). Chirurgische Eingriffe ko?nnen nur in bestimmten Orten geboten werden, die meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen (RFG 2017). Wenn eine bestimmte medizinische Behandlung in Afghanistan nicht mo?glich ist, sehen sich Patienten gezwungen ins Ausland, meistens nach Indien, in den Iran, nach Pakistan und in die Tu?rkei zu reisen. Da die medizinische Behandlung im Ausland kostenintensiv ist, haben zahlreiche Patienten, die es sich nicht leisten ko?nnen, keinen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Behandlung (IOM 5.2.2018).

[…]

5. Lage von Behinderten

Auszugsweise Zusammenfassung aus den Anfragebeantwortungen von ACCORD zu Informationen zur Lage von Behinderten vom 30.03.2018 als auch zum gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderung vom 13.09.2017 und zur Situation von geistig beeinträchtigten (minderjährigen) Personen vom 02.11.2016:

Die Zahl der vulnerablen Menschen mit Behinderung in Afghanistan wurde 2018 auf über 2,5 Millionen geschätzt.

Eine Studie im Jahr 2006 ergab mehr als 800.000 Personen mit schwerer Behinderung im Land, wobei 17% davon Kriegsversehrte sind. 53 % der über 15-jährigen Männer mit Behinderung sind arbeitslos, im Vergleich zu 25% bei Männern ohne Behinderung. Weiters erhalten 73% aller über sechs jährigen Personen mit Behinderung keine Bildung.

Im Afghanistan bestehen kaum Dienste zur Unterstützung von Personen mit Behinderung, Pflegeheime gibt es nicht. Die schlechte Sicherheitslage in entlegenen Regionen macht Unterstützungsleistungen unmöglich. Behinderte sind mit mangelnden wirtschaftlichen Möglichkeiten und sozialer Ausgrenzung konfrontiert. Die Gesellschaft und sogar eigene Familienangehörige behandeln Menschen mit Behinderung schlecht, weil die Auffassung verbreitet ist, dass diese Personen oder ihre Eltern "Gott beleidigt hätte". Insbesondere Menschen mit angeborenen Behinderungen sind von sozialer Ausgrenzung betroffen, sie werden von der Gesellschaft für ihre Behinderung verantwortlich gemacht und sind oft mit Feindseligkeiten konfrontiert.

"Personen mit jeglicher Art von Lernbehinderung oder psychischer Erkrankung sowie auch Menschen mit Gehörproblemen würden umgangssprachliche als "Dewana", d.h. Personen mit Problemen im Zusammenhang mit der Psyche, bezeichnet. Fehlendes Verständnis für derartige Beschwerden und eine Unfähigkeit im Umgang mit Personen mit psychischen Problemen würden zu Vorurteilen und in weiterer Folge zu Exklusion und Ausgrenzung führen".

Personen mit Behinderung sind in vielen Lebenssituation von sozialer Stigmatisierung betroffen, insbesondere, wenn die Behinderung nicht auf eine klar erkennbare Ursache zurückzuführen ist, sie als angeboren angesehen wird oder es kein "Heilmittel" gibt. Dies gilt vor allem für geistige Behinderungen.

Menschen mit Behinderung sind verbalen und psychischen Misshandlungen ausgesetzt und haben nur wenig Möglichkeit auf Bildung und Erwirtschaftung des Lebensunterhalts. Die erforderliche Gesundheitsfürsorge ist unzureichend. Die Familie ist das "Kernhilfssystem" in der Gesellschaft.

Menschen mit psychischen Problemen, die nicht für sich selbst sorgen können, können auch Opfer von Drogenschmuggel, Prostitution, Menschenhandel, Warlords und den Taliban werden.

Häufig werden zur "Heilung" von psychischen Krankheiten auch "mittelalterliche" Methoden angewandt (z.B. in einem Schrein angekettet bis sie "gereinigt" sind).

II. Beweiswürdigung

Der Beweiswürdigung liegen folgende Erwägungen zugrunde:

II.1. Zum Verfahrensgang

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des BFA und des Gerichtsaktes des BVwG.

Der BF hat im Verfahren folgende Unterlagen und Beweismittel vorgelegt:

?        Schreiben der österreichischen Botschaft in Teheran vom 27.01.2014 bzgl. eines medizinischen Gutachtens durch einen Vertrauensarzt (AS 217);

?        Behindertenpass des BF, Nr. XXXX , ausgestellt vom österreichischen Sozialministerium am 27.01.2016 (AS 221f);

?        Afghanischer Identitätsausweis (Tazkira), Nr. XXXX , ausgestellt am 10.09.2013 durch das Innenministerium in Kapisa (AS 225);

II.2. Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei

1.       Zur Person des Beschwerdeführers

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität des BF getroffen wurden, beruhen diese auf den Angaben des BF im Verfahren als auch auf dem vorgelegten Identitätsdokument (AS 225), sowie auf den übereinstimmenden Angaben der Mutter des BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 02.07.2013, GZ XXXX etc. (Protokoll der mV. S. 5).

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Muttersprache, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zum Glauben und zum Heimatort stützen sich auf die Angaben des BF im Verfahren (vgl. zuletzt Protokoll der mV S. 3ff).

Die Feststellungen zum Bildungsstand und zur Erwerbstätigkeit beruhen ebenfalls auf den Angaben des BF sowie seines Vaters im Verfahren (vgl. AS 112f, zuletzt Protokoll der mV S. 5).

Die Feststellungen zum Personenstand und den familiären Verhältnissen des BF beruhen auf seinen Angaben (vgl. AS 9, Protokoll der mV S. 5) sowie dem ins Verfahren eingebrachten Verhandlungsprotokoll vom 02.07.2013 und den Erkenntnissen des Asylgerichtshofs vom 16.07.2013 (Zl. XXXX bis XXXX ).

Die Feststellungen zur Behinderung des BF ergeben sich aus dem schlüssigen medizinischen Gutachten vom XXXX vom 24.08.2015 (AS 141 ff) sowie aus dem vorgelegten Behindertenpass.

Die Feststellungen zur Hilfsbedürftigkeit des BF ergeben sich wohl aus den Angaben des BF als auch seines Vaters im Verfahren (vgl. zuletzt Protokoll der mV S. 6).

2.       Zur Rückkehrmöglichkeit nach Afghanistan

2.1.    Der BF hat im Rahmen der Erstbefragung am 13.04.2015 als Grund für die Flucht genannt, dass sein Leben in Gefahr sei und in seiner Heimat Krieg herrsche. Auch gebe es in Afghanistan keine medizinische Behandlung für ihn und lebe seine gesamte Familie in Österreich.

Im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA am 13.01.2017 gab der BF im Wesentlichen an, dass er Hilfe im Alltag, bei der Haushaltsführung und bei Behördengängen benötige. Er habe mit 7 Jahren Afghanistan verlassen und habe auch keine ihm bekannten Verwandten mehr in Afghanistan. Nach seinem Fluchtgrund befragt, gab der BF aus dem Iran nach Österreich gereist zu sein, weil er dort alleine gewesen sei, seit seine Familie ausgereist war. Die Familie habe zuerst versucht den BF auf legalem Weg nach Österreich nachzuholen, doch habe dies zu lange gedauert, sodass er sich entschlossen habe mit der "Flüchtlingswelle" nach Österreich zu gelangen.

Auf die Frage, warum kein Familienmitglied beim BF geblieben war, antwortete der Vater des BF, dass sie anfangs nicht gehen wollten, doch dann wurde ihnen gesagt, dass sie diese Chance jetzt nutzen müssten. Er habe dann einen Freund gebeten sich um seinen Sohn zu kümmern. Er sei nicht davon ausgegangen, dass es so lange dauern würde den BF auf legalem Weg nachzuholen. Der BF erklärt daraufhin, dass es sehr schwer für ihn gewesen sei, da seine Mutter ihn gewaschen und sich auch sonst intensiv um ihn gekümmert habe.

Der BF erklärte, dass es nie irgendwelche Übergriffe gegeben habe und auch nie jemand persönlich an ihn herangetreten sei.

Auf eine eventuelle Rückkehr angesprochen gab der BF an, dass der Vater im Heimatland Feinde habe und der BF dort nicht allein existieren könne. Zu politischen und Sicherheitslage könne er keine Angaben machen, weil er den Nachrichten nicht folgen könne.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 09.10.2019 (OZ 9) gab der BF zu seinen Flucht- und Verfolgungsgründen an, sehr viel Angst um sein Leben gehabt zu haben. Als die Taliban an die Macht gekommen seien, sei er mit seinem Vater in den Iran gegangen. Nach Vorhalt, dass im Asylverfahren des Vaters die vom Vater vorgebrachten Fluchtgründe als nicht glaubhaft erachtet wurden, führte der BF aus, dass er in Afghanistan niemanden habe und er nicht wisse was er dort alleine machen solle. Er könne ohne seine Familie nicht leben.

Auch der Vater des BF wurde in der Beschwerdeverhandlung einvernommen und gab übereinstimmend an, dass der BF in Afghanistan niemanden habe, der ihn unterstützen könne. Er brauche Unterstützung bei der Körperpflege sowie beim Kochen und sei sturzanfällig. Danach gefragt, ob von jemandem im Heimatland eine Gefahr für den BF ausgehe, sagte der Vater: "Es gibt keine konkrete Person, von der eine Gefahr ausgeht. Aber die Taliban sind auf der Suche nach solchen beeinträchtigten Menschen. Sie könnten ihn sehr leicht überreden. Er könnte sich selbst und andere Menschen umbringen".

2.2. Aufgrund folgender Erwägungen ist die vom BF behauptete Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft:

2.2.1. Zur behaupteten Verfolgung abgeleitet vom Vater:

Wie sich aus dem Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 26.07.2013, GZ C10 XXXX ergibt, war das Vorbringen des Vaters schon zu seiner eigenen Gefährdung im Fall der Rückkehr in den Heimatstaat als nicht glaubhaft zu erachten:

"Sowohl im Verfahren vor dem Bundesasylamt als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichthof gab der BF an, wegen seiner Mitgliedschaft und Funktion in der Hezb-e Islami vor der Machtübernahme der Taliban im Falle der Rückkehr aktuell einer Verfolgung ausgesetzt zu sein. Gegen diese aktuell bestehende Verfolgungsgefahr spricht, dass der BF auf konkrete Fragen angegeben hat, nach seiner Ausreise im Jahr 1996/1997 nicht mehr für die Hezb-e Islami tätig gewesen zu sein, sich seine Tätigkeit damals darauf beschränkte, Geldspenden für die Partei in seinem Zuständigkeitssprengel zu sammeln und für die Hezb-e Islami zu werben. Es kann nicht als maßgeblich wahrscheinlich sehen werden, dass der BF wegen dieser Tätigkeit 15 Jahren später einer Verfolgung ausgesetzt wäre und der BF war in der mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof auch nicht in der Lage, anzugeben wer konkret gegen ihn vorgehen sollte. Der BF hat zudem auf konkrete Fragen angegeben, an keiner bewaffneten Auseinandersetzung beteiligt gewesen zu sein, womit er auch keinen Grund geschaffen hat, dass Jahre später ein besonderes Interesse einer bestimmten Person an ihm bestehen sollte. Auch der Hinweis des BF, dass XXXX als Angehöriger der Hezb-e Islami getötet wurde, vermag eine konkrete Gefährdung des BF nicht glaubhaft zu machen, zumal diese Person und der BF sich in einer nicht annähernd vergleichbar exponierten Position befanden. XXXX war unter anderem Ministerpräsident in Afghanistan."

Auch im gegenständlichen Verfahren sind keine dem widerstreitenden Anhaltspunkte hervorgekommen. Es wäre demnach nicht nachvollziehbar warum der Sohn (BF) einer Verfolgung ausgesetzt wäre, wenn nicht einmal mehr sein Vater gefährdet ist. In der Beschwerdeverhandlung gab der Vater des BF sogar selbst an, dass dem BF keine Gefahr durch eine konkrete Person droht (Protokoll der mV S. 6).

2.2.2. Zur behaupteten Verfolgung aufgrund einer Behinderung:

Der BF gehört der sozialen Gruppe der körperlich und geistig behinderten Personen an. Wie sich aus der oben festgestellten Situation im Herkunftsland ergibt, sind Menschen mit Behinderung in Afghanistan oft von sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung betroffen. Es kann auch zu verbalen und psychischen Misshandlungen kommen.

Der BF und sein Vater wiederholen immer wieder, dass der BF in Afghanistan niemanden habe, der ihn unterstützen können und der BF aber auf eine solche unbedingt angewiesen ist. Aus den Länderfeststellungen ergibt sich auch, dass die Betreuung von Menschen mit Behinderung Aufgabe der Familie ist und etwaige Dienstleistungen oder Pflegeheime gar nicht oder nur sehr selten vorhanden sind. Es ist daher unstrittig, dass der BF im Falle einer Rückkehr auf sich alleine gestellt wäre und wohl ohne soziales Netz in eine ausweglose Lage geraten würde.

Aus den Berichten ergeben sich jedoch keine allgemeinen Verfolgungshandlungen gegen Menschen mit Behinderung, die eine für das Asylverfahren maßgebliche Intensität aufweisen würden. Der BF gab auch an, dass es nie zu Übergriffen gegen seine Person gekommen sei.

2.2.3. Zur behaupteten drohenden Zwangsrekrutierung durch die Taliban:

Erst in der Beschwerdeverhandlung bracht der Vater des BF vor, dass dieser im Fall einer Rückkehr einer Rekrutierung durch die Taliban ausgesetzt sei. Der Vater des BF war während beiden Einvernahmen vor dem BFA anwesend und wurde auch befragt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Vater des BF nicht schon bei diesen Gelegenheiten etwas zur Gefahr durch die Taliban gesagt hat.

Von einer solchen Praxis wird jedoch in den Anfragebeantwortungen von ACCORD berichtet. Selbst wenn das Gericht aufgrund der Intelligenzminderung des BF davon ausgeht, dass dieser leicht zu überreden/beeinflussen sei, so ergeben sich doch keine konkreten Anhaltspunkte warum genau der BF einem höheren Risiko als andere vulnerable Personen ausgesetzt sein soll. Auch ist anzumerken, dass für den BF vom zuständigen Pflegschaftsgericht kein Erwachsenenvertreter bestellt wurde und daher davon ausgegangen werden kann, dass der BF die notwendige Intelligenz zur grundsätzlich eigenständigen Lebensführung hat.

Auch in der zweiten Beschwerde vom 17.02.2017 zitiert der Rechtsvertreter des BF nur ganz allgemein die Länderfeststellungen zur Sicherheitslage in Afghanistan in Bezug auf die Taliban. Eine spezifische möglicherweise erhöhte Gefährdung des BF wird nicht behauptet.

Der BF konnte somit keine konkrete und gezielte gegen seine Person gerichtete Verfolgung von maßgeblicher Intensität in Afghanistan glaubhaft machen, die ihre Ursache in einem der asylrelevanten Gründe findet.

3. Zur Situation des Beschwerdeführers in Österreich

Die Feststellung zur Aufenthaltsdauer des BF ergibt sich unstrittig aus dem Zeitpunkt seiner Antragstellung.

Dass die gesamte Kernfamilie des BF legal in Österreich aufhältig ist, ergibt sich aus den eingebrachten Erkenntnissen des Asylgerichtshof zu den jeweiligen Familienmitgliedern. Die Feststellung, dass der BF bei seinem Bruder lebt und von seiner Mutter betreut wird, ergibt sich aus den Angaben des BF im Verfahren (vgl. AS 213).

Die Feststellung, dass der BF einen Deutschkurs besucht ergibt sich aus seinen eigenen Angaben im Verfahren (AS 212).

Die Feststellung, dass der BF in Österreich einer legalen Erwerbstätigkeit nachgeht ergibt sich aus seinen und den ergänzenden Angaben seines Vaters in der mündlichen Verhandlung (vgl. Protokoll der mV S. 5).

II.3. Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Es handelt sich dabei um Berichte diverser anerkannter staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bzw. Organisationen und bieten diese ein in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich übereinstimmendes und ausgewogenes Bild zur Situation in Afghanistan. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der BF ist diesen nach Vorhalt in der Beschwerdeverhandlung nicht substantiiert entgegengetreten, obwohl eine zweiwöchige Frist für eine schriftliche Stellungnahme gewährt wurde. Anhaltspunkte, wonach sie die allgemeine Lage betreffend des Verfolgungsvorbringens des BF zwischenzeitlich geändert hätten und dies vom BVwG von Amts wegen wahrzunehmen wäre, liegen nicht vor. Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass sich das BVwG durch Einschau in die aktuellsten Länderberichte zu Afghanistan (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 18.05.2020), vergewissert hat und keine entscheidungsrelevanten Änderungen feststellen konnte.

III. Rechtliche Beurteilung:

III.1. Zu Spruchteil A)

1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Bei dem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Asylgrund der "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der sich in weiten Bereichen mit den Gründen "Rasse, Religion und Nationalität" überschneidet, jedoch weiter gefasst ist als diese. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine - nicht sachlich gerechtfertigte - Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten (vgl. VwGH 20.10.1999, 99/01/0197; 26.6.2007, 2007/01/0479). Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. VwGH 26.6.2007, 2007/01/0479, mit Hinweisen u. a. auf die UNHCR-Richtlinie zum Internationalen Schutz: "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" vom 7. Mai 2002; 29.6.2015, Ra 2015/01/0067) (VwGH am 11.12.2019, Ra 2019/20/0295).

Nach der Definition des Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie gilt eine Gruppe insbesondere als eine "bestimmte soziale Gruppe", wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. das Urteil des EuGH vom 7. November 2013 in den verbundenen Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12). […] (VwGH am 11.12.2019, Ra 2019/20/0295).

UNHCR ist der Ansicht, dass – abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles – für Personen mit Behinderungen, insbesondere für Personen mit geistiger Behinderung, sowie Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, ein Bedarf an internationalem Flu?chtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Konventionsgru?nden, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor einer solchen Verfolgung zu bieten, bestehen kann (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender, 30. August 2018, HCR/EG/AFG/18/02, S. 91 f).

Aufgrund seiner körperlichen und geistigen Beeinträchtigung gehört der BF daher der sozialen Gruppe der behinderten Personen an.

1.2. Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286; 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an (vgl. etwa VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0212, VwGH 24.06.2014, Ra 2014/19/0046, mwN, 30.09.2015, Ra 2015/19/0066, VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0220, sowie etwa VwGH 15.05.2003, 2001/01/0499, VwSlg. 16084 A/2003). Es ist demnach für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Antragsteller bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung ("Vorverfolgung") für sich genommen nicht hinreichend. Entscheidend ist, dass der Antragsteller im Entscheidungszeitpunkt (der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts) mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0212 unter Hinweis Hathaway/Foster, The Law of Refugee Status² [2014], etwa 123, 162 und 165, wonach das Kriterium der wohlbegründeten Furcht vorausschauender Natur sei; vgl. auch Goodwin-Gill/McAdam, The Refugee in International Law³ [2007], 54).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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